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Artikel „Lotheißen, Ferdinand“ von Ludwig Julius Fränkel in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 52 (1906), S. 87–93, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Lotheissen,_Ferdinand&oldid=- (Version vom 25. Dezember 2024, 06:45 Uhr UTC)
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Lotheißen: Ferdinand L., Litteratur-, auch Culturhistoriker, am 20. Mai 1833 zu Darmstadt als Sohn des Rechtsanwalts, nachherigen Präsidenten des Hofgerichts sowie der 2. Kammer der Stände Joh. Frdr. Lotheißen (1796–1859), geboren, erbte von der Mutter, Tochter des großherzogl. Baudirectors Kröncke, künstlerischen Sinn, den er besonders durch rege Besuche und mit Freunden geübte Erörterungen der vortrefflichen heimathlichen Hofbühne pflegte, später als Berliner Student in Theater, Concert, Kunstsammlung, Atelier; daselbst weihte er sich bei Malern und Bildhauern in ihre Technik ein, ohne deren Kenntniß ihn von Anfang an ästhetisches Urtheil einseitig dünkte. Neben dem Gymnasium trieb Ferdinand früh tüchtig Englisch und Französisch, fühlte sich auf der Hochschule und länger bei mächtiger Lernbegier zu den Geistes- und Naturwissenschaften fast gleichmäßig hingezogen, entschied sich aber, infolge materieller Verhältnisse, fürs Lehrfach, und zwar class. Philologie, die er seit 1851 zu Göttingen, 1853–54 zu Berlin, wo er reichste Anregungen sammelte und für die „Wiener Monatsschrift f. Theat. u. Mus.“ litterarisch debutirte, dann, wegen der in Hessen erstrebten Anstellung, in dem ihm wenig bietenden Gießen betrieb. Hier promovirte er am 14. März 1856 mit einer lateinischen Arbeit „Ueber die Gestalt des Parasiten in der alten Komödie“, ohne Disputation. Beim Göttinger Corps Saxonia activ gewesen, ging er als Student dann in bürgerlichen Bahnen; denn angeborene Zartheit des Körpers, bis zum vorzeitigen Tode nicht überwunden, ließ ihn schon jung sich mit Krankheiten [88] viel herumschlagen, schränkte freilich auch den übergroßen Lerneifer ein. Nun war er froh, die Universitäten hinter sich zu haben, die, wie er sich am 10. December 1857 notirt, „heute das Leben im stärkeren Wogenschlag mehr und mehr bei Seite schiebt“; „ich gestehe, daß mir die Vorlesungen der Universität sehr wenig genutzt haben; kaum, daß sie mir Anregung gaben“, so schreibt er am 26. November 1857. Und in der That verdankt L., nachdem er breite Grundlagen einer allgemeinen Bildung gelegt, den Boden zur glänzenden litterarhistorischen Wirksamkeit durch Feder und Katheder sowie die sprachlichen Hülfsmittel dazu ausschließlich unausgesetzter Selbsterziehung, die übrigens in dieser Hinsicht erst spät begann.

Nach schwerem Typhus und Emser Badecur im Sommer 1856 erledigte L. am Darmstädter Gymnasium das Probejahr, blieb dann aber, um sich noch zu schonen, ein Jahr als Erzieher zweier Knaben beim reichen, für Kunst und Naturwissenschaft verständnißvollen Großhändler und Weingutsbesitzer v. Mumm zu Frankfurt a. M. Das vielseitige sociale und Culturleben der vergangenheitsstolzen Reichsstadt, deren Geschichte er durchackerte und in einem Aufsatze festzuhalten versuchte, fesselte ihn, dazu dichterische Pläne, so ein (nicht erhaltenes) Lustspiel. Er las Ranke, Gervinus, Häusser, studirte Shakespeare’s Vorläufer, eifrig auch Spanisch, wehrte sich aber gegen seines Freundes, des Autodidakten Dr. J. W. Appell (1829–96) Begeisterung für die christliche Romantik Brentano’s, Calderon’s und Dante’s ebenso, wie ihn sein damals mehr germanisch ausgeprägtes Nationalgefühl bei Lektüre des Dumas’schen „Comte de Monte Christo“ von tieferem Eindringen ins Französische abhielt und für die nächsten Jahre vornehmlich den Engländern stammverwandt empfinden ließ.

