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Artikel „Liebrecht, Felix“ von Edward Schröder in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 51 (1906), S. 708–709, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Liebrecht,_Felix&oldid=- (Version vom 22. November 2024, 02:09 Uhr UTC)
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Liebrecht: Felix L., Sagenforscher, Mytholog und Folklorist, wurde zu Namslau in Schlesien am 13. März 1812 als Kind wohlhabender Eltern geboren, bereitete sich als junger Kaufmann durch Privatstudium für die Universität vor und studirte in Breslau, wo er sich besonders an Franz Passow anschloß, sodann in München und Berlin Philologie. Ohne eine Staatsprüfung bestanden oder einen Titel erworben zu haben, ging er sehr früh eine Ehe ein und mußte sich lange Jahre mit Privatstunden und anderer schlecht bezahlten Lohnarbeit sein Brot verdienen, während er zugleich unausgesetzt seine Sprachkenntnisse und den Kreis seiner Orient und Occident umspannenden Lectüre erweiterte. Die Uebersetzung von des Giambettista Basile „Pentamerone“ (2 Bde., Berlin 1846), welche Jacob Grimm mit einer etwas säuerlichen Vorrede versah und Ferdinand Wolf in den „Wiener Jahrbüchern“ mit rückhaltlosem Lobe besprach, lenkte zuerst die Aufmerksamkeit der wissenschaftlichen Kreise auf den im Frondienst schmachtenden Privatgelehrten. Alexander v. Humboldt wurde Liebrecht’s Gönner und verschaffte ihm 1849 ein Lehramt am Collège communal zu Lüttich, aus dem er im September 1851 als Professor der deutschen Sprache an das Athénée royal übertrat; in dieser Stellung ist L. bis zum Herbst 1867 verblieben, wo er sich pensioniren ließ. Auch dann kehrte er nicht nach Deutschland zurück, sondern behielt seinen Wohnsitz in Lüttich; nachdem ihn 1887 ein Schlaganfall getroffen hatte, nahm eine in St. Hubert in Belgisch Luxemburg verheirathete Tochter den greisen Vater zu sich, und in ihrem Hause ist er am 3. August 1890 gestorben.

Liebrecht’s Name ist aufs engste verbunden mit der vergleichenden Sagen- und Märchenforschung, in der er zeitweise die Arbeit Valentin Schmidt’s fortzusetzen scheint, allmählich aber mit seiner Vielbelesenheit in die Interessen der vergleichenden Mythologie und allgemeinen Volkskunde ausmündet. Während ihn anfangs die romantische Litteratur des Mittelalters unter dem Einfluß des Orients stark anzieht und er einzelnen Stoffen aus diesem weiten Gebiete fördernde Specialuntersuchungen widmet, wie vor allem den „Quellen von Barlaam und Josaphat“ in der vortrefflichen Abhandlung des „Jahrbuches f. roman. u. engl. Litteratur“ Bd. 2 (1860) – wohl seiner besten Arbeit, findet er mehr und mehr Behagen und Genüge im Aufsammeln von Parallelen, oft unter wunderlichen Gesichtspunkten und Stichworten, und endigt schließlich mit dem bequemen Ausschütten seiner Zettelkästen. Neue Wege hat er der Volkskunde nicht gewiesen, vielmehr den Ausgangspunkt von seiner Citatengelehrsamkeit aus oft schief gewählt und das Problem auch da selten richtig formulirt, wo er zu ihm vorzudringen glaubte. Das muß ausgesprochen werden, gerade weil sein Name zu den bekanntesten auf dem Gebiete der Folklore-Forschung gehört und weil man noch auf lange hinaus von der Belesenheit dieses Veteranen der Volkskunde profitiren wird.

