ADB:Kirnberger, Johann Philipp

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Artikel „Kirnberger, Johann Philipp“ von Philipp Spitta in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 16 (1882), S. 24–26, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Kirnberger,_Johann_Philipp&oldid=- (Version vom 12. Dezember 2024, 11:19 Uhr UTC)
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Kirnberger: Johann Philipp K. ist am 24. April 1721 zu Saalfeld in Thüringen geboren. Er besuchte die Schule in Koburg, wo er, mit einem ungewöhnlich starken Gedächtniß begabt, sich bald vor seinen Mitschülern auszeichnete. Doch setzte er seine wissenschaftliche Ausbildung nicht fort, sondern wandte sich bald ausschließlich der Musik zu. Er erzählt selbst, daß seine Fähigkeit, geschwind zu lernen, die Schattenseite gehabt habe, daß alles seinem Gedächtniß ebenso schnell wieder entfallen sei. „Nachdem ich mich ganz der Musik widmete, so verdrängten die Noten alles was ich in Schulen erlernet hatte, und ich also sehr leicht bei gelehrten Leuten in Verdacht kommen mußte, als hätte ich in meinem ganzen Leben weder ein Grammatic (so!) oder, was noch schlimmer, einen Catechismum, Gesangbuch oder Bibel gesehen, da ich doch in meinem 12. Jahre alle Psalmen, namentlich viele biblische Sprüche alten und neuen Testaments und sogar alle Evangelien auswendig wie aus einem Buche hersagen konnte.“ Nachdem er schon in seinem Heimathsorte die Elemente des Clavier- und Violinspiels erlernt hatte, fing er nunmehr an, bei Peter Kellner in Gräfenroda, einem ausgezeichneten Orgelspieler, die Sache gründlich zu betreiben. 1738 kam er nach Sondershausen, nahm hier von neuem Violinunterricht, bildete sich durch Anhören der dortigen Hofcapelle, verkehrte aber besonders eifrig mit dem Hoforganisten Heinrich Nikolaus Gerber. Gerber war ein Schüler Seb. Bach’s und auch Kellner war diesem großen Meister in Bewunderung zugethan. So reifte in K. der Entschluß, sich ebenfalls nach Leipzig zu begeben. Von 1739–1741 war er dort und genoß Bach’s Unterricht. Diese Zeit entschied über die Richtung seines künstlerischen Strebens. Er ging nun nach Polen und war hier an den Höfen verschiedener Magnaten, zuletzt bei den Bernhardiner-Nonnen zu Reusch-Lemberg in musikalischen Stellungen 10 Jahre thätig. 1751 kehrte er nach Deutschland zurück, verweilte kurze Zeit in Dresden und trat dann als Violinist in die Capelle Friedrichs des Großen zu Berlin. Drei Jahre später trat er mit Erlaubniß des Königs in die Capelle des Prinzen Heinrich über. Aber auch in diesem Dienstverhältnisse blieb er nicht lange, da bald darauf die Prinzessin Amalie ihn zu ihrem Hofmusikus machte. Die Prinzessin besaß, wie ihr königlicher Bruder, eine hervorragende Begabung für die Musik, die sie mit ganzem Ernst und fast männlicher Energie auszubilden trachtete. Es ist zu einem großen Theile ihr Verdienst, daß K. sich bei der Nachwelt einen ehrenvollen Ruf als Musiker gesichert hat. Denn sie wünschte durch ihn in der Composition unterwiesen zu werden, und da ihr seine Lehrweise gut und eigenartig erschien, ermunterte sie ihn, seine die Theorie der Musik betreffenden Ansichten zu Papier zu bringen und zu veröffentlichen. Wie viel K. als Clavier- und Violinspieler geleistet hat, ist nicht genauer bekannt geworden; seine Compositionen (ein Verzeichniß derselben bei Ledebur, Berliner Tonkünstler-Lexikon, S. 284) sind correct [25] gearbeitet, aber ohne den Reiz einer frisch quellenden Phantasie. Diejenigen Arbeiten, denen er seinen Ruf allein verdankt, sind seine theoretischen. K. war ein nachdenklicher Kopf und verband mit eindringendem Scharfsinn eine gründliche technisch-musikalische Bildung. Seine theoretischen Werke sind reich an neuen und fruchtbaren Anschauungen; es kann kein Zweifel sein, daß er nach dieser Seite hin der größte deutsche Theoretiker seiner Zeit war. Leider fehlte ihm die Gabe