Der freie Schriftsteller, der ihm noch viele Jahre später als Ideal vorschwebte, wollte damals den Lehrer in ihm ersticken, und trotz englischer Geschichts- und Litteraturstudien neigte er bei jenem Schwanken dem gelehrten Specialistenthum gewiß nicht zu. Die innerpolitische Gährung beschäftigte ihn tief. Seit 1858 erwarb sich L. durch Feuilletons, litterarische, historische und kritische Aufsätze eine sichere und angesehene Feder: im „Frankfurter Journal“, den „Blättern f. litterarische Unterhaltung“, in Prutz’ „Deutschem Museum“, den „Grenzboten“, später ständig in der „Frankfurter Zeitung“. Im Mai 1858 erhielt L. eine Lehrstelle für Sprachen und Geschichte am großh. Gymnasium im wälderreichen Büdingen am Vogelsberg. Der ausgezeichnete Director, Georg Thudichum (s. d.), gleich glücklich thätig als Sophokles-Verdeutscher, Lyriker, Kanzelredner, Mittelpunkt der Gesellschaft, liberaler und nationaler Abgeordneter, ward durch die jüngste, schönste, vielumworbene Tochter Luise Lotheißen’s verehrter Schwiegervater. Die Hochzeitsreise nach London, Frühling 1860, diente zugleich Studien auf dem British Museum, so wie schon der Jahresbericht des Gymnasiums für 1859/60 von L. selbständige, gründliche und feinsinnige „Studien über John Milton’s Leben und poetische Werke“ gebracht hatte. Unterricht in Griechisch, Latein, Geschichte, dann Englisch, dazu privater (Herbst 1862 zusammen 39) Stunden, drängten, zumal er Schulbibliothekar war und Vorlesungen über englische Geschichte unternahm, eigene Production zurück. Daher verzichtete L., als wegen zwei Tage Urlaubsüberschreitung ministerielle Rüge erfolgte, den Schwiegervater der, L. nicht sympathische älteste College Haupt ersetzte, endlich ein maßregelnder Erlaß am 8. August 1863 seine Anstellung nach dem üblichen Jahrfünft für ein weiteres nur provisorisch machte – dies motivirt durch seine energische Propaganda bei der Landtagswahl im Sinne des Nationalvereins – auf den Posten, was ihn im ganzen Lande mit einer Märtyrer-Gloriole umgab. Schon im October war L. auf Einladung als Theilhaber des Erziehungsinstituts La Châtelaine (60 Zöglinge), [89] das sein Schwager Karl Thudichum leitete, in Genf einquartiert. Ungeachtet der einschneidenden Unterschiede in Amt, Sprache, Volksthum, Landschaft fand sich L., wie gewohnt, schnell hinein, trat freilich den partikularistisch zurückhaltenden echten Genfern sogar als membre honoraire der Société nationale de Genève nicht näher. Jedoch traten in seinem Streben und Schaffen französische Sprache, Cultur, Litteratur vom Bedürfniß des Alltags her allmählich maßgeblich in den Vordergrund. Aus den reichen Eindrücken seiner Wanderungen die Rhone abwärts erwuchsen theils lebendige Reisebriefe an die „Frankfurter Zeitung“ im April 1866, theils Artikel über die Provence zu einem Buche in farbigem Spiegel von Natur und Geschichte (leider im Manuscript verblieben), und noch „Königin Margarethe von Navarra. Cultur- und Litteraturbild aus der Zeit der französischen Reformation“ (1885) zehrt 20 Jahre später davon. 