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Artikel „Hermann von Sachsenheim“ von Gustav Roethe in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 30 (1890), S. 146–152, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Hermann_von_Sachsenheim&oldid=- (Version vom 24. November 2024, 13:11 Uhr UTC)
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Sachsenheim: Hermann v. Sachsenheim, der Dichter der Möhrin, war schwäbischer Herkunft. Seine angesehene und vielverzweigte Familie, die noch heute nicht ausgestorben ist und im 14/15. Jahrhundert den württembergischen Fürsten eine lange Reihe einflußreicher Beamten geschenkt hat, führt ihren Namen [147] von dem heutigen Städtchen Groß-Sachsenheim, Oberamt Vaihingen. Ob des Dichters Wiege hier gestanden hat oder auf dem Gute Ingersheim am Neckar, nach dem sein Vater Schwarzhermann gelegentlich genannt wird, das ist unbekannt. Als Geburtsjahr Hermann’s gilt gewöhnlich 1365: da aber die Verse, auf denen diese Berechnung beruht (goldn. Tempel 1228), wahrscheinlich älter sind, als das Gedicht, in dem sie jetzt ihren Platz gefunden haben, so wird Hermann wenig früher, 1363 oder 1364, geboren sein. Es scheint, daß er etwas gelehrte Bildung genossen, vielleicht gar eine Hochschule besucht hat; er verstand Latein und hatte viel gelesen, läßt sich selbst einmal büechin, in Büchern bewandert, nennen; er redet von den Zeiten, da er als Schüler heimliche Bücher studirte, und seine juristischen Kenntnisse gehen über das Laienhafte erheblich hinaus. Auch medicinische Rathschläge bringt er gelegentlich vor, doch nicht mehr, als die Praxis der Turnierverletzungen lehren konnte: die Arzneikunde gilt weder seinen Standesgenossen noch ihm selbst als völlig standesgemäß. Das ist entscheidend. Denn in erster Reihe ist auch er nicht Jurist, nicht Beamter, sondern Ritter: auf Nichts bildet er sich mehr ein, als auf seine gelben Sporen. Die Ritterwürde erhielt er nach eigner Angabe zu Bregenz. Seit 1392, dem Todesjahre seines Vaters, erscheint er in Urkunden, zunächst nicht häufig, seltner als andre Glieder seiner Familie. Erst seit Gräfin Henriette von Mömpelgard nach dem frühen Tode ihres Gatten Eberhard 1419 für ihre beiden minderjährigen Söhne die vormundschaftliche Regierung Württembergs angetreten hatte, erst seit dieser Zeit begegnet Hermann’s Name öfter unter den Räthen des gräflichen Hauses so nahm er z. B. am 25. November 1419 Theil an der beredunge van der hyrad und ee des jungen Grafen Ludwig mit der Pfalzgräfin Mechthild, die damals noch in der Wiege lag. 1421 und 1426 ist er Vogt zu Neuenburg, 1427 zu Eichelberg (bei Weinsberg) gewesen. Auf dem unglücklichen Hussitenfeldzuge des Jahres 1431 wird er seine Seele mit dem tiefen Haß gegen die ketzerischen Böhmen gesättigt haben, der aus den Dichtungen des Greises spricht: nur den Schweizern widmet er einen gleich dauerhaften