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Artikel „Lotti, Antonio“ von Moritz Fürstenau in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 19 (1884), S. 279–282, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Lotti,_Antonio&oldid=- (Version vom 7. Dezember 2024, 13:59 Uhr UTC)
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Lotti: Antonio L., berühmter Componist der venetianischen Schule, wurde gegen 1667 wahrscheinlich in Hannover geboren, wo sein Vater, Matteo L., Capellmeister am kurfürstl. Hofe war. Außer Zweifel ist es jedoch, daß seine Familie venetianischen Ursprungs ist, da er sich selbst auf dem Titel seines 1705 erschienenen Madrigalenwerkes Antonio Lotti Veneto nannte. Er kam jedenfalls sehr jung nach Venedig und wurde dort Schüler des berühmten Giovanni Legrenzi, Director des Conservatoriums, seit 1685 Capellmeister an St. Marco. Schon im J. 1683 ward in Venedig Lotti’s erste Oper „Giustino“ gegeben. Schnell verbreitete sich seit der Zeit sein Ruf als Componist und auch als Orgelspieler. Am 31. Mai 1692 wurde er zum Organisten der zweiten Orgel in der Capelle von St. Marco ernannt; seit 1687 gehörte er dem nämlichen Institute als Sänger an; am 17. August 1704 erhielt er die Stelle eines Organisten an der ersten Orgel. Venedig war zu jener Zeit ein Sammelplatz [280] vieler italienischer Componisten, Sänger und Virtuosen von Bedeutung. Die vier Conservatorien Venedigs waren damals weit und breit berühmt, nicht minder glänzten die zahlreichen Opernbühnen der Lagunenstadt. Kein Wunder, daß Reisende aller Nationen dorthin eilten, um sich zu bilden und zu amüsiren. Auch der kunstsinnige und kunstgebildete Kurprinz von Sachsen, Friedrich August II., hielt sich vom Frühjahr 1716 bis zum Herbst in Venedig auf und bestimmte, angeregt durch die musikalischen Eindrücke, welche er empfangen, seinen Vater, August den Starken, für Dresden eine „italienische Oper“ zu gewinnen. Der Kronprinz leitete in Venedig die Unterhandlungen und Engagements, worüber Ausführliches in meinem Buche „Zur Geschichte der Musik und des Theaters am Hofe zu Dresden“ (II. S. 97 ff.) zu finden ist. Am 5. September 1717 reisten sämmtliche Mitglieder der neugebildeten Oper von Venedig nach Dresden ab. An der Spitze derselben standen als Capellmeister Antonio L., als erste Sopranistin dessen Gattin Santa Stella, beide mit einem Gehalt von 2100 Doppien, à 5 Thaler (10 500 Thaler). Das Unternehmen erregte nicht nur in Dresden, sondern auch in Deutschland außerordentliches Aufsehen und erlangte bald großen Ruf. Händel kam 1719 selbst nach der sächsischen Residenz, um die Italiener zu hören und wo möglich einige derselben für die von ihm geleitete Oper in London zu gewinnen. L., der für Dresden mehrere Opern und Cantaten geschrieben hatte (s. weiter unten), gab mit seiner Gattin im October 1719 das dortige Engagement auf, um wieder nach Venedig zurückzukehren; das Opernunternehmen selbst ward 1720 aufgelöst. – Des Meisters Leben in der Heimath scheint wie früher ruhig und gleichmäßig verlaufen zu sein. Dasselbe war lediglich der Ausübung seiner Kunst gewidmet, doch componirte er nur noch für die Kirche, nicht mehr für die Oper. Am 2. April 1736 zum Capellmeister an St. Marco ernannt, starb er am 5. Januar 1740 und wurde in der Kirche St. Geminiano beigesetzt, wo ihm von seiner Gattin ein Denkmal gesetzt wurde, mit der Inschrift: „Antonio Lotti | in ducali Basilica | Musices Moderatori | Santa Stella | Conjugi carissimo | praedefuncto ac sibi | T. T. M. Anno 1759“. – L. scheint ein großes Vermögen hinterlassen zu haben, da er seinen Bruder Francesco, welcher einer der Procuratoren von St. Marco war, zum Universalerben ernannte und seiner Gattin noch außerdem 15 000 Ducaten vermachte. – L. gilt als einer der ersten und bedeutendsten Meister seiner Zeit. Gleich fruchtbar