1865 freiwillig zum Lehrer der Anstalt hinabgestiegen, lieferte L. nun fleißig Feuilletons für das ebengenannte u. a. namhafte Tagesblätter. Folgende Ueberschriften deuten die Mannichfaltigkeit an: Preßfreuden früherer Zeit, Die Presse unter dem Druck Napoleons I., Ein Muster-Unterthan, Das Journal de Barbier 1718–63 (neue Ausg. 1863), Samuel Smiles’ „Selbsthülfe“, Der Suezcanal, Alfred de Vigny’s Tagebücher, H. Taine’s „Graindorge“, P. Heyse’s „Glücklicher Bettler“, Gachard’s „König Philipp und Don Carlos, Das Ghetto in Rom, Die Insel Candia, Der Friedenscongreß in Genf, E. Kératry’s La contre-guérilla française au Mexique, Bilder aus dem italienischen Theater (6 Aufsätze), Ed. Laboulaye u. A. Das meiste Neue für Deutschland theilten Lotheißen’s Porträts und Charakteristiken der ihn anziehenden Gestalten aus dem jüngsten französischen Geistesleben mit, für das ihm die für das 19. Jahrhundert vollständige Bibliothek der Genfer Société de lecture gediegenste Unterlage gewährte. Hierbei wollte er auch die scharfen Gegensätze zwischen Deutschland und Frankreich mildern; der bedeutendste dahingehörige Essay, über den republikanischen Oppositionsführer Jules Favre, brachte ihn 1867 in interessanten höflichen Briefaustausch. Im ganzen hat freilich diese halbpolitische Publicistik, noch actueller während der 1866er Wirren, L. enttäuscht und angegriffen. Im Winter 1867/68 erholte sich L. zu Florenz inmitten einer ihm unbekannten Umgebung von Natur und Kunst bestens, wo er sich mit Ludmilla Assing, Varnhagen v. Ense’s Nichte und Herausgeberin, anfreundete, und im Hause des Staatsmannes Peruzzi, dessen geistvolle und energische Gattin die ähnliche Lotheißen’s an sich zog. Und aus glücklichster Stimmung heraus machte er sich dort sogar an einen Roman für die „Frankfurter Zeitung“. Deren Besitzer Leop. Sonnemann plante damals wol Lotheißen’s gewiegten Stil ganz für ihr Feuilleton zu gewinnen, und noch ein halbes Jahr vor dem Tode hat er ihn, den mittlerweile der eigentlichen Feuilletonistik untreuen, vergebens zur Mitarbeit eingeladen. Wieder in Genf, beschloß L. nun das französische Schriftthum des 19. Jahrhunderts im Zusammenhange darzustellen: seines Erachtens bei der nur oberflächlich befriedigten Theilnahme Deutschlands ein Bedürfniß. Da die Begründung auch in die Revolutionsära hineingreifen mußte, disponirte L. auf drei Bände, deren Anlage ein ausführlicher Brief an den Vetter, Romandichter Otto Müller (1816–94), vom 8. Mai 1870 klarstellt. Diesem lag das Manuscript „Litteratur und Gesellschaft in Frankreich zur Zeit der Revolution 1788–1794. Zur Culturgeschichte des 18. Jahrhundertes“ bei, druckfertig, „als der Krieg ausbrach und jede litterarische Veröffentlichung dieser Art auf eine spätere friedliche Zeit verschoben werden mußte“.

