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Artikel „Lasaulx, Amalie von“ von Joseph Hubert Reinkens in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 17 (1883), S. 721–728, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Lasaulx,_Augustine_von&oldid=- (Version vom 26. Dezember 2024, 13:56 Uhr UTC)
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Lasaulx: Amalie v. L., als Schwester Augustine, Oberin der Barmherzigen Schwestern im St. Johannishospital zu Bonn, geb. zu Koblenz am 19. October 1815, † am 28. Januar 1872 zu Vallendar. Sie stammte aus der lothringischen Familie de la Saulx (van der Weyden), welche dort im J. 1611 von dem Herzog Heinrich von Lothringen geadelt wurde. Durch Johann Claudius v. L., der als Jurist um die Mitte des 18. Jahrhunderts in kurtrierische Dienste trat, kam der Zweig der Familie nach Koblenz, welchem A. v. L. entsproßte; sein Enkel, der älteste Sohn seines jüngsten, des Syndikus Peter Ernst v. L., der wie der Großvater Johann Claudius hieß (s. u.), war ihr Vater. Er baute Kirchen, liebte aber nicht äußeres kirchliches Thun, für welches mehr Neigung hatte seine in ihrem Wesen zurückhaltende, tiefernste Frau Anna Maria, geb. Müller, mit welcher er als Student in Würzburg sich vermählt hatte. A. war das jüngste von sechs Kindern, die dem Charakter und dem kirchlichen Sinne nach ebenso verschieden unter einander waren wie die Eltern. Es warer drei Brüder (der älteste Peter Ernst, geb.1805, der spätere geistreiche Alterthums Forscher [s. u.], ihr Lieblingsbruder) und drei Schwestern (außer ihr Anna, geb. 1810, sanften und selbstlosen Charakters, und Clementine, geb. 1812, schön und geistvoll). Dem Hause von Lasaulx war, dem Geiste des Vaters entsprechend, jeder kirchliche Zwang fern. Aber in dem Freundeskreise begann noch während der Kindheit Amaliens eine kirchliche Luft zu wehen, deren bestimmendem Einflusse die drei Schwestern sich nicht zu entziehen vermochten. Der Mittelpunkt des Verkehrs für diesen Kreis war das Haus der Tante Christine, des Vaters charaktervoller Schwester, welche an den Justizrath Longard verheirathet war. Hier war das Kirchenjahr auch der Rahmen für die häuslichen Feste; hier spielte herein die Romantik, welche damals den Katholicismus den frommen Idealisten und ritterlichen Frommen empfahl, unbewußt dem materialistischen Romanismus den Weg bereitend. Es war eine Art von poetisch-kirchlichem [722] Leben mit allem Schmucke der Kunst, das von den verschwägerten Familien v. Lasaulx, Longard und Joseph Görres ausging, welche die Familien Diez, Settegast, Brüggemann (Bd. III S. 407), die Brüder Clemens und Christian Brentano und Alle, die am Niederrhein für den romantischen Katholicismus empfänglich waren, auch sympathisch empfindende Protestanten nachgerade in ihren Kreis zogen. Alle Begeisterung, zumal für die Religion und die Kunst in ihrem Dienste fand reichen Zündstoff in A., welche mit der ganzen Innigkeit einer ächt weiblichen Natur bei großer geistiger Begabung den ihr aufleuchtenden Idealen dienstbar wurde, aber zunächst Idealen des Lebens in der Gesellschaft, nicht des Klosters. Sie war lebendig und lebensfroh, in Freud und Spiel fast wild, lief auf Stelzen und übte sich heimlich im Schlittschuhlaufen (damals unerhört bei Mädchen): als Spielgenossen waren