Widerwillen. Im selben Jahre verlieh der inzwischen volljährig gewordene Graf Ludwig dem Dichter das Familienlehen zu Groß-Sachsenheim, das bis dahin sein Stiefvater inne gehabt hatte; seine zweite Ehe brachte ihm einen Wohlstand, der seine Freundwilligkeit den gräflichen Brüdern höchst werthvoll machte. So steigt er im Range. Seit 1431 war er für einige Jahre Lehnsrichter; schon in dieser Eigenschaft hat er sich oft, vielleicht dauernd, in Stuttgart aufgehalten, wo er bald auch Besitzungen erwarb. Als die Grafen 1442 Württemberg unter sich theilten, und Stuttgart sowohl wie Sachsenheim dem jüngeren, Ulrich, zufiel, scheint sich Hermann, der Ludwig näher gestanden hatte, mehr und mehr vom öffentlichen Leben zurückgezogen zu haben; 1446 machte er sein Testament; seit dem Tode des Grafen Ludwig (1450) ist er meines Wissens urkundlich nicht mehr bezeugt. Aber wunderbar! Die ehrenvolle Muße des Hochbetagten erweckt in ihm einen litterarischen Ehrgeiz, zeitigt eine dichterische Fruchtbarkeit, wie sie in diesem Alter wohl beispiellos ist: in weniger als einem Decennium drängt sich das poetische Schaffen des achtzigjährigen Novizen zusammen. Auch als Dichter dient er dem Hause seines verstorbenen Herren: Ludwig’s Wittwe Mechthild, die inzwischen Herzog Albrecht von Oestreich geheirathet und in Rotenburg am Neckar ihre Residenz hatte, die berühmte „Liebhaberin aller Künste“ ist es zumeist, für die er dichtet. Aus seiner rastlosen Thätigkeit ruft den mehr als neunzigjährigen Greis der Tod am 29. Mai 1458 ab; er wurde in der Stiftskirche zu Stuttgart begraben; seine Grabschrift hatte er längst selbst verfaßt. Von seinen Söhnen hat der zweite, Hermann von Sachsenheim, um die Wende des Jahrhunderts das hohe Amt eines herzoglich württembergischen Landhofmeisters bekleidet.

[148] Hermann von Sachsenheim hat ein merkwürdiges Seitenstück an Jakob Pütrich (A. D. B. XXVI, 744); ähnliche Verhältnisse schaffen eben ähnliche Männer. Beide sind vornehme und angesehene Beamte, die das öffentliche und private Leben ihrer Zeit von Grund aus kennen; aber beide gehen darin nicht auf; ohne Sentimentalität, aber doch mit warmem Interesse weilen die Gedanken ihrer Muße in der guten alten Zeit des blühenden Ritterthums mit seinen Waffenthaten und seinem Minnedienst, und dies Interesse wächst mit den Jahren; im Alter, ja im hohen Alter bricht die Schwärmerei der Feierstunden beherrschend durch. Beide verehren in Wolfram, dem sie beide natürlich auch den Titurel zuschreiben, das Muster der wahren Dichtkunst. Und beide bringen, auch das nicht zufällig, ihre poetischen Huldigungen derselben hohen Frau dar, der Baier mit naiver Zutraulichkeit, der Schwabe in respectvoller Zurückhaltung; auch darin sind sie sich gleich, daß sie aus der Ferne den Unterschied zwischen Mechthild’s moderner Richtung und ihren eignen altfränkischen Liebhabereien nicht zu fassen vermögen.