Bis letzterer Satz im Vorwort des 1871/72 – bei Lotheißen’s nachherigem Hauptverleger Karl Gerold’s Sohn – in Wien erscheinenden Buches [90] gedruckt dastand, hatte sein Schicksal eine entscheidende Wendung genommen. August 1869 war er durch Rud. Ihering an den österreichischen Justizminister Glaser und von diesem an seine Collegen Hasner und Stremayr als tüchtige Lehrkraft empfohlen worden. Der alte Gönner Fürst Georg Czartoryski (geb. 1828), der ihn schon vor über einem Jahrzehnt an seine ernst strebenden kritischen „Recensionen und Mittheilungen über Theater und Musik“ (1855–65) als Redacteur verpflanzen gewollt, griff ein, und am 20. Juni 1870 vereinbarte der bekannte Historiker Adolf Beer als Ministerialrath im Unterrichtsministerium mit L. dessen Uebersiedlung nach Wien. L. sollte bei der im Vollzuge befindlichen Neugestaltung des Realschulwesens eine vorbildliche Rolle spielen; seit seinem Diensteid vom 11. Juni blieb er ein Bürger Oesterreichs und Wiens, mit denen ihn schon längst persönliche und litterarische Fäden verknüpft hatten. Er ward Professor für Französisch an der k. k. Oberrealschule auf der Landstraße in Wien, die als Muster-Realschule des Reiches galt, am 20. Februar 1871 Prüfungscommissär für das Reallehramt seines Fachs, habilitirte sich bedingungsgemäß am 5. November mit der genannten Schrift bei der philosophischen Facultät für neuere französische Litteratur und eröffnete noch in demselben Winter an der Universität ein Proseminar für französische Sprache, worauf er am 22. Mai 1872 mit Adolf Mussafia, dem Ordinarius der Romanistik, zusammen zum Vorstand des neuen Französischen Seminars ebenda bestellt wurde. „Alle die Männer, die heute in Oesterreich die Jugend in die Kenntniß der französischen Sprache einführen, sind seine Schüler gewesen,“ so schreibt E. Guglia Ende 1887; und M. Necker’s Nachruf berichtet: „Seine Vorlesungen hatten in ihrer sorgfältig geschliffenen Form einen wesentlich litterarischen Charakter … So wie er sprach, konnte man seine wohlgefügten Sätze ganz gut drucken lassen. Er unterbrach sich nicht mit scholastischen Verweisen und Citaten, so wie er es überhaupt haßte, das Material der Forschung an Stelle der Resultate zu geben. Das unverarbeitete Material gehe den Leser [Hörer!] nichts an. Die gelehrte Forschung verlegte L. in die Seminar-Uebungsstunde.“ Diese hingebende Wirksamkeit erkannte man oben halbwegs an, indem man ihm die Schulstundenzahl wegen seiner Collegien allmählich herabsetzte, jedoch erst 5. September 1881 eine außerordentliche Professur seines Fachs verlieh. Eine Ursache für das langsame Vorrücken birgt vielleicht seine unverhohlene Abneigung gegen die strenge Philologie, wie sie uns drastisch eine Briefstelle vom 13. Januar 1867 ausdrückt: „Ich war nie ein wirklicher Philologe, konnte mich nie für Cicero begeistern und habe manchmal ganz absonderliche Gedanken über das heutige Gymnasialstudium. Ich bewundere, wie nur einer, die Größen der classischen Litteratur und möchte um keinen Preis Homer, Sophokles oder Horaz aus der Schule verbannt haben – aber ich meine manchmal, wenn man [auf den Schulen] das Studium der alten Sprachen beschränkte und dafür die modernen wissenschaftlich betriebe, wenn man die deutsche und französische Grammatik, die deutschen, englischen und französischen Schriftsteller vornähme und erklärte – es käme mehr dabei heraus. Ein Massillon, ein Chatham [Pitt], ein Mirabeau, Berryer [1790 bis 1868] wiegen einen Isokrates, einen Cicero auf, haben größeren Einfluß auf die Jugend, denn sie stehen uns näher. Die Griechen hatten nur ihren Homer und ihre