[709] Durch mehr als ein Menschenalter ist L. einer der eifrigsten Mitarbeiter an unsern gelehrten Zeitschriften gewesen; die Bibliographie seiner Beiträge: Aufsätze und Excurse, Uebersetzungen und Paraphrasen, Miscellen, Notizen, Recensionen, Anzeigen mag das Tausend gut erreichen. Aber es sind nur wenige Artikel darunter, die den Namen einer wissenschaftlichen Untersuchung verdienen, und auch die Bücher, die seinen Namen auf dem Titel tragen – von den Uebersetzungen ganz abgesehen, die er nur des Broterwerbs halber schrieb – bringen die eigene Arbeit Liebrecht’s in mehr oder weniger lässiger Form. 1851 hat L. des John Dunlop (1814 zuerst erschienene) History of Fiction unter dem Titel „Geschichte der Prosadichtungen oder Geschichte der Romane, Novellen und Märchen“ u. s. w. „aus dem Englischen übertragen und vielfach vermehrt und berichtigt, sowie mit einleitender Vorrede, ausführlichen Anmerkungen und einem vollständigen Register versehen“ – und nicht zum mindesten durch den Reichthum dieser Liebrecht’schen Beisteuer ist das in Deutschland vorher wenig bekannte Buch, dessen Lesbarkeit der Uebersetzer freilich nicht erhöhte, zu einem oft citirten und noch häufiger benutzten Nachschlagewerk geworden. 1856 gab L. eines der merkwürdigsten Unterhaltungsbücher des Mittelalters, die für den Welfenkaiser Otto IV. geschriebenen „Otia imperialia“ des Gervasius von Tilbury in einer Auswahl heraus und begleitete sie mit Anmerkungen und Excursen, die zum Theil weit von der Sache abführen. Der Excurs ist überhaupt die bequeme Lieblingsform gewesen, in der L. seine Gelehrsamkeit darbot, ehe er zu der lässigen und oft ganz formlosen Anreihung von Notizen überging. Daß L. trotz einigen verheißungesvollen Anläufen zu einer straffern Fassung wissenschaftlicher Arbeit immer wieder auf diese Art der Mittheilung zurückkam, erklärt sich wol zum Theil aus seinem Entwicklungsgang und seinen äußeren Verhältnissen: die Lütticher Bibliothek konnte allerdings für einen Studienkreis, wie L. ihn zu umfassen strebte, unmöglich ausreichen, und über der Zusammensetzung der eigenen Bücherei waltete der Zufall, der einem hülfsbereiten Handlanger und prompten Recensenten vieles und vielerlei, aber nicht immer das nöthigste ins Haus liefert. So mag es sich immerhin erklären, daß man bei ihm neben den entlegensten Ausläufern der Folklore nicht selten die grundlegenden litterarischen Daten vermißt, daß ihm die Scheidung des Ursprünglichen und Abgeleiteten so oft mißlingt. Aber andererseits darf doch auch nicht verschwiegen werden, daß es L. von Haus aus an dem Gelehrtentact, an dem feinen Geschmack und der natürlichen Anmuth fehlte, welche die äußerlich vergleichbare Lebensarbeit Reinhold Köhler’s bei allem Fragmentarischen doch so viel wissenschaftlich fruchtbarer und menschlich erfreulicher macht.

Wie wenig L. selbst in späteren Jahren die Mängel seiner Arbeitsweise einsah, zeigt die Sammlung „Zur Volkskunde. Alte und neue Aufsätze“ (Heilbronn 1879), in der er gewiß das werthvollste aus seiner zerstreuten litterarischen Thätigkeit vereint zu haben glaubte: ein Unparteiischer hätte die Auswahl vielfach anders getroffen und dem Andenken Liebrecht’s besser gedient.

Pitré im Archivio delle tradizioni popolari 9, 459 f. – A. Chauvin in der Zeitschr. d. Ver. f. Volkskunde 12 (1902), 249–264, mit ausführlicher Bibliographie. – Briefliche Mittheilungen der Studienpräfektur des Athénée royal zu Lüttich.