ihr Knaben lieber als Mädchen; aber auch den von ihr ausgezeichneten Knaben wußte sie eine gewisse heilige Scheu einzuflößen, so daß sie nie ihre feine, wiederum ganz mädchenhafte Empfindungsweise verletzten. In den ersten 14 Jahren ihres Lebens war der Schulunterricht nach der damaligen Beschaffenheit der Mädchenschulen in Koblenz sehr unvollkommen; seit 1830 genoß sie in der neu gegründeten Stein’schen Schule besseren. Begabt und einflußreich auf ihre innere Entwickelung war als ihr Religionslehrer der Vorsteher des Waisenhauses zu St. Barbara, Seydel, in den Freiheitskriegen Offizier, damals Protestant, dann Convertit und Geistlicher. Viel Schönes lernte sie von ihm, nicht in gelehrten Entwickelungen, sondern in kurzen gewinnenden Aussprüchen, wofür sie ihm bis an ihr Lebensende dankbar blieb; aber seinen Protestantenhaß wollte sie nicht lernen. Aller Unterricht, den sie erhielt, war gering im Vergleich zu den jetzigen Leistungen; aber jedes gute oder anregende Wort weckte ihren Trieb zur Selbstbildung, und dazu that das Meiste der Verkehr im Verwandten- und Freundeskreise. Im Winter 1831–32 hatte sie mit dem etwas jüngeren Karl Cornelius, der als Verwandter im Hause Brüggemann’s lebte, gemeinschaftlich Unterricht im Französischen. Zwischen beiden entstand eine Freundschaft reinster Art, die ihr noch bis auf’s Sterbebett zur Erhebung und zum Troste gereichte. Die Gründung des Bürgerhospitals zu Koblenz und die Uebernahme der Leitung desselben durch die barmherzigen Schwestern vom heiligen Karl Borromäus (10. Juli 1826), welche Clemens Brentano in den Zauber seiner Poesie hüllte, übte auf die drei Schwestern v. Lasaulx einen tiefgehenden Einfluß; mit den Töchtern anderer angesehenen Familien fanden sie sich dort ein, um Hand an die Werke der christlichen Liebe zu legen. Das hatte bei mehreren den Eintritt in ein Kloster zur Folge. Schon im J. 1828, erst 18 Jahre alt, trat Anna v. L., die älteste, zu Nancy als barmherzige Schwester ein, wurde aber nach einigen Jahren Elisabethinerin zu Luxemburg, was, viel später freilich, auch Clementine wurde; erstere nahm den Klosternamen Hildegard an, letztere Anna.

Amalie indessen wollte, dem Wunsche ihrer Eltern gemäß, sich verehelichen, obgleich ihre selbständige Verlobung mit einem jungen Arzte, den ihre Phantasie idealisirte, nicht nach deren Sinne war. Eine zufällige Aeußerung des Bräutigams ließ das ideale Bild plötzlich in Staub zu ihren Füßen fallen; sie löste das Verhältniß unwiderruflich, fiel durch die Gemüthserschütterung in ein heftiges Nervenfieber und als sie davon genas und erwachte, war die fröhliche Jugend zu Ende und eine Jungfrau voll der Wehmuth und des milden Ernstes stand vor der würdigsten Aufgabe des Lebens, welche sie suchte. Sie war überzeugt, daß sie dem Leid etwas abgerungen, was ihr für die geopferte Freude Ersatz bot. Sie ging auf eine Zeit lang, sich zu zerstreuen und – zu sammeln, zu ihrem Bruder Ernst, der seit 1835 Professor in Würzburg war und verheirathet mit der Tochter des Philosophen Franz v. Baader. Sein Haus lag in der Nähe der Klinik; sie [723] wurde täglich aufmerksam auf Leid und Tod der Menschen, wollte in christlicher Erbarmung helfen und die barmherzige Schwester wurde das Musterbild ihres künftigen Lebens. Schon 1838 schrieb sie nach Nancy an das