Und doch trennt eine tiefe Kluft die beiden verwandten Naturen. H. wird immerhin weit mehr von der Gegenwart beherrscht als Pütrich. Dieser ist im Grunde doch eben nur Liebhaber, Büchernarr, Sammler und Leser; H. ist höchst productiv, voll Schaffenslust und -kraft, seinem Vorbilde Wolfram in manchem congenial. Voran in einem. H. ist ein begabter realistischer Humorist gleich Wolfram; er übt fröhliche Selbstironie, lacht über sich selbst, wie er auf hinkendem Maultier als klappriger Greis zum Turnier fährt; er wendet burleske Bilder, wie sie das Volk liebt, unbefangen in ernsthafter Erzählung an, vergleicht z. B. einen vorsichtigen Herrn, der ängstlich wattirt und bandagirt zum Turnier reitet, einer Fliege, die in den Brei gefallen ist; er gießt seinen Allegorien Blut in die Adern dadurch, daß er ihr Thun und Treiben durch allerlei schwäbische Localscherze und Zeitanspielungen, Sprüchwörter, Thierfabeln, Anklänge ans Volkslied, parodirte kirchliche Hymnen belebt und erläutert; ihm glücken gelegentlich Nebenfiguren von derber Handgreiflichkeit; das Leben seiner Zeit pulsirt fühlbar in seinen Versen. All’ das wirkt ja ganz anders in der breiten selbstgefälligen Plattheit der Hermann’schen Erzählung, als in der leidenschaftlichen Energie Wolfram’scher Darstellung: aber wir spüren doch einen Hauch verwandten Geistes. Und damit ists nicht abgethan. Von Wolfram hat Hermann seine beiden Hauptpersonen, Frau Minne und Frau Aventiure, die freilich in seiner breiten Ausführung ein ganz ander Gesicht bekommen; aus Wolfram’s Belakane und Kundrie ist Hermann’s Möhrin Brünhild zusammengewachsen; Duldung und Achtung vor Andersgläubigen hat H. von Wolfram gelernt, aber bezeichnend genug nur vor den Heiden: auf Juden und Ketzer erstreckt sich diese angelernte Toleranz nicht. Er citirt Wolfram auf Schritt und Tritt, früher mehr den Parzival und Willehalm, später mehr den (jüngern) Titurel: alle andern mhd. Dichtungen werden zusammen nicht halb so oft von dem belesenen Manne erwähnt. Und wolframisch war es auch, wie Hermann’s Zeit Wolfram auffaßte, wenn der gebildete Dichter seine theologische und profane Wissenschaft nicht unter den Scheffel stellt, wenn er Heiligenlegenden und Physiologus, die Philosophen Jesus und Plato, Heldensage und moderne Reisebeschreibung zum Schmucke seiner Gedichte unterschiedslos heranzieht, wenn er, der schwerlich weit über Schwabens Grenzen herausgesehen hat, mit seiner geographischen Kenntniß der gesammten Culturwelt vom Cap Finisterrä bis nach Schivelbein prunkt.

Durch gute äußere Zeugnisse sind als Werke Hermann’s erwiesen die Möhrin, der er mit Recht in erster Reihe seinen Dichterruhm dankt, ferner die Grasmetze, seine Grabschrift und der goldne Tempel. Innere Gründe sichern ihm außerdem das Abenteuer vom Spiegel, die Mähre vom Schleiertüchlein und die strophische Dichtung vom Arzte Jesus. Was man ihm bisher sonst hat beilegen wollen, [149] z. B. eine der vielen Traumerzählungen der Zeit, gehört ihm sicher nicht: doch ist nicht auszuschließen, daß ein glücklicher Finder unter den zahlreichen herrenlosen Allegorien des 15. Jahrhunderts noch das eine oder das andere Machwerk Hermann’s aufstöbere. Zweifel an seiner Verfasserschaft werden kaum möglich sein: er wiederholt sich, ein sparsamer Haushalter, so massenhaft in Erfindung, Bildern, Scherzen und Anspielungen, daß er nicht zu verkennen ist. Solche Wiederholungen ermöglichen im Bunde mit der Eigenheit seines Versbaus und mit ausdrücklichen Angaben und Beziehungen auch eine annähernd zuverlässige Chronologie seiner Dichtungen.