der Darstellung; seine Ausdrucksweise ist schwerfällig, unklar und incorrect. Er wußte dies selbst recht gut und hielt mit dem offenen Geständniß seines Unvermögens Freunden gegenüber keineswegs zurück. Zu diesen Freunden gehörte auch Johann Georg Sulzer, der Herausgeber der Allgemeinen Theorie der schönen Künste (Leipzig 1778 u. 1779). Sulzer, so erzählte K. der Prinzessin Amalie selbst, ermunterte ihn, aufzuschreiben, was ihm in den Kopf komme, „es fehlt zwar Ordnung, Styl und Gott weiß alles was? Er verstände mich nun doch. Ich mußte meine Gedanken nur auf eine Seite eines halben Bogens setzen, nachher schnitt er jeden Gedanken ab und klebte mit Oblaten die zerschnittenen Stücke in systematischer Ordnung neben einander, und so entstand mein erster Theil über die Kunst des reinen Satzes und die sämmtlichen musikalischen Artikel in seinem ersten Theile über die Theorie der schönen Künste.“ Andererseits machte ihn doch auch die Empfindung des Mißverhältnisses zwischen seinen tiefen musik-theoretischen Einsichten und dem Unvermögen, sie in eine entsprechende Form zu kleiden, besonders reizbar gegen Widerspruch. Ein lästiger Gegner erstand ihm in Friedrich Wilhelm Marpurg, der ihn zwar an musikalischer Gelehrsamkeit nicht erreichte, aber an allgemeiner Bildung und schriftstellerischer Gewandtheit weit übertraf. K. bewahrte seinen Angriffen gegenüber zu wenig die Ruhe und den Gleichmuth, der ihm geziemt hätte. Die Art, wie er in Briefen seinem Hasse gegen Marpurg immer von neuem Luft macht, ist eines gebildeten Mannes nicht würdig. Die theoretischen Speculationen, welche er anstellte, führten ihn übrigens zuweilen auch zu unhaltbaren Resultaten. So war er ein Verfechter der ungleichschwebenden Temperatur und wollte das Intervall 4 : 7, welches etwas tiefer ist, als die kleine Septime und einen mehr consonirenden als dissonirenden Charakter hat, in die praktische Musik einführen. Er nannte den betreffenden Ton i, und wandte ihn in einer Flötensonate seiner Composition an; auch sein Freund Fasch, der Director der Berliner Singakademie, machte in einer Vocalkomposition einen Versuch damit (man findet die Stelle abgedruckt bei Gerber, Neues Lexikon II, Sp. 86). Die Grundlage von Kirnberger’s Künstlerthum in Theorie und Praxis war Seb. Bach, den er für den Meister aller Meister hielt, und von dessen Werken er am liebsten seine Lehrsätze abstrahirte. Er beruft sich in seinen Büchern auch zuweilen auf Bach’s Lehrmethode, und dies hat wohl die irrige Ansicht entstehen lassen, Kirnberger’s Theorie sei eben die Bachische, die sein Schüler nur in eine Art von System gebracht habe. Doch war K. auch für die Musik der Zeitgenossen Bach’s nicht ohne Interesse, sowie für diejenige älterer Meister: ihm verdanken wir die erste Partiturausgabe der 1607 in Stimmen erschienenen „Psalmen und christlichen Gesänge von H. L. Haßler (Leipzig, Breitkopf 1777, Fol.), zu deren Veranstaltung ihn die Prinzessin Amalie veranlaßt hatte. Der modernen Musik seiner Zeit aber stand er mit schroffer Ablehnung gegenüber, und Gluck fand vor seinen Augen so wenig Gnade, wie vor denjenigen Forkel’s. – Die hauptsächlichsten theoretischen Werke Kirnberger’s sind folgende: 1) „Die Kunst des reinen Satzes in der Musik“, 1. Theil 1771 (mit neuem Titel und geänderter Verlagsangabe 1774), 2. Theil, erste Abtheilung 1776, zweite Abtheilung 1777, 3. Abtheilung 1779; 2) „Die wahren Grundsätze zum Gebrauche der Harmonie“, 1773; 3) „Grundsätze des Generalbasses als erste Linien zur Composition“, 1781; 4) „Gedanken über [26] die verschiedenen Lehrarten in der Composition“, 1782. K. starb in der Nacht vom 26. zum 27. Juli 1783.

Gerber, Lexikon. – Ledebur, Tonkünstler-Lexikon Berlins, Berlin 1861, S. 283 ff. – H. Bellermann, Briefe von Kirnberger an Forkel. Allgemeine musikalische Zeitung 1871, Nr. 34 ff. – Ders., Nachtrag zu Kirnberger’s Briefen. Ebenda 1872, Nr. 28 und 29.