Mutterhaus der barmherzigen Schwestern, aber bei dem Widerstreben der Eltern führte sie ihren Entschluß erst 1840 aus, auch da noch, von Diez das Reisegeld nehmend, ihren Eltern entfliehend, denen sie erst aus dem Kloster die vollendete Thatsache berichtete, was der Vater kaum je verzeihen konnte. – Als sie zu Nancy eintrat, lebte noch die heroische Generaloberin Maria Placida Bellanger († am 23. Juli 1841), eine der bewunderungswürdigsten Gestalten in der ganzen Geschichte der barmherzigen Schwestern. Sie erkannte schnell in Amalie, welche den Klosternamen Schwester Augustine erhielt, eine ungewöhnliche Kraft und ließ sie zur Apothekerin ausbilden, was auf die künftige Oberin schon hindeutete; denn die Oberinnen der einzelnen Hospitäler wurden meist aus den Apothekerinnen gewählt. Bereits im J. 1842 wurde sie, nach kurzer Wirksamkeit in Trier, mit dem Amte der Apothekerin in dem Hause der barmherzigen Schwestern zu Aachen betraut, welches sie sieben Jahre inne hatte. Dort war eine Elsässerin Oberin, die „Mutter Josephine“, „eine liebe vortreffliche Seele“, welche die Schwester Augustine sehr hoch stellte, ihr innerlich aber in ihrem religiösen Leben fremd blieb. Liebevoll gegen alle, auf mehrere großen Einfluß übend, blieb sie doch in ihren tiefsten Bedürfnissen einsam. Von der Koblenzer Romantik fand sie nichts im Kloster, die romanischen frommen Uebungen und Spielereien blieben ihr äußerlich; aber ihr geistiges Leben wurde in Aachen ein gereiftes und selbständiges. Nicht quälende Gewissensangst, nicht Verbitterung, nicht Menschenscheu, nicht Haß gegen die Welt, kein finsterer Gedanke hatte sie ins Kloster geführt; aber ebensowenig das eigentlich klösterliche Thun, religiöse Aeußerlichkeit, religiöse Sinnlichkeit oder geistlose Uebungen, welchen Furcht und Aberglaube Kraft zuschreiben. Sie hatte das Kloster gesucht der Charitas wegen, eine Genossenschaft für die Thaten der Liebe in Christo und um Christi willen, die leibliche und geistige Noth der Menschen zu lindern. Dies blieb ihr Ziel, wenn sie auch die klösterlichen Regeln und die Vorschriften der Oberin mit musterhafter Treue und tadelloser Gewissenhaftigkeit befolgte. Aber die Charitas verlangt fröhliche Diener; so erkämpfte denn die Schwester Augustine sich wieder „Malchen’s“ Lebenfrische und Munterkeit, die sie in der Folge nie wieder verließ. Zwar war der Kampf in ihrer inneren Vereinsamung schwer; manchmal wollte sie dem äußeren Mechanismus der Klosterdisciplin und Stundenübung erliegen; dann betete sie „unter heißen Thränen, der liebe Gott möge sie stumpf, gefühllos für alles das machen, was von Jugend auf so groß und edel vor ihrer Seele gestanden habe“. Doch sie rettete ihre ganze Denkweise und innere Gefühlswelt, und so sehr ihr und tausend Anderen zu Heil und Frieden, daß sie später jenes Gebet „eine thörichte Bitte“ nannte und als Sünde betrachtete. Ihr gesundes, geläutertes, tief innerliches religiöses Wesen gab all’ ihrem freudigen Wirken eine Weihe, ja Verklärung, wodurch alle Kranken und Hülfsbedürftigen, die sie einzeln in ihrer Eigenthümlichkeit schnell verstand und demgemäß behandelte, sich unwiderstehlich zu ihr hingezogen fühlten. Bald war, wenn von dem gesegneten Wirken der barmherzigen Schwestern zu Aachen gesprochen wurde, „Soeur Augustine“ auf allen Zungen.

