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Artikel „Mayer, Johann Tobias“ von Siegmund Günther in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 21 (1885), S. 116–118, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Mayer,_Johann_Tobias&oldid=- (Version vom 2. November 2024, 22:48 Uhr UTC)
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Mayer: Johann Tobias M., Mathematiker und Physiker, Sohn des Vorigen. Geboren am 5. Mai 1752 zu Göttingen, verlor M. seinen Vater bereits im zehnten Jahre, absolvirte in seiner Heimathstadt die Schulstudien und wendete sich dann unter Meister und Kästner denselben Wissenschaften zu, in welchen sein Familienname es bereits zu so hoher Berühmtheit gebracht hatte. Er studirte in Göttingen, erwarb daselbst den Doctorgrad und habilitirte sich 1773 als Privatdocent. Sieben Jahre war er daselbst thätig gewesen, als er einen Ruf an die Nürnbergische Universität Altdorf erhielt, wo er nun bis 1786 als Ordinarius der Mathematik und Physik wirkte. Von dort ging er in gleicher Eigenschaft an die benachbarte Hochschule in Erlangen über, wobei ihm zugleich der Titel eines markgräflich brandenburgischen Hofrathes beigelegt ward. Nach dreizehnjährigem Aufenthalte in Erlangen berief ihn Göttingen, wo er seine wissenschaftlichen Sporen verdient hatte, als Professor der Physik zurück; er ward dortselbst Mitglied der königlichen Gesellschaft und verblieb in seiner Stellung bis zu seinem am 30. November 1830 erfolgten Tode.

M. hat als Schriftsteller eine äußerst mannigfaltige Thätigkeit ausgeübt. Gerade mit der Astronomie, der Lieblingswissenschaft seines Vaters, hat er sich verhältnißmäßig wenig beschäftigt; ihr gehören von seinen Schriften lediglich an ein Lehrbuch der Astronomie und physikalischen Geographie (Göttingen 1805), sowie je ein Altdorfer und ein Erlanger Universitätsprogramm von 1781 und 87. Seine meisten Arbeiten betreffen physikalische Gegenstände. Er behandelte die Höhenmessung mit dem Barometer und den Einfluß, welchen dabei die Wärme ausübt, in einer besonderen Monographie (Nürnberg 1786). Mehrere seiner Abhandlungen, die entweder im Gren’schen Journale, oder in den Göttinger Commentarien erschienen, sind den optisch-atmosphärischen Erscheinungen, andere der Elektricität und dem Magnetismus, die meisten aber der Wärmelehre und der physikalischen Chemie gewidmet. M. hielt noch an der Hypothese eines besonderen imponderablen Wärmestoffes fest, während er auf chemischem Gebiete den Entdeckungen eines Priestley und Lavoisier bereits Rechnung zu tragen begonnen hatte. Besonders merkwürdig ist in dieser Hinsicht sein Aufsatz: „Etwas [117] über den Regen“ im 3. Hefte des 5. Bandes von Gren’s Journal der Physik, insofern darin mit Glück auf die Angriffe geantwortet wird, welche Lichtenberg und Deluc gegen Lavoisier’s Lehre von der Zusammensetzung des Wassers aus Wasser- und Sauerstoff gerichtet hatten. – Hervorragender denn als origineller Forscher war M. als Verfasser von Unterrichtswerken, deren er einige geradezu treffliche geliefert hat. Am bekanntesten ist wohl sein „Gründlicher und ausführlicher Unterricht zur praktischen Geometrie“ geworden, von dem die ersten drei Theile, 1778–83, in Göttingen herauskamen und 1814–18 bereits die vierte Auflage erlebten; der 4. Theil folgte 1794 (4. Aufl. 1828) als „Gründliche Anweisung zur Verzeichnung der Land-, See- und Himmelskarten und der Netze zu Konoglobien und Kugeln“, während der fünfte Theil den Titel „Gründliche und vollständige Anleitung zur praktischen Stereometrie“ führte (Göttingen 1808, 3. Aufl. 1821). Die größte Bedeutung kam hiervon wohl der vierten, kartographischen Abtheilung zu, welche in Deutschland gar lange den Büchermarkt beherrschte und eigentlich erst 1872 durch das Handbuch von