H. lehnte sich in seinem Versbau an die gute Technik seiner mhd. Vorbilder an: in Betonung, Reim und Rhythmus ist er für seine Zeit bemerkenswerth sauber, und die Kunst der Reimbrechung übt er mit einer übertriebenen Regelmäßigkeit, die eintönig wirkt. Jesus der Arzt besteht aus zehnzeiligen Strophen; im übrigen sind Hermann’s sämmtliche Dichtungen in Reimpaaren verfaßt: daß am Schluß, auch vor großen Absätzen vereinzelt Dreireim eintritt, hat er von Wirnt und seiner Schule übernommen. Nun fand H. aber bei Wolfram gemischt dreihebige Verse mit klingendem und vierhebige mit stumpfem Reim. Das 15. Jahrhundert gestattete diese Versmischung nicht; H. mußte sich entscheiden, ob er 3 oder 4 Hebungen wählen wollte. Er beginnt mit 4 Hebungen, aber er beschränkt sich, der mhd. Technik treu, fast ausschließlich auf stumpfe Reime. Die Grasmetze zeigt noch Unsicherheit, hat neben 4hebig stumpfen nicht selten drei- und vierhebig klingende Reimpaare; in der Möhrin betragen die zweisilbigen Ausgänge etwa ein halb Procent; in Jesus dem Arzt, der Grabschrift und der Wappenbeschreibung, die dem goldnen Tempel eingefügt ist, fehlen sie ganz. Aber auf die Dauer behagt H. das eintönige Klappern der achtsilbigen stumpfen Verse nicht mehr. Er wechselt, geht zu dreihebigen Versen über. Ganz consequent bevorzugt er jetzt im Princip klingende Ausgänge. Man merkt, wie er in den Erstlingen der neuen Technik, dem Spiegel und dem goldnen Tempel, anfangs nach möglichst viel zweisilbigen Reimen sucht; aber schon innerhalb dieser Gedichte läßt gegen Ende der Eifer nach, die gewohnten stumpfen Reime überwiegen mehr und mehr. Anderseits laufen in denselben Werken zunächst zahlreiche vierhebige Zeilen gewohnheitsmäßig mit unter: erst im Fortgang der Arbeit festigt sich die neue Art. Sie ist gefestigt im Schleiertüchlein: die dreihebigen Reimpaare sind ohne Ausnahme; aber um klingende Reime bemüht sich der Dichter nicht mehr: mehr als 4/5 aller Verse schließen stumpf.

Von Jugenddichtungen Hermann’s wissen wir nichts: wenn er im Spiegel 181, 27 erzählt, er habe als junger Knab in Frau Venus Dienst die 1eichenny geschrieben, so ist das wenigstens nicht deutlich. Die rohe Erzählung von der Grasmetze, auf die er in der Möhrin anspielt, hat er erst als alter Mann verfaßt. Ein unschönes parodisches Motiv des absterbenden Minnesangs wird hier schmutzig breit getreten: unglückliche Werbung des höfisch gebildeten Ritters um eine niedre Dirne, die seine hochtrabenden minniglichen Liebesphrasen mit pöbelhaften Schmähreden beantwortet. Ein ähnliches Thema war schon vor H. in Reimpaaren behandelt worden, in der Erzählung von eime gewerbe eins und einer (Meyer und Mooyer, Altd. Dichtgn. 44 fgg.), wo die spröde Dame allerdings keine Dorfmagd ist: vielleicht kannte H. den Dialog. Aus eignem Besitz vergröbert er das überkommne Motiv noch dadurch, daß er sich, den Werbenden, als alt und impotent schildert und die Werbung in einen Nothzuchtversuch gegen die schimpfende Grasmetze auslaufen läßt, der an der Unfähigkeit des Alters scheitert. Nicht einmal diese Selbstverspottung war Hermann’s selbständige Erfindung: schon der Schulmeister von Eßlingen hatte sich ähnlich [150] zur Belustigung des verehrlichen Publicums Preis gegeben. Trotz alledem fand das häßliche Gedicht Beifall: Folz, dem freilich kein Stoff zu ekel war, hat es nachgeahmt (Zeitschrift f. deutsches Alterthum 8, 510): aber selbst er nahm an dem greisen Liebhaber Anstoß und ersetzte ihn durch einen jungen Gesellen.