als Componist für Bühne, Kirche und Haus, erreichte er doch die höchsten Erfolge in den beiden letzten Gattungen. Fétis, der unbestritten als Kenner der musikalischen Production jener Zeit anzusehen ist, urtheilt über unsern Meister in seiner Biographie universelle folgendermaßen: „Wahrheit der Empfindung, Lebhaftigkeit des Ausdrucks sind die vorherrschenden Eigenschaften der Compositionen Lotti’s. Sein Stil ist einfach und klar und Niemand hat in neuerer Zeit besser verstanden als er, die menschliche Stimme auf natürliche Weise zu verwenden. In seinen Opern findet man weniger lebhaften dramatischen Ausdruck, aber in seinen Madrigalen und Kirchencompositionen ist er zum mindesten Scarlatti an die Seite zu stellen und seine Ueberlegenheit über alle Meister seiner Zeit ist unbestritten“. – Hasse, der ihn 1727 zu Venedig kennen lernte, rief bei Anhörung einer seiner Compositionen aus: „Welcher Ausdruck, welche Mannigfaltigkeit in seinen Tönen“. Zwischen seinen kirchlichen Sachen und seinen Opern ist eine Kluft bemerklich, wie sie heut zu Tage bei einem und demselben Componisten in beiden Arten nie vorkommen könnte. Allerdings hatte das musikalische Drama kaum die Kinderschuhe ausgetreten und zugleich mit Erwerbung neuer Hülfsmittel nur erst schüchtern die Fesseln beengender kirchlicher Formen abgestreift, ohne jedoch den ihm verloren gegangenen erhabenen Inhalt [281] jener Formen bereits genügend durch eine freiere schöne Schreibweise ersetzt zu haben. Demunerachtet steht L. auch als Operncomponist auf der Höhe seiner Zeit. Er beherrscht mit Sicherheit die bereits feststehenden Formen der Ouverture (obgleich diese meist das schwächste Stück seiner Opern ist), der Recitative, Arien und Duette, letztere freilich nur vereinzelt vorkommend. Selten überladet der Meister den Gesang mit Coloraturen, obgleich er hierin in der Hauptsache dem Geschmacke seiner Zeit folgt und sich zuweilen doch den Forderungen der Sänger gefügt haben mag. Die Instrumente dienen ihm nicht nur zur Begleitung, sondern er benutzt sie bereits, um den Gesang reizender, mannigfaltiger, charakteristischer und bedeutsamer zu machen. Nächst dem Streichquartett verwendete er alle damals gebräuchlichen Blasinstrumente: Flöten, Oboen, Fagotte, Waldhörner und Trompeten (letztere sehr selten); doch benutzte er auch die Violine und Theorbe zum obligaten Accompagnement. Besonders bemerkenswerth ist die Anwendung der Blasinstrumente in den Opern, die er für Dresden schrieb. Im „Alessandro severo“, den er 1717 für Venedig componirte, kommen nur Streichinstrumente vor; vielleicht daß ihn in der sächsischen Hauptstadt die ausgezeichneten Bläser der Capelle anregten. Immerhin kann L. auch als Operncomponist den Besten seiner Zeit angereiht worden, trotzdem er als solcher harmonisch dürftig erscheint. Beim Lesen seiner Opernpartituren glauben wir gern den Versicherungen eines damaligen Privatcopisten in Dresden, des weiland Organisten Schröter, welche also lauten: „Ich mußte seine Partituren ins Reine schreiben und die von ihm meistentheils ausgelassenen Mittelstimmen hinzufügen“. Doch auch Lotti’s Kirchencompositionen sind wie die der meisten seiner zeitgenössischen Landsleute nicht immer gleich werthvoll und einheitlich. Der schädigende Einfluß der schon damals überwuchernden Oper ist nicht zu verkennen. In einem und demselben Werke steht oft dicht neben dem herrlichsten Satz ein ziemlich zopfiges, inhaltloses Stück; so z. B. ist das Credo, in welchem das berühmte 12stimmige Crucifixus enthalten ist, sehr unbedeutend. Aber solche Perlen, wie jenes Crucifixus, enthält fast jede Composition Lotti’s. Der Meister erinnert in einzelnen Zügen lebhaft an seine großen Zeitgenossen Bach und Händel. – L. war auch hochgeschätzt als Lehrer für Gesang und Theorie. Unter seinen Schülern sind zu nennen: Domenico Alberti, Girolamo Bassani, Michelangelo Gasparini, Benedetto Marcello, Giovanni Pescetti, Baldassaro Galuppi, für den er besondere Vorliebe hatte, und Giacomo Gius. Saratelli, der Nachfolger des Meisters im Capellmeisteramte an St. Marco. Fétis führt viele Compositionen Lotti’s an, die sich in seinem Besitz und in dem des Abbé Santini in Rom befanden. Hier mögen die Werke des Meisters verzeichnet werden, welche sich im Besitze der königlichen Musikaliensammlung in Dresden befinden:

Geschriebenes: 1. „Kyrie e Gloria a tre Chori con strom.“; 2. „Credo“ a 4 voci con strom. (hierin ist das bekannte 12stimmige Crucifixus enthalten); 3. „Messa del quinto tuono“ à 4 voci; 4. „Messa“ à 4 voci; 5. „Messa“ à 3 voci; 6. „Messa“ à 3 voci col Basso; 7. „Missa sapientiae“ à 4 e. 5 voci con strom.; 8. „Requiem“ à 3 voci con strom.; 9. „Dixit Dominus“ à 5 voci con strom.; 10. „Laudate pueri“ à 3 voci con strom.; 11. „Laudate pueri“ à 4 voci con strom.; 12. „Beatus vir“ à 4 voci; 13. „Confitebor“ à 5 voci con strom.; 14. „Salve Regina“ à Sopr. con strom.; 15. „Salve Regina“ à Alto con strom.; 16. „Salve Regina“ à 4 voci; 17. „Ave Regina coelorum“ à 4 voci; 18. „Magnificat“ à 5 voci; 19. zwei „Benedictus“ und „Miserere“ à 4 voci (1753); 20. zwei „Miserere“ à 4 voci; 21. „Miserere“ à 8 voci; 22. „Foca superbo“ (Venedig 1716); 23. „Alessandro severo“ (Venedig 1717); 24. „Giove in Argo“ (Dresden 1717); 25. „Ascanio overo gl’odi delusi dal sangue“ (Dresden 1718); 26. „Teofane“ (1719); 27. „Griletta e Serpillo“, „Intermedio“ [282] (zwei verschiedene Compositionen); 28. sechs Cantaten für eine Singstimme mit Baß; 29. 62 Arien; 30. drei Duette; 31. zwei Chöre; 32. „Madrigali per il Bucintoro“ à 4 voci.

Gedrucktes: „Duetti, Terzetti e Madrigali“ (Venedig 1705); dieses Werk widmete L. dem Kaiser Joseph I. und erhielt dafür eine goldene Gnadenkette. Es ist dasselbe, aus dem Giuseppe Bononcini das köstliche Madrigal zu fünf Stimmen „In una siepe umbrosa“ in London 1728 für seine Composition ausgab. Chrysander berichtet im zweiten Theile seines „Händel“ (S. 295) ausführlich über diesen Vorgang, bei dem sich L. gleich vorzüglich als Mensch wie als Künstler benahm. Kurz nach dem Bekanntwerden der Duetti, Terzetti etc. erschien anonym unter dem Titel: „Lettera famigliare d’un academico Filarmonico ed Arcade discorsiva sopra un libro di Duetti, Terzetti e Madrigali a più voci“ (Venedig 1705), eine ziemlich ungerechte Kritik über dies herrliche Werk von Benedetto Marcello, der sich dadurch nicht eben als dankbarer Schüler des Meisters zeigte. Von den Opern Lotti’s sind noch folgende nachzuweisen: Zur Aufführung kamen in Venedig: 1. „Giustino“, 1688; 2. „Il Trionfo d’innocenza“, 1693; 3. „Tirsi“ (I. Act), 1696; 4. „Achille placato“, 1707; 5. „Teuzzone“, 1707; 6. „Ama piu chi men si crede“, 1709; 7. „Il Commando non inteso ed ubbidito“, 1709, 8. „Sidonio“, 1709; 9. „Isaccio Tiranno“, 1710; 10. „La forza del sangue“, 1711; 11. „Il Tradimento traditor di se stesso“; 12. „L’Infedeltà punita“, 1712; 13. „Porsenna“, 1712; 14. „Irene Augusta“, 1713; 15. „Polidoro“, 1714; 16. „Il Vincitor generoso“, 1718. In Wien: „Costantino“ (Ouverture von Fux), 1716. Außerdem wurden dort noch Lotti’s Oratorien: „Il voto crudel“ im J. 1712 und „L’Umilta coronata“, 1714 gegeben. Für das Hospital degl’ Incurabili zu Venedig schrieb er das Oratorium „Gioas Re di Giuda“, Dichtung von Zaccheria Vallaresso (Oesterr. Blätter für Litteratur und Kunst, 1845, Nr. 75). Ueber die neueren Ausgaben einzelner Werke Lotti’s berichtet R. Eitner in seinem trefflichen „Verzeichniß neuer Ausgaben alter Musikwerke“ (Beilage zum zweiten Jahrgang der Monatshefte für Musikgesch., Berlin 1870).

M. Caffi, Storia della Musica sacra nella gia capella ducale di S. Marco in Venezia, I. p. 335. E. Naumann, Italienische Tondichter, Berlin 1876, S. 295.