Gretschel[WS 1] überflüssig gemacht wurde. Zwei Capitel dieses Buches handelten von der Berechnung sphärischer Distancen und Flächeninhalte, der dritte Abschnitt untersuchte die nicht perspectivischen, der ganze Ueberrest die perspectivischen Abbildungen und es dürfte unter den älteren Projectionsmethoden keine irgend brauchbare sein, die von M. nicht betrachtet und geprüft worden wäre. Der reinen Mathematik war M. vom Jahre 1773 an, wo er seine Dissertation „Tetragonometriae specimen“ schrieb, gänzlich fern geblieben und erst am Abend seines Lebens kehrte er wieder zu derselben zurück. Wenn wir bei seinem „Lehrbegriff der höheren Analysis“ ein wenig ausführlicher verweilen, so geschieht dies aus dem Grunde, weil dieses für seine Zeit ausgezeichnete Compendium, das 1818 erschien, durchaus nicht so bekannt ist, als es seinem Werthe nach bekannt zu sein verdient. Dem beginnenden neunzehnten Jahrhundert pflegt von vielen Historikern – am Schärfsten geschah es wohl in Gerhard’s „Geschichte der Mathematik in Deutschland“ – der Vorwurf gemacht zu werden, es habe im mathematischen Fache gar keine tüchtigen Universitätslehrer hervorgebracht, man sei damals selbst auf den Hochschulen nicht über die ersten Elemente hinausgekommen. Nur Göttingen, wo Gauß lebte und lehrte, nimmt man von dieser Regel aus, allein man übersieht, daß auch ein Gauß schwerlich in didaktischer Beziehung etwas hätte ausrichten können, wenn ihm nicht durch seinen Collegen M. Schüler zugeführt worden wären, die in höherer Mathematik bereits eine tüchtige Grundlage gelegt hatten. Der erste Band des fraglichen Lehrbuches enthält die Differential-, der zweite die Integralrechnung und beide Disciplinen werden hier in einer Weise vorgetragen, daß die ganze deutsche analytische Litteratur vor Cauchy’s[WS 2] Auftreten gewiß nichts besseres lieferte. Kurz und energisch motivirt der Autor, warum er den schleppenden, damals aber allein herrschenden Derivationscalcul im Sinne eines Lagrange und Arbogast verwerfe, hierauf definirt er die Begriffe des Unendlichgroßen und Unendlichkleinen ganz so, wie es heutzutage jedes vernünftige Lehrbuch thut und äußert sein Befremden, daß so viele tüchtige Leute diese einfachen und natürlichen Begriffe, ohne die man doch in Geometrie und Mechanik keinen Schritt zu thun vermöge, durch allerlei künstliche Umschreibungen zu vermeiden trachteten. Auch da, wo von den unendlichen Größen verschiedener Ordnungen, von den Werthen Null durch Null, sowie von den Functionen imaginären Argumentes die Rede ist, stellt sich M. wesentlich auf den modernen Standpunkt. Nicht minder correct und vollständig ist die Integralrechnung bearbeitet und namentlich dadurch ist dem Buche ein entschiedener Vorsprung gesichert, daß in ihm auch den totalen wie den partiellen Differentialgleichungen ihr volles Recht [118] zu theil wird, während bis dahin der Studirende, der sich über diese Dinge unterrichten wollte und doch nicht bis zu den eigentlichen Quellenschriften aufzusteigen in der Lage war, wohl oder übel zu französischen Werken greifen mußte. Mit Einem Worte: Mayer’s höhere Analysis sichert ihrem Verfasser für alle Zeiten einen Ehrenplatz unter den für die Verbreitung ihrer Wissenschaft thätig gewesenen deutschen Mathematikern.

Pütter, Versuch einer akademischen Gelehrtengeschichte von der Georg-Augustus-Universität zu Göttingen, fortgesetzt von Saalfeld und Oesterley, Göttingen 1820. – Engelhard, Die Universität Erlangen von 1743 bis 1843, Erlangen 1843.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Heinrich Friedrich Gretschel (* 21. Oktober 1830 in Prietitz bei Elstra; † 2. Februar 1892 in Freiberg), Mathematiker.
  2. Augustin-Louis Cauchy [* 21. August 1789 in Paris; † 23. Mai 1857 in Sceaux), französischer Mathematiker.