griechischen Dichter, an denen sie sich bildeten“. In diesem Sinne, übrigens ohne jegliche Einseitigkeit oder Verbissenheit, hat L. sein Fach in Wort und Schrift rührig von Wien aus vertreten und namentlich in seinen Büchern seine wissenschaftlichen Tendenzen und Ansichten immer fester ausgebaut, unbeirrt durch Zurücksetzung und mancherlei Herabsetzung seiner Arbeiten, deren gefälligen, wohlausgedachten, nicht selten fein ciselirten Wortlaut man [91] als übertriebene Stilpolitur zu tadeln für angebracht befunden hat! Außer solcherlei Aerger lastete auf ihm arger Familienkummer: seine theure Frau, laut Bettelheim’s Angabe eine der beliebtesten, gewinnendsten Erscheinungen des betreffenden Wiener Kreises, von außerordentlicher Belesenheit, deren Geschmack und ernster Sinn sie zur zuverlässigsten Rathgeberin ihres Gatten machte, kränkelte viele Jahre, bis sie das tückische Leiden dauernd in eine Heilanstalt entrückte, allerdings L. lange (noch 1906) überleben ließ. Auch starb 1875 sein Erstgeborener im schönsten Knabenalter. Diese und andere Sorgen knickten den selbstlosen und bescheidenen Gelehrten nicht, dessen stets entgegenkommende Freundlichkeit Hausgäste, auch auf seinem einfachen Gütchen bei der Ruine Starhemberg im Piestingthale, und Forscher jederzeit schätzen lernten. Im Archiv des Théâtre français und der Nationalbibliothek zu Paris, wo er 1878/79 Forschungen anstellte, bei Victor Cherbuliez, in Genf, Berlin, in erster Linie in Wien selbst, erwarb sich L. durch sein echt humanes Denken und Handeln aller Herzen. Groß war die Trauer, als L. nach einjährigem Leiden und dreimonatigem Krankenlager (Bright’sche Nierenentzündung) am 19. December 1887 starb. Palmzweige legten Freunde auf seine Bahre; Immortellenkränze treue Schüler aufs Grab im Wiener protestantischen Friedhof Matzleinsdorf (Reliefbild seit 12. Jan. 1902 i. d. Wiener Univ.-Aula).

Lotheißen’s biegsame, allezeit arbeitsfreudige Art, in unmittelbarem Triebe zu litterarischem Schaffen ausbrechend, hätte gewiß sich fruchtbar geoffenbart, wenn ihm nicht bestimmt umrissene Vorwürfe vorgeschwebt haben würden. Trotz regen Verkehrs, theilweise infolge der Anknüpfungen in Wien, mit Fürst Czartoryski, der ihn für seinen angekauften, aber kurz nur gehaltenen „Wanderer“ einspannte, dem alten Berliner Studienfreund Alex. Conze, Ihering, Hnr. Laube, dem ihm verschwägerten Dichter Moritz Hartmann u. A., kam er zu fast ununterbrochener Mitarbeit an der Journalistik. Hartmann z. B. eröffnete ihm das Feuilleton der „Neuen Freien Presse“, und dies Wiener Weltblatt hat fürder eine ganze Anzahl kritischer Aufsätze Lotheißen’s über französische und deutsche Litteratur veröffentlicht. Für die von Frdr. Uhl kundig geleitete „Wiener Abendpost“ besorgte L. außer manchen redactionellen Geschäften ständig kritische Referate über neue französische Litteratur und lieferte (bis dato leider nicht gesammelte) größere werthvolle und doch knapp porträtirende Charakterbilder deutscher Dichter gelegentlich ihrer Gesammtausgaben, so (1873–74) Bauernfeld’s, Alfred Meißner’s, Mor. Hartmann’s, Otto Müller’s. Er verfuhr als Kritiker stets streng sachlich, unzweideutig klar im Urtheil, mild dabei im Ausdruck. Diese Seiten und die von Pedanten gescholtene anmuthige Form veranlaßte von allen möglichen Zeitschriften Aufforderungen, denen er weder entsprechen konnte noch wollte. Im Sommer 1875 schwenkte L. dazu ab, seine Ergebnisse in breiterem Rahmen zu gestalten. Wie schon 1871 das Vorwort für seine Geistesentwicklung der französischen Revolutionsperiode (welches Buch übrigens auch Shakespeare und die deutsche Poesie in Frankreich eigens verfolgt) „das Zusammengehen der Litteratur- und Culturgeschichte fast unerläßlich“ nennt, so stellt er 1883 in seinem Hauptwerke (III, 2. 