Eine merkwürdige Verirrung, diese Grasmetze, merkwürdig zumal im Vergleich mit den späteren Arbeiten Hermann’s. Aber doch nicht ganz unverständlich. Der alte Herr hat in seinen alten Tagen doch noch etwas von Entwickelung durchgemacht. Von der Grasmetze zum Schleier hat er in großen Schritten den Weg von der frechen Parodie bis zum heiligsten Minneernst durchmessen; der Lebemann, der in der Grasmetze sich würdelos prostituirt, der noch in der Möhrin allerlei tolle Streiche nicht ungern zugibt, und der gefühlsselige schwärmende Held des Schleiers sind starke Gegensätze: aber die verschiedene Mischung dieser Elemente charakterisirt eben die Dichtungen Hermann’s, der sich auch darin als Kind einer Uebergangszeit bewährt; er ist nie ein weltverlorner Don Quixote, aber die umgebende Wirklichkeit ist ihm auch nirgend Alles. Jene Mischung ist in dem Graukopf der Grasmetze unerfreulich, roh komisch, aber sie fehlt nicht; sie ist am glücklichsten getroffen in Hermann’s bestem und größtem Werk, in der Möhrin.

Die Möhrin wurde im Jahre 1453, drei Jahre nach dem Jubiläum unter Papst Nikolaus, gedichtet und der Herzogin Mechthild, wie ihrem Bruder Friedrich von der Pfalz gewidmet. Es liegt ein leiser, nirgend aufdringlicher Hauch von Ironie über dem Gedichte. Es ist keine Parodie, aber es hat parodische Strecken und Figuren; gleich die Titelheldin, das rabiate Mannweib Brünhild, das sich sagen lassen muß, aus ihr rede der Wein, ist eine komische Charge, und nicht eine der handelnden Personen ist ohne humoristischen Beigeschmack. Wir wissen nicht immer, wo es dem Dichter Ernst ist, wo Spaß. Der übliche Natureingang beginnt die Möhrin wie den Spiegel und den Schleier: derselbe Fußsteig führt in allen dreien den spazierenden Dichter durch eine tiefe Klinge an ein Wasser. Von da wird er in der Möhrin durch Zauberei in den Venusberg, ins Reich der Frau Minne, versetzt, die ihm den Proceß machen will, weil er viel Minnessünden auf dem Gewissen habe. Das Proceßverfahren wird mit der Gründlichkeit des kundigen Juristen entwickelt, und uns nichts geschenkt. Als Anklägerin fungirt jene tolle Möhrin, deren Anklageschrift allerlei amüsante Treulosigkeit Hermann’s registrirt; als schlauer Anwalt Hermann’s der treue Eckart. An der Spitze des Richtercollegs steht eine höchst drollige Figur, König Tannhäuser, ein Ritter aus Frankenland, der Gatte der Frau Venus, ein bequemer Herr, der vor seiner Frau heilige Angst hat, lieber dinirt als Gericht hält und im Turnier auf den ersten Stich in den Sand rollt: man glaubt hier, wo zum ersten Male die Venusbergsage mit ihrem ganzen Apparat erscheint, im Tannhäuser die lustige Physiognomie des fahrenden Vaganten noch durchzuwittern; keine Spur von dem gottverlassnen verzweifelten Sünder des Volkslieds. – Die Stimmen der Richter spalten sich; der König, der vor seiner Frau zittert, fällt die Entscheidung zu Hermann’s Ungunsten: dieser aber schilt das Urtheil, weniger weil er unschuldig als weil er ein freier Schwabe sei, der die Competenz dieses Gerichts nicht anerkennt; er appellirt an eine höhere Instanz, an die Kaiserin Abenteuer, in deren langes Haar sich alle Welt verflicht. Die Berufung rettet ihn. König Tannhäuser hat Angst vor der kostspieligen und gefährlichen Seefahrt an den kaiserlichen Hof; aber auch der Venus Zorn verraucht, und H. kommt mit blauem Auge davon. Diese behaglich ausgesponnene Haupthandlung durchbrechen zahlreiche Episoden: es wird unaufhörlich gegessen und getrunken; der Großhofmeister der Frau Minne führt mit H. ein satirisches