In Aachen sah der Verfasser dieser Skizze sie zum ersten Male. Da stand sie vor ihm in der unversehrten Blüthe, voll der fast männlichen Energie und doch sinnig in sich gekehrt, Wohlgefallen und Vertrauen erweckend, jungfräulich ganz und gar, ohne einen Schatten von nonnenhafter Ueberhebung; sie war mittlerer Größe, ihre regelmäßigen Züge belebte eine durchaus gesunde, schöne Gesichtsfarbe; unter den schwarzen Brauen und langen Wimpern leuchteten die [724] funkelnden Augen wie Blitze hervor, von der Reinheit ihrer Seele zeugend. Der talentvollste Geistliche Aachens, in einflußreicher Stellung, besaß ihr Vertrauen. Durch ihn lernte sie die kirchlichen Verhältnisse besser verstehen und beurtheilen. Noch außerhalb des Klosters, beim ersten verzehrenden Feuer, in welchem der Haß auch eines Theils des Longard’schen Kreises während der Kölner Wirren 1837 aufloderte, hatte sie, dem friedlichen Geiste des Vaters folgend, eine ruhigere Betrachtung der Dinge sich bewahrt. Die zelotische Partei, welche die Oberherrschaft der Hierarchie über den Staat mit allen Mitteln durchsetzen wollte und eine Kampfesweise hatte, bei der „so viel Liebe unterging und so wenig Licht heraufgefördert wurde“, fand keinen Anklang in ihrem erleuchteten religiösen Gemüthe. Durch jenen Verkehr in Aachen wurde ihre Einsicht in die treibenden Kräfte, ihr Verständniß der Ziele und ihre Kenntniß der Personen gefördert.

Bei einem Besuche in Koblenz gelang es ihr den geliebten Vater, der mit ihrem Eintritt ins Kloster sich nicht versöhnen konnte, wieder herzlicher gegen sich zu stimmen. Am 14. October 1848 entschlief er und sie wurde, nachdem sie in seiner von ihr ungeahnten Todesstunde mit einer unerklärlichen namenlosen Betrübniß gerungen hatte, an seinen Sarg gerufen. Koblenz war für sie eine Fremde geworden. –

In Bonn war unter religiöser Begeisterung ein Bürgerhospital gebaut worden; es wurde fertig unter dem Namen Johanneshospital im Herbste 1849 und durch Vertrag vom 7. October den barmherzigen Schwestern übergeben. An einem Novemberabend in der ersten Hälfte dieses Monats stand, den Empfangsfeierlichkeiten ausweichend, die ernannte Oberin, Schwester Augustine, mit zwei anderen Ordensschwestern vor dem stattlichen Hause, weckte den schlafenden Wächter, nahm aus ihrer Tasche ein Stückchen Kerze, steckte dies, nachdem sie Licht gemacht, auf eine entdeckte leere Flasche und besichtigte, umherwandernd, das schöne, aber noch nicht eingerichtete Haus. Schon am anderen Tage strömten die Gaben in das Haus, welches, als sie nach 22 Jahren hinausgestoßen wurde, an Werth nahezu 300 000 Mark repräsentirte, und, wo immer in und außer der Kapelle ein Plätzchen dazu geeignet war, von Schönheitssinn und Kunstverstand zeugte, aber auch der Zeuge von tausend Liebesthaten war. Zu allen Kranken und Leidenden hatte sie bald eine Art von persönlichem Verhältniß: sie war Jedem Mutter oder Schwester, je nach seinem Bedürfen. Selbst für die Draußenstehenden, welche des Rathes, des Trostes, der christlichen Hülfe ermangelten, wurde ihr Ansprachzimmer ein Refugium, eine Zufluchtsstätte, die Niemand ohne geistige Erquickung verließ. Dort verkehrten auch Männer, wie Hilgers und Perthes, welche den rechten Weg des Friedens der Confessionen kannten; durch sie und andere blieb sie im Zusammenhange mit den kirchlichen Ereignissen. Der Ruhm der Oberin im St. Johannishospital überschritt schnell die Grenzen der Provinz; sehr hohe fürstliche Personen zollten ihr bewundernde Anerkennung. Im ganzen Vaterlande aber leuchtete ihr Name auf während der Kriegsjahre 1864 und 1866, als sie in Schleswig-Holstein und Böhmen ihre staunenswerthe Wirksamkeit entfaltete. Ihr organisatorisches Talent wie ihre selbstvergessene rastlose Liebe fand die Bewunderung der Offiziere und der Aerzte. Daher wurde sie 1864 auch von Lazareth zu Lazareth gerufen; hatte sie hier der Liebe „Räderwerk in Gang gebracht“, so hieß es: dorthin, wo größere Noth und Arbeit war, bis man sie in den Feldlazarethen dicht hinter dem Kampfplatze hatte, zuletzt in Rinkenis, wo die Fenster vom Kanonendonner zitterten. Oft sah sie „eine Welt voll Kummer und Sorge in den Gesichtszügen“, und wenn sie den Bekümmerten den Händedruck erwiederte, wollte es ihr fast nie gelingen, dies „mit trockenen Augen“ zu thun. Und dennoch war sie voll Freudigkeit, wollte ihr Loos mit keinem anderen vertauschen und flößte überall den Leidenden [725] Muth, oft Heiterkeit ein. Ihre Thränen des Mitleids riefen Thränen des Dankes hervor und heiße Gebete für sie: sie fand sich in dieser Zeit „beneideswerth“. Sechs Nationen gehörten die Verwundeten an und verschiedenen Confessionen; das Herz der Schwester Augustine war allen gleich weit aufgethan. Meist weilte sie aber bei den Schwerverwundeten, wie sie denn auch in Rinkenis, vor einem Gasthof an der Landstraße, nach dem heißen Tage von Düppel auf die Wagen der Schwergetroffenen stieg, die Lebenden von den Leichen befreite und sie erquickte, wobei es ihr „das Herz zerriß“, wenn sie den jammernden Leidenden sagen mußte, sie könnten bei ihr nicht bleiben, da sie kein Plätzchen mehr habe.