95) den Programmsatz auf: „Eine wahrhafte Geschichte der Litteratur halten wir immer nur in Verbindung mit der Culturgeschichte für möglich.“ Unter diesem Gesichtspunkte sind Lotheißen’s einschlägige Essays gearbeitet, aber auch seine umfänglichen Darlegungen der Bücher vorgetragen, denen er den verdienten Ruhm eines der hervorragendsten, dazu in Stoff und Auffassung höchst unabhängigen deutschen Litterarhistoriker verdankt. Dahin rechnet vor allem seine „Geschichte der französischen Litteratur im XVII. Jahrhundert“, 1878–84 in vier starken Bänden hervorgetreten, [92] in 2. Auflage 1897 nach des Handexemplars Besserungen und Ergänzungen in 2 Bände zusammengefaßt: dies ungemein lebendige Gemälde der Epoche des roi soleil in ihrem Classicismus beweist tiefgründige Studien und darf getrost mit an der Spitze der Schilderungen des siècle de Louis XIV. stehen. Nach Entstehung und Inhalt fällt zwischen die Hälften dieses ausgezeichneten Handbuchs die „im Rahmen der Zeitgeschichte“ ausgeführte Monographie „Molière. Sein Leben und seine Werke“ (1880), überaus flüssig trotz aller Eindringlichkeit und Einzelheiten, die hinten Anmerkungen und Register ausweisen; mit Recht reiht sie A. E. Schönbach in seiner weitverbreiteten Anleitung „Ueber Wesen und Bildung“ unter die mustergültigen Biographien. „Zur Sittengeschichte Frankreichs. Bilder und Historien“ (1885) ist ein Sammelband von zehn vorher seit 1873 in Journalen gedruckten, hier bisweilen beträchtlich erweiterten Beiträgen zum französischen Geistes- und Gesellschaftsleben des 17. und 18. Jahrhunderts. Nachdem 1885 sein erwähntes packendes Buch über Margarethe von Navarra in der Musterserie des Berliner „Allgemein. Vereins“ für deutsche Litteratur erschienen, fing L. an, aus seinen Collegienheften eine „Culturgeschichte Frankreichs im 17. und 18. Jahrhundert“ für eine so betitelte Sonderschrift herauszuziehen. Deren allein vollendete Eingangscapitel vereinigt mit fünf culturhistorischen Aufsätzen obiger Art und einem über „Voltaire im Dienste der Humanität“, dem Bruchstück der von Genf her ihm vor Augen stehenden Biographie des ihm so sympathischen Aufklärungsapostels, der stattliche Band „Zur Culturgeschichte Frankreichs im XVII. und XVIII. Jahrhundert. Aus dem Nachlasse von F. L.“ (1889). Eingeleitet hat L. die von ihm nur corrigirten Verdeutschungen von Lesage’s Diable boiteux, H. de Balzac’s Colonel Chabert u. a., ausgewählter Briefe der Marquise de Sévigné, der Memoiren des Herzogs von Saint-Simon – auch dieser deutsche Text der St.-Simon’schen Enthüllungen, die L. wiederholt ausgiebig interessirten, stammt nicht von L. – in der „Collection Spemann“ als Nr. 8, 206, 215, 217, 220 enthalten (für die er Fénélon- und Staël-Auslesen angekündigt hatte). Endlich die von ihm eingeleitete, von M. Leloir illustrirte deutsche Prachtausgabe der reizenden Idylle „Paul et Virginie“ Bernardin de Saint-Pierre’s (1887), dessen einst stark überschraubte litterarische Stellung L. schon im Erstlingsbuche von 1872 skizzirt hatte. Ueberall tritt L. als der Verfechter eines litterarhistorischen Betriebs auf, wo das Schriftthum der Völker in allen seinen bezeichnenden Belegen als Niederschlag der geschichtlichen und socialen Verhältnisse betrachtet wird, weder ausschließlich nach der Geschichte der Bücher noch der Ideen noch, wie Taine und seine Gesinnungsgenossen, dem sogenannten naturwissenschaftlichen Dogma des dépendances et des conditions fragend.

