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Artikel „Halberstadt, Wilhelmine“ von Ernst Kelchner in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 10 (1879), S. 401–403, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Halberstadt,_Wilhelmine&oldid=- (Version vom 15. November 2024, 06:17 Uhr UTC)
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Band 10 (1879), S. 401–403 (Quelle).
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Halberstadt: Wilhelmine H., wurde am 24. Januar 1776 zu Corbach geboren und starb am 11. März 1841 zu Cassel. Ihr Vater, als Sohn eines reichen Mannes geboren, erfuhr sehr harte Schicksale, zu denen ihn seine Jugend nicht vorbereitet hatte. Er durchreiste früh Europa, ging nach Amerika, wo es ihm so sehr gefiel, daß er sich dort ankaufte, allein seine Sehnsucht nach dem Vaterlande ließ ihn zurückkehren. Auf seiner Rückreise kam er nach Corbach, wo er sich in eine schöne Frau verliebte, die er zufällig in der Kirche sah. Sie war die Wittwe eines Forstmeisters von und zu Gelnhausen und kinderlos. Er vermählte sich mit ihr und lebte anfangs in glücklicher Ehe. Beide Theile besaßen recht beträchtliches Vermögen. Aber als der Vormund von Wilhelminens Vater, der sich unter nichtigen Vorwänden der Rechnungsablage entzogen hatte, sich, als Staatsverbrecher verhaftet, im Gefängniß entleibte, stellte sich heraus, daß das Vermögen von über 80,000 Thaler auf kaum 5000 Thaler zusammengeschmolzen war. Der Vater, namentlich durch die Verzweiflung der Mutter bewogen, verließ seine Familie und schiffte sich nach Amerika ein, um seine dortigen Besitzungen zu verkaufen. Aber die Seinen sahen ihn nicht wieder; er litt Schiffbruch; die Familie hat nie eine zuverlässige Nachricht über seinen Tod erlangen können. Die Mutter lebte nun mit ihren Kindern in den dürftigsten Verhältnissen. Noth und die Ungerechtigkeit der Menschen weckten Wilhelminens kühnen Genius; eifrig ergriff sie jede Gelegenheit, sich zu bilden. Das Lesen lernte sie früh, fast von selbst und mit geringer Beihilfe begann sie das Studium der französischen Sprache in dem Buche: „L’imitation de Jésus Christ“. Ihr Talent zur Schriftstellerin zeigte sich sehr frühe, zugleich mit Mimik und Declamationsgabe. Sie bildete sich zur Erzieherin aus, um ihrer Mutter als Stütze zu dienen und in der That blieb sie 18 Jahre hindurch die einzige Stütze der nun von Mitteln gänzlich entblößten Mutter. Im J. 1806 war Wilhelmine [402] Erzieherin in Lübeck im Hause des sehr geachteten Bürgermeisters Tesdorph. Hier durchlebte sie die ganze damalige Schreckenszeit Lübecks. Im August 1812 kehrte sie nach langer Trennung zu ihrer Mutter zurück nach Trier, um ein Erziehungsinstitut zu gründen. Durch ihr im J. 1808 in Hamburg erschienenes Werk „Ueber Würde und Bestimmung der Frauen“ war Wilhelmine den Bewohnern Triers bekannt geworden. Sie hatte anfangs mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen und nur durch die kräftige Unterstützung des Bischofs und der katholischen Geistlichkeit gelang der vielleicht einzigen Protestantin in Trier, ihr Unternehmen durchzusetzen. Sie lebte hier zufrieden und thätig, doch wurde bald durch den Tod ihrer Mutter ihr Glück getrübt. Um jene Zeit verlobte sie sich mit dem damals schon bekannten Schriftsteller Karl Borbstädt, der geistig mit ihren Ideen verwandt, eine tiefe Sehnsucht für das Wohl der Menschheit zu wirken, empfand und von reiner Sittlichkeit, inniger Religiosität und feinster Bildung war. Die Lebenspläne der Verlobten vereinigten sich in dem Wunsche, ein großes Institut zu errichten, aber dieser Wunsch sollte sich nicht verwirklichen, denn Karl Borbstädt, früher Steuerrath und im russischen Kriege mit dem Vertrauen des Staatskanzlers, Fürsten Hardenberg, beehrt, ging, seine dienstlichen Verhältnisse zu ordnen, nach Berlin und kehrte nicht wieder zurück. Es ereilte ihn dort der Tod. Wilhelminens Schmerz war grenzenlos, doch suchte sie denselben durch ihr pädagogisches Wirken zu mäßigen und zu lindern. Die Hungersnoth des J. 1817, die in der Rheinprovinz besonders drückend war, verminderte ihre Einnahmen; auch der Streit zwischen Katholicismus und Protestantismus, der mit jedem Tage heftiger ward, wirkte ungünstig auf ihr Institut. So entschloß sie sich im J. 1822 dasselbe zu schließen, indem sie ihr Wirken auf den Privatunterricht in einigen befreundeten Familien beschränkte. Die Frucht ihrer bis dahin gemachten pädagogischen Erfahrungen legte sie in dem Werke: „Gemälde häuslicher Glückseligkeit“, 4 Bde., nieder, welches Buch von vielen Seiten Anerkennung fand. Sie sandte ein Exemplar an Kaiser Alexander von Rußland, der ihr als Anerkennung eine bedeutende Summe übersandte. Auch der König Friedrich Wilhelm von Preußen forderte von dem Magistrate der Stadt Trier Bericht über ihr Wirken und ihre Leistungen, sowie über die Art, wie man sie belohnen könne. Als Wilhelmine erfuhr, daß man ihr eine Pension als Belohnung geben wollte, richtete sie ein Schreiben an den König, worin sie bat, man möge ihr statt der Pension die Erlaubniß ertheilen, ihren Wirkungskreis auf einige Waisenhäuser auszudehnen. Sie wollte die meistbefähigten Mädchen darin zu Erzieherinnen für Volksschulen ausbilden, da es nöthig sei, daß jene aus dem Volke unmittelbar hervorgingen, da sich die Töchter höherer Stände nicht dazu eigneten. Diese Ansichten wurden gewürdigt und der Minister von Altenstein gab den Oberpräsidenten v. Ingersleben und v. Vincke den Wunsch zu erkennen, daß ihre Bitte zu berücksichtigen sei. Sie konnte jedoch der damaligen Religionsstreitigkeiten wegen in der Rheinprovinz ihren Plan nicht zur Ausführung bringen, verließ deshalb Trier, um sich nach Berlin zu begeben. In Cassel fand sie Gelegenheit, ihre erworbenen Kenntnisse und Erfahrungen zu verwerthen und so wurde der Entschluß bei ihr reif, in Cassel ein Erziehungsinstitut zu errichten, nachdem sie ein Jahr hindurch ohne bestimmten Wirkungskreis daselbst gelebt hatte, doch besorgte sie während dieser Zeit die zweite Auflage ihres Werkes: „Ueber Würde und Bestimmung des Weibes, jungen Frauenzimmern gewidmet“, auch gab sie in demselben Jahre heraus: „Schulbuch, als erste Uebung im Lesen und Denken, nach der Lautmethode. Ein Geschenk für fleißige Kinder.“ Diese beiden Bücher fanden vielfache Anerkennung; ersteres wurde auch ins Französische übersetzt. Hierauf gründete sie eine Erziehungsanstalt für Töchter höherer Stände, welche bald über 100 Schülerinnen aufzuweisen hatte und sich trefflich entwickelte. Im J. 1832 sammelte sie die [403] Mittel zu einer Freischule für arme Mädchen, und als die Zahl dieser armen Kinder sich immer mehr vermehrte, unternahm sie auf eigene Kosten den Bau zweier Häuser für ihre beiden Institute. Dadurch entstand der Name: „Halberstädt’sche Freischule.“ Um den Fond für ihre Stiftung noch zu erhöhen, gab sie seit 1835 ein Journal in monatlichen Heften in deutscher, französischer, englischer und italienischer Sprache heraus, welches sie „Ehrentempel europäischer Classiker“ nannte. Sie hatte die Freude ihre Stiftung die herrlichsten Blüthen treiben zu sehen. Es wurden durch Wilhelmine H. tausende von Kindern für das Leben gebildet, bekleidet, genährt und unterrichtet. Seit H. A. Francke’s Stiftung zu Halle im 18. Jahrhundert wurde nichts Aehnliches gesehen, daher wird ihr Andenken stets in Segen bleiben.

Vgl. Neuer Nekrolog der Deutschen 1841. I. S. 323 ff.