Der evangelische Feldpropst brachte ihr den Dank der Königin. Sie war 49 Jahre alt. An Gottinnigkeit hatte sie gewonnen; aber an ihrer körperlichen Kraft waren die Gemüthserschütterungen, die Tagesstrapazen und die schlaflosen Nächte nicht spurlos vorübergegangen; die volle Frische ihrer Gesundheit kehrte nie wieder; sie war herzleidend geworden. Doch mit übermächtiger sittlicher Kraft, mit dem Heldenmuth vollendeter Nächstenliebe erhob sie sich über ihr körperliches Leiden und eilte im Sommer 1866 auf den Kriegsschauplatz in Böhmen mit fünf Schwestern aus Andernach und Trier. Es war in den letzten Tagen des Juni. Vom 26. Juni bis 3. Juli (incl.) war ein Schlachtenschlagen und Siegen für Preußen, wie es bis dahin unerhört war in der Geschichte; aber indem das Sanitätscorps großentheils dem siegenden Heere folgte, ließ es hinter sich viele Tausende von Verwundeten zurück, unermeßliche Arbeit für unzureichende Hände der Liebe. Schon in das Elend der ersten drei blutigen Tage kam die Schwester Augustine mitten hinein, und zwar auf dem Schlachtfelde von Gitschin. Sie meinte, sie müßte immer sein, wo „die am unglücklichsten Zerschossenen“ seien, und das dachten auch Andere. Nach drei Tagen (4. Juli) wurde sie telegraphisch auf das Schlachtfeld von Königgrätz gerufen. Hier war der Hauptschauplatz ihrer Wirksamkeit auf dem in ein Lazareth umgewandelten Schlosse Hradek, dem Professor Busch aus Bonn als Generalarzt vorstand; von der Reitbahn bis zum Speicher waren alle Räume des Schlosses mit Schwerverwundeten angefüllt. Sie wollte nicht in den Prachtsälen pflegen; sie wählte sich die Reitbahn, wo das größte Elend und die äußerste Armuth war. Auch hier war ihr Herz an dem Schmerze der ankommenden Verwundeten wie an dem der Verstümmelten und Sterbenden voll und ganz betheiligt. Sie erfüllte Alles, Arzt und Seelsorger und Soldat, mit Ehrfurcht gegen sich, ohne es zu ahnen, da sie nur ihre Pflicht zu thun glaubte. Zwei Monate dauerte dort Tag und Nacht ihre Liebesarbeit. Ihre moralische Kraft schien selbst den Krankheitsstoff in ihr verzehrt zu haben; sie schrieb aus Böhmen über ihr Befinden manchmal, als sei sie völlig gesund geworden. – Im September war sie wieder im Hospital zu Bonn. Sie meinte, sie könnte noch einen dritten Feldzug mitmachen; aber sie täuschte sich, das Herzleiden trat wieder hervor und nahm bedenklich zu. Sie konnte während des deutsch-französischen Krieges nur in Bonn selbst, wohin seit dem 8. August 1870 Verwundete gebracht wurden, ihre Liebesarbeit für die Verwundeten wieder aufnehmen, was sie denn auch mit aller geistigen Energie that und so noch viel Leid und Noth linderte. –

Bis zum Jahre 1870 war nach der Rückkehr aus Böhmen ihr Leben wieder gleichmäßig in selbstloser Arbeit und Gottesfurcht dahin geflossen. Nur daß „die Athemsnoth“, ein Hauptsymptom ihrer Krankheit, sie mehr und mehr quälte und am Schaffen des Guten hinderte. – Aber es gab noch etwas anderes, das ihre Brust peinlicher beklemmte: das war der Gang der Dinge in der inneren Entwickelung der katholischen Kirche, der sie wie einer geistigen Mutter mit heißer Liebe anhing. Schon daß der Geist im Mittelpunkte ihres Ordens schwand und in den Jesuitenexercitien der Maßstab einer „verkrüppelten