In verständnißinnigem Ueberblick findet man Lotheißen’s Standpunkt und dessen einzelne Aeußerungen gewürdigt in Anton Bettelheim’s biographischer Einleitung (sein kurzer schöner Nachruf „Beilage z. Allgem. Zeitung“ vom 22. Decbr. 1887 Nr. 354 S. 522 ff., darin verwerthet) vor dem Nachlaßbande von 1889, S. III–XV, wo auch auf Eugen Guglia’s Nekrolog im Wiener „Fremdenblatt“ v. 31. Dcbr. und den Moritz Necker’s im „Wiener Tagblatt“ v. 21. Decbr. zurückgegriffen wird. Necker hat dann der von ihm überwachten Drucklegung der 2. Auflage von Lotheißen’s Hauptwerk eine Biographie nach Briefen und Tagebüchern vorangeschickt (S. V–XLI), über die sein Vorwort folgende von uns hier zu adoptirende captatio benevolentiae ausspricht: „F. L. hat als Schriftsteller und Mensch ein so gutes Andenken bei Schülern und Freunden hinterlassen, daß man wohl annehmen durfte, eine Geschichte seines Lebens werde ihnen allen willkommen sein … nicht, um seine Bedeutung [93] als Gelehrter ins volle Licht zu stellen, das ist schon von Berufeneren besorgt worden, sondern um von dem Menschen L. zu erzählen, dessen Seelenadel es auch bewirkte, daß seine Litteraturgeschichte nicht bloß eine lehrreiche, sondern auch eine fesselnde und bildende Lectüre wurde, die sich den besten Werken deutscher Geschichtsschreiber würdig anreiht“.

Erster Nekrolog Lotheißen’s i. d. N. Fr. Presse Nr. 8376 v. 20. Dcbr. 1887, S. 2. Encyklopädisch zuerst behandelt bei Bornmüller, Biogr. Schriftstellerlexik. d. Ggnwt. (1882) S. 444b (danach Meyer’s Convers.-Lex.6 (XII, 728), darauf bei Ad. Hinrichsen, Das litt. Dtschld., 1. Aufl. (1887) S. 372. Letzte eigene bibliographische Aufnahme bei Kürschner, Dtsch. Ltrtrkldr. X (1888) II, 248; für L.’s Bescheidenheit charakteristisch ist daselbst das Fehlen der oben genannten Einleitungen v. 1883–87 sowie des Milton-Programms v. 1860 (wo über L. S. 4,10,11 des Jahresberichts zu vergleichen), das gleich den Einleitungen zu den Verdeutschungen auch Bettelheim und Necker ignoriren. – Bildniß des sichtlich schon leidenden Mannes vor dem Nachlaßbande von 1889. Besprechungen v. J. 1877 v. K. Hillebrand (N. Fr. Prss. 21. Aug.) und der Westminster Review (New. Ser. LII, 265) zieht Necker S. XXXIX an. Friedwagner’s Gedächtnißrede 12. I. 1902 Blg. z. Allg. Ztg. Nr. 67: begeistertes, doch (n. d. Sohn) unrichtiges Bild L.s.