Gespräch über deutsche Zustände; ein komisches Turnier spielt sich ab; vor allem treten Religionsgespräche [151] in den Vordergrund: daß H. und der treue Eckart nicht an Mahomed und Apollo glauben, wie Venus und ihr Hof, daß sie trotz Drohung und gütlicher Zurede an Maria und ihrem Sohn festhalten, das wird ein zweites ernsthafteres Motiv für die Anklage, das immer wieder herein spielt und dem Helden die Sympathie der Leser sicherte, die etwa an seinen schweigend eingeräumten minniglichen Schandthaten Anstoß nahmen. Die gute Laune, das nüchterne Behagen, mit dem das alles redselig erzählt wird, umschifft die Klippen, an denen sonst allegorisirende Dichtungen leicht scheitern, mit Glück: ein geduldigeres Jahrhundert als das unsre wird sich bei Hermann’s Versen nicht gelangweilt haben. Was die Moral betrifft, so wird der Ernst des Glaubens, den der Dichter um dieselbe Zeit auch in dem kurzen Lied von Jesus dem Arzt zum Ausdruck brachte, überzeugender gewirkt haben als der Ernst seiner Minne.

Im Spiegel ist H. bereits im unverkennbarsten Abstieg begriffen. Ein bloßer Abklatsch der Möhrin, nur viel tugendhafter und öder. Auch hier ein Proceß: die zornige Gerichtsherrin ist jetzt wirklich Frau Abenteuer, die gar mit der Vehme droht; die Richter sind 6 Personificationen, voran Frau Ehre und Frau Treue. Auch hier eine Minneschuld des Dichters; aber er ist bereits viel zu correct, um über diese Schuld leichtfertig hinzugehn, sie ist die Wirkung eines Zauberspiegels, der ihn zum Sklaven einer Buhlerin macht; Lectüre eines Minnebuches heilt ihn und es bleibt bei der Gedankensünde. Auch hier spalten sich die Meinungen der Richterinnen, fallen aber unbedingt auf Hermann’s Seite; ein hilfreicher Greif trägt ihn nach Hause und gibt ihm bei der Fahrt Gelegenheit zu einem geographischen Excurs aus der Vogelperspective. Der Humor, die leichte Lebensauffassung ist vollständig auf dem Rückzug; als Frau Minne dem Dichter ein paar leichtfertige Rathschläge gibt, hüllt er sich in Entrüstung; auch die Selbstironie, die noch immer nicht ganz fehlt, ist zahm geworden: die Treue wirft ihm vor, er habe behauptet, 30 Elephanten voll Treue zu besitzen, und bei der Probe stelle sich heraus, daß man ihm nicht eine Hummel am Faden vertrauen kann. Der Spiegel ist sicher nach dem August 1452, kaum weniger sicher nach der Möhrin verfaßt, und wie diese Mechthild gewidmet.

Der goldne Tempel, der nach seiner metrischen Technik etwa gleichzeitig sein muß und dessen Entstehungsjahr 1455 feststeht, ist eine höchst unglückliche Nachahmung der goldnen Schmiede Konrad’s von Würzburg, den H. ausdrücklich citirt. Er will ihn wol überbieten, wenn er zu Maria’s Lobe einen ganzen Tempelbau errichtet, zu dieser Einkleidung etwa durch den Graltempel im Titurel angeregt. Aber der Schwung seiner Phantasie ist viel zu matt; er ist völlig unfähig, seine Sprache auf der würdigen Höhe begeisterter oder auch nur edler Rede zu halten: so regnet es platte Bilder: Maria muß sich Cisterne der Güte, wahres Recept aller Arznei nennen lassen, wird vom Dichter angefleht, ihm den Pinsel zu spitzen und die Palette zu reinigen. Das Bild des Tempels, dessen Mauern die Elemente, dessen Thürme die Monate sind, wird ohne jeden innern Zusammenhang mit allerlei gelehrtem Plunder aufgeputzt; schließlich wurde dem Dichter das thörichte Gerede selbst zuwider, und er bricht ziemlich willkürlich ab. Das vernünftigste ist noch die Schilderung eines Umhangs mit Darstellungen aus dem alten Testament, ein bekanntes Motiv der mhd. Kunstepik.