Frömmigkeit“ ergriffen [726] wurde, that ihr namenlos wehe; aber mehr noch erschütterte sie die in Rom angestrebte Umwandlung der Herrschaft des Geistes in die der Knechtschaft für die ganze katholische Kirche. Als der Kampf um und gegen die kirchliche Allgewalt und Unfehlbarkeit des Papstes begann, nahm dieser ihr volles Interesse in Anspruch. Sie durchlebte die Ereignisse vor Allem mit Hilgers, der in seiner religiösen Innigkeit, Klarheit, Reinheit und Vornehmheit ihr ein Freund und Führer geworden, vor dem sie kein Geheimniß mehr hatte; dann mit den Professoren Reusch und Langen und durch eingehende Correspondenz mit ihrem Jugendfreunde Karl Cornelius in München, der sie mit den erscheinenden Schriften bekannt machte und außerdem ihr besondere Aufschlüsse gab. Anfangs freute sie sich „an so manchem Echo einer besseren und edleren Welt“, aber bald verlor sie die Hoffnung, da sie die Feigheit der Bischöfe erkannte und sah, daß „das Salz der Erde schal geworden“. „Hielte mein schöner und lieber Beruf mich nicht gefangen“, schrieb sie schon am 28. August 1869, „gewiß, ich hätte auf irgend einer Bergkuppel meine Behausung aufgeschlagen.“ Döllinger’s „wirklich köstliche, so klar und bestimmt gefaßte Erwägungen“ waren für sie durchschlagend. Die Nachrichten vom Concil brachten ihr „das düstere Bild der kirchlichen Zukunft täglich näher“. Die Gewaltthätigkeit und Rohheit, mit welcher die neuen Dogmen der Kirche aufgezwungen wurden, empörte ihr ganzes Wesen; dennoch sprach sie nie vor Unberufenen und nie vor den ihr untergebenen Ordensschwestern darüber. Als ihre Spannung und Besorgniß wegen des Ausgangs des Concils am höchsten stieg, wurde sie im Mai 1870 nach Nancy zu Exercitien gerufen, die 10 Tage dauerten und mit einem Knalleffect, dem Vorzeigen des Todtenschädels einer früheren beliebten Schwester, als deren getreuen Porträts, durch die Generaloberin endeten, nachdem die Schwestern täglich vier Predigten angehört und die übrige Zeit mit Betrachtung und Gebet zugebracht hatten. – Zurückgekehrt, war sie leidender als zuvor; der Gang des Concils machte ihr das Herz immer schwerer; sie sah zu Rom nur noch „ein Zerrbild des Katholicismus“. Es kam die Abstimmung vom 13. Juli, die Verschärfung des Decrets, der Kniefall des Bischofs v. Ketteler, Protest und Flucht der Oppositionsbischöfe am 17. Juli und die Proklamation der eigenen Unfehlbarkeit Pius IX. am 18. Die deutschen Bischöfe fielen ab von der Wahrheit, welche sie in Rom bezeugt hatten und verfolgten, excommunicirten ihre früheren Mitzeugen im Klerus. Schwester Augustine sah mit Schrecken „die grauenhaften Folgen des neuen Dogma’s“, „ein Gericht über die Kirche, das uns blutige Thränen erpressen könnte“. Wenn die Zeugen der Wahrheit nun alle stumm würden, sei es „zum Verzweifeln“. „Nicht wahr“, schrieb sie an Frau Cornelius, „wir wollen in der alten Kirche bleiben, damit uns Gott helfe und sein heiliges Evangelium!“ Gott und sein heiliges Evangelium halfen ihr. Als sie Freunde rechts und links aus Charakterschwäche fallen sah und sie im Schmerze rief: „Ich glaube an keinen Einzigen mehr!“ gelobte sie, sich alsbald sammelnd, dem Herrn unwandelbare Treue. Als ihrd Bonner Freunde suspendirt wurden, rief sie „Gott sei Lob und Dank!