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Artikel „Hänel, Gustav“ von Albert Hänel, Ernst Landsberg in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 49 (1904), S. 751–755, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:H%C3%A4nel,_Gustav&oldid=- (Version vom 21. November 2024, 18:44 Uhr UTC)
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Hänel: Gustav Friedrich H. ist in Leipzig am 5. October 1792 geboren. Seine Familie, die Hänel von Chronenthal, stammte aus Steier an der Enns in Oberösterreich; sie waren in der Verfolgung der Protestanten während des 30jährigen Krieges nach Sachsen vertrieben. Sein Vater war Großkaufmann in Leipzig und ein hoch angesehenes Mitglied des Magistrates. Er bestimmte seine zwei älteren Söhne zur Fortführung des Seidengeschäftes, [752] die zwei jüngeren den wissenschaftlichen Berufen. Der jüngste von den „gelehrten Brüdern“, Albert, starb bereits 1833 als Professor der Medicin zum tiefsten, nie verwundenen Schmerze des ältern Gustav, der selbst körperlich gebrechlich war und auch geistig sich spät und mühsam entwickelte. Dieser studirte nach durchlaufener herkömmlicher Vorbildung in Leipzig und Göttingen die Rechtswissenschaft. Dort war es Haubold, hier Hugo, die ersten Häupter der historischen Schule, unter deren Einfluß und Leitung sich das Interesse Hänel’s auf die historischen Grundlagen des römischen Rechtes lenkte. Ihre Methode der historischen Entwicklung eines Institutes, ihre Behandlung der Quellen und Litteratur beherrschten die erste wissenschaftliche Arbeit Hänel’s, die zwei Dissertationen „De testamento militari“. Auf Grund derselben promovirte er an der Universität Leipzig am 18. April 1816.

In demselben Jahre 1815, in dem H. die erste dieser beiden Dissertationen dem damaligen Herkommen gemäß öffentlich vertheidigte, erschienen die zwei ersten Bände von Savigny’s Geschichte des römischen Rechtes im Mittelalter. Aus ihrem Studium entsprang ihm der Plan, der sein langes Leben ausfüllen sollte, die vorjustinianischen Rechtsquellen und die Bearbeitungen derselben auf germanischem Boden zu durchforschen und ihre Ausgaben nach den verschärften Anforderungen der philologischen Kritik zu bewerkstelligen.

Hierauf bereitete sich H. vor während der fünf Jahre, in denen er als Repetent und Docent an der Universität Leipzig fungirte, um alsdann, unmittelbar nachdem er 1821 zum außerordentlichen Professor ernannt worden war, sieben lange Jahre in Italien, der Schweiz, Frankreich, Spanien, Portugal, England und den Niederlanden die Bibliotheken und Archive, die Antiquariate und Privatsammlungen nach den handschriftlichen Schätzen zu durchsuchen, die seinem Plane dienten oder ihn doch berührten. Mit der das Kleinste nicht übersehenden Pünktlichkeit, mit dem staunenswerthesten Fleiße hat er hier den Grundstock des umfassenden Materials gesammelt, das, wenn auch später noch mannichfach ergänzt, seine Veröffentlichungen verarbeiteten. Die „Catalogi librorum manuscriptorum qui in bibliothecis Galliae etc. asservantur“, die alsbald nach seiner Wiederkehr 1829 erschienen, waren sein wissenschaftlicher Reisebericht.

An diese Rückkehr schlossen sich volle fünfzig Jahre einer deutschen Gelehrtenlaufbahn, die die alte Reiselust, die sich sonst nur in Ferienreisen bethätigte, noch einmal durchbrach, als er, schon im späten Lebensalter stehend, den Orient und insbesondere Palästina durchwanderte. Im Jahre 1838 wurde H. zum ordentlichen Professor der Litterargeschichte und Quellenkunde des römischen Rechtes ernannt. Mit pflichtgetreuer Liebe hat er seines Lehramtes gewaltet. Seine Vorlesungen befaßten Institutionen, Pandekten und Quellengeschichte des römischen Rechtes. Er befolgte dabei die damals herrschende, nur bei überwiegendem, nahezu ausschließlichem Dictat durchführbare Methode, seinen Hörern ein vollständiges Compendium zu geben, das er unter Zuhülfenahme zahlreicher Druckbogen mit reichhaltigem Quellenmaterial und litterarischen Nachweisungen ausstattete. Als ein Verlust darf es noch heute bezeichnet werden, daß er sich trotz vielfachen Aufforderungen nicht dazu entschließen konnte, seine Vorlesungen über Quellengeschichte zu veröffentlichen, die in einer weit über die Bedürfnisse der Studenten hinausgehenden Vollständigkeit den handschriftlichen und litterarischen Apparat der vorjustinianischen und justinianischen Rechtsquellen darstellten. Aber wenn er hiermit an seine Zuhörer hoch gegriffene Anforderungen stellte, so wußte er sich doch deren Verehrung und dauernde Anhänglichkeit in reichem Maße zu erwerben.