„Das Schleiertüchlein“, Hermann’s letzte Arbeit, behandelt wieder einen profanen Stoff, aber im höchsten Ernst, ohne jeden humoristischen Zug. Macht und Leid der Minne singt der Dichter: er erzählt, wie er durch guten Trost einen Liebenden dem Leben wiedergibt, dem der Tod während einer Kreuzfahrt die Geliebte geraubt hat. Seinen Namen hat das Gedicht von einem mit Herzblut getränkten Schleier der Dame, den der Kreuzfahrer als Talisman mit [152] sich geführt und als wirksam erprobt hat. Aber nur Anfang und Ende gehört dem Pathos des Liebeskummers: den Kern und den größten Theil des Gedichts bildet die ausführliche Beschreibung einer Reise nach dem heiligen Lande, ganz ruhig, sachlich gehalten und mit Details ausgestattet, die es mir zweifellos machen, daß H. hier den mündlichen Bericht eines Mitreisenden getreulich nacherzählt: nur die kleinen geographischen Schnitzer und wenige Einzelheiten kommen auf Hermann’s Rechnung. Der gesunde, dem Leben offene Sinn des Dichters sträubt sich noch dicht vor dem Erlöschen, unterzugehn im uferlosen Meere des Minnejammers: so baut er eine Episode, die realistischer Behandlung fähig war, zur Hauptsache aus, nicht zum Schaden der Dichtung: denn das tragische Pathos des Liebesleids ist H. genau so versagt, wie der jubelnde Schwung der Hymne.

Von irgend welcher bleibenden Wirkung der Sachsenheim’schen Dichtungen kann natürlich keine Rede sein. Er hat der absterbenden Gattung der Minneallegorien durch eine tüchtige Dosis Humor das Leben gefristet: wenn aber sein Recept bei ihm selbst so wenig verschlug, daß ers bei einem muthigen Versuch ließ, wie sollte es andere zur Nachahmung reizen? Immerhin hat das Publicum mit gutem Takt herausgefunden, wo H. am schöpferischsten war. Die Möhrin ward viel gelesen, seit 1512 auch mehrmals gedruckt und illustrirt. Ihr dankt es H., daß er bis ins 18. Jahrhundert nicht ganz verschollen ist. Das 16. las ihn noch, ihm war die humoristische Allegorie dieser Art noch ganz verständlich; das 17. und 18. las ihn nicht mehr, aber es nannte Hermann von Sachsenhausen oder Sachsen, wenn es von den großen Dichtern der Vergangenheit sprach. Seinem Ansehen ist es kaum zuträglich gewesen, daß wir ihn jetzt wieder besser kennen.

Die Möhrin, der goldne Tempel, Jesus der Arzt ist mit trefflicher Einleitung herausgegeben von E. Martin im 137. Bande der Bibliothek des Stuttgarter litterar. Vereins, Tübingen 1878; der Spiegel und das Schleiertüchlein von Holland und Keller ebda. Bd. 21, S. 129–255 (hinter den Dichtungen Meister Altschwerts); die Grabschrift und die Grasmetze von Haltaus im Liederbuch der Clara Hätzlerin, Quedlinburg 1840, S. 278 fgg., leider nach einer sehr schlechten Handschrift. – Goedeke, Germ. I, 361. – Uhland, Schriften z. Dichtung und Sage II, 219 fgg.