“ Sie war damals schon so krank, daß sie seit lange nur in sitzender Haltung schlafen konnte; im Frühjahr 1871 hatte sie einen Anfall von Husten und Beklemmungen, in dem sie zu sterben glaubte; der Zustand milderte sich, doch waren ihr nur noch Monate beschieden und in diesen die härteste Prüfung ihres Lebens. Im August machte ein Ruhranfall, der mehrere Wochen sie ans Bett fesselte, sie schwächer, in den Füßen zeigte sich das Wasser; sie dachte an den nahen Tod, fühlte aber auch des Herrn „Nahesein“, den sie finden werde, wenn auch „die jetzige Kirche nicht mehr den Weg zu zeigen vermöge“.

Die Novizenmeisterin aus Trier erschien auf Denunciation Ende October zu Bonn und forderte ihr Glaubensbekenntniß in Bezug auf die Unfehlbarkeit [727] des Papstes und die unbefleckte Empfängniß. Sie verneinte beides als Dogma. Am 7. November drangen unangemeldet die Oberinnen von Nancy und Trier in ihr Krankenzimmer, ungestüm ihr Glaubensbekenntniß fordernd. „Ich habe es abgelegt nach Wahrheit, Pflicht und Gewissen; Gott sei Dank dafür!“ schrieb sie am anderen Tage. Sie wurde sofort als Oberin abgesetzt; die neue war mitgebracht und die treueste Gefährtin der edlen Bekennerin, die Schwester Gertrud, mußte in den Krankensälen die Absetzung der „Mutter“ verkünden; sie that es unter Thränen und die Antwort war Jammern und Schluchzen der Armen und Kranken. Die Generaloberin wollte nun die dem Tode nahe Schwester Augustine über Trier nach Nancy schleppen, um sie dort in klösterlicher Sicherheit als Ketzerin zu bearbeiten. Dem trat der Arzt entgegen und ein Verwandter, der mit dem Staatsprocurator drohte. Diese Drohung bewog die Fransösin zur eiligen Abreise. Darnach wurde die Behandlung etwas freundlicher; aber das dargebotene Wunderwasser von Lourdes nahm sie nicht an. In dem Hause, dessen Ruhm sie begründet und gewesen, konnte sie, wie die Generaloberin am 7. November hart gesagt, nicht bleiben; das Angebot eines Asyls in Freundeshaus lehnte sie ab, bis man sie aus dem Orden stoßen würde. Da dies zunächst nicht geschah, bat sie, man möge sie nach Vallendar ins dortige Hospital, wo ihre Freundin Schwester Hedwig Oberin war, bringen lassen. Es wurde erlaubt, Schwester Gertrud durfte mitgehen; am 14. November ertrug sie den Abschied „aus dem Hafen ihres Glücks“ und die Fahrt, welche die schon hochgradige Wassersucht ihr höchst schmerzlich machte. Dort, zu Vallendar, in einem Thurmzimmerchen mit herrlicher Aussicht nach Koblenz und über das Rheinthal bis zu den Andernacher Bergen, auch nach Weißenthurm, wo ihr Familiengtab war, bereitete sie sich vor auf den Tod. Den Gedanken an die letzten Vorgänge im Bonner Hospital, die ihr „sittlichen Ekel“ erregten, mied sie; nur vorwärts blickte sie, den Herrn erwartend. Mit Nancy und Trier war jedes innere Band gelöst, ihrem „Berufsleben wollte sie mit fröhlicher Begeisterung bis zum Grabe angehören“. Sie durfte viele Besuche empfangen, nur nicht „die suspendirten Priester!“ Römische Geistliche kamen ungebeten, um sie zu „bekehren“. Aber auch die Kaiserin und Königin sandte von Koblenz ihre Palastdame Gräfin Hacke mit Grüßen und ihren Leibarzt Velten. Der zweimalige Besuch ihres Jugendfreundes Karl Cornelius war eine ihrer letzten Freuden.

Verschiedene Bekehrungsversuche, auch durch ihren alten Religionslehrer Seydel und durch ihre leibliche Schwester Clementine (Anna) veranlaßten sie, der Schwester Gertrud das Versprechen abzunehmen, nach ihrem Tode einer etwaigen Lüge, sie habe „sich bekehrt“, mit dem Zeugniß der Wahrheit entgegenzutreten. Sie empfing die Sterbesacramente ohne Ahnung des Hauspersonals von einem Geistlichen, Dr. Hochstein, der Gesinnungsgenosse war, aber damals nicht suspendirt, weshalb er zum Besuche zugelassen wurde. Je näher der Todestag herannahte, desto friedlicher und gottinniger erschien sie. Sonntag, den 28. Januar 1872, sagte ihr der Arzt Dr. Köchling kurz vor 12 Uhr, eine Lungenlähmung sei im Anzug, sie habe voraussichtlich noch eine Stunde zu leben. Sie ergriff seine beiden Hände mit den Worten: „Ich danke, danke Ihnen!“ Nun beobachtete sie das Kommen des Todes. Unter Eingeständniß, als der Todesschweiß eintrat und sie eisige Kälte empfand, daß die Todesstunde schwer sei, betete sie mit den weinend niederknieenden Schwestern Hedwig und Gertrud. Mit den Worten „Herr Jesu, komme bald!“ schied sie 12 Uhr 45 Minuten, wie einschlafend. Der Eindruck auf die Oberin war so mächtig, daß sie noch am folgenden Tage sagte: „sie ist so fromm gestorben, sie ist gewiß im Himmel!“ Trotzdem mußte sie, dem Befehle der Generaloberin gehorchend, die Leiche des Ordenskleides berauben und sie in einem Nachen einsam rheinab schwimmen [728] lassen nach Weißenthurm, wo sie, verlassen ausgesetzt, von der edlen Fürstin von Wied zuerst geehrt wurde. Ein kleiner Kreis von Damen und Herren aus Bonn fand hernach sich ein. Das Begräbniß leitete ein angeheiratheter, dem Papste unterworfener Verwandter, welcher den altkatholischen Geistlichen die Vornahme eines kirchlichen Begräbnisses untersagte. Professor Reusch sprach nur die sonst üblichen drei Vater Unser, fügte aber dem letzten den Wunsch bei, daß Jeder der Anwesenden, wenn für ihn der Herr komme, so vorbereitet wie die Heimgegangene sein möge. Die Freundinnen bedeckten das Grab mit Kränzen und Thränen. Den unverwelklichen Kranz einer heldenmüthigen Bekennerin, welche ein schuldloses Opfer auf dem Altar der göttlichen Prärogativen des Papstes geworden, wird ihr die Nachwelt nicht versagen können.

Vgl. Erinnerungen an Amalie v. Lasaulx, Schwester Augustine, Oberin der Barmh. Schwestern im St. Johannishospital zu Bonn. Gotha 1878. – Amalie v. Lasaulx. Eine Bekennerin. Von J. H. Reinkens, kath. Bischof. Bonn 1878. Beide Schriften erschienen unabhängig von einander im Zwischenraum von wenigen Wochen. – Die französische Schrift: Une Sainte de la Réforme catholique. Courte notice sur Amélie de Lasaulx, Soeur de Charité (1815–1872). Par H. Lecoultre. Avec une introduction de M. Hyacinthe Loyson, Prêtre. Paris 1879, stützt sich auf die beiden angeführten Biographien. Selbständig ist der Nekrolog im „Deutsch. Merkur“ 1872 S. 65–67.