Mit den Gelehrten seines Faches im Inlande und Auslande stand H. im [753] vielseitigsten, mündlichen und schriftlichen Verkehre; kaum irgend ein Name der Romanisten der historischen Schule fehlte in seiner sorgsam registrirten Correspondenz. H. war Mitglied einer Reihe gelehrter Gesellschaften, insbesondere der Königlich sächsischen Akademie der Wissenschaften, deren Berichte in langer Reihe das „Herr Hänel las“ aufweisen und der Königlichen Akademie der Wissenschaften in Turin. Unterstützt wurde dieser rege wissenschaftliche Verkehr durch einen regen Trieb des Sammelns von Büchern und Handschriften. Seine reichhaltige, für sein Fach nahezu vollständige Bibliothek ist letztwillig der Leipziger Universitätsbibliothek verblieben.

In der juristischen Facultät bekleidete er sechs Mal das Decanat; seit dem Wintersemester 1865/6 war er ihr Senior, als der er 1866 sein 50jähriges und 1876 sein diamantenes Doctorjubiläum feierte. Die Universität wählte ihn zu ihrem Rector und bald darauf für drei aufeinanderfolgende Perioden zu ihrem Vertreter in der ersten Kammer des sächsischen Landtages. H. war kein Politiker in dem Sinne, wie dies durch eine feste Stellungnahme in den Gegensätzen und Kämpfen der Parteien bedingt ist. Nahezu gleichzeitig mit seiner Disputation über die erste Dissertation vom Militärtestament war die Theilung des Königreiches Sachsen erfolgt. Die Generation, die sie erlebte, hat niemals die Empfindung einer harten Ungerechtigkeit gegen ihr Land und gegen die königliche Familie, zu der sie in einem patriarchalischen Treueverhältniß stand, überwunden; für sie, um die tiefe Abneigung gegen Preußen und seine Politik zu mildern, bedurfte es der Aufrichtung des deutschen Kaiserthums; selbst in die constitutionellen Formen der Verfassung von 1831 lebte sie sich schwer ein und ihre Demokratisirung von 1848 stieß sie ab. Allerdings die Octroyirungen des Beust’schen Regimentes verurtheilte der Rechtssinn Hänel’s rückhaltlos. So mochte er seine Rolle in der ersten Kammer wesentlich als eine repräsentative auffassen, die er würdig durchführte und mit einer nützlichen Mitwirkung in Rechtsfragen und in den Arbeiten der Commissionen verband. Insbesondere war er Mitglied der Commission, der 1862 die Schlußredaction des bürgerlichen Gesetzbuches für das Königreich Sachsen überwiesen wurde.

Mit dem Allen ist der Rahmen für ein Leben gegeben, das nicht sowohl das Interesse einer reichen äußeren Bewegung darbietet, wohl aber den vollen Inhalt gewonnen hat, den die in strenger Concentration der Leistungsfähigkeit gethane stille, ununterbrochene, der Zerstreuung unzugängliche Gelehrtenarbeit gewähren kann.

Die Früchte dieser Arbeit sind mit genauester Vollständigkeit aufgezählt in dem Sächsischen Schriftsteller-Lexikon von Dr. theol. Wilh. Haan, Leipzig 1875, S. 117 fg. Von den zahlreichen Decanatsprogrammen und Beiträgen zu den Werken Anderer, ferner von den kleinen Abhandlungen, namentlich über einzelne Handschriften, kleineren Stücken oder Vorarbeiten oder Proben oder Nachträgen seiner größeren Forschungen, kann hier natürlich nicht die Rede sein; vielmehr müssen wir uns auf die immer noch stattliche Reihe seiner umfangreicheren Werke beschränken. Bei ihnen allen handelt es sich um Ausgaben, welche sämmtlich mit rastlosem Fleiße aus Manuscripten und, wo es solche schon gab, älteren Drucken zusammengestellt und mit umfassenden Vorberichten über alle einschlägigen Verhältnisse, kritischen Noten u. s. f. ausgestattet sind.

Offenbar der Anregung durch Savigny’s mittelalterliche Rechtsgeschichte entsprießt die erste dieser Editionen, welche unter dem Titel: „Dissensiones dominorum sive controversiae veterum juris romani interpretum, qui glossatores [754] vocantur“, Leipzig 1834 erschien. Sie bildet noch heute ein wesentliches Hülfsmittel für Jeden, der sich über die geschichtlich so grundlegend gewordenen Methoden und Anschauungen der Glossatoren-Schule orientiren will. – H. aber hat sich alsdann, wie die ganze ältere historische Schule, von diesen mediävistischen Studien im wesentlichen (zu nennen noch etwa die Ausgabe des sog. Ulpianus de edendo, d. h. einer Glossatorenschrift über Prozeßrecht „Incerti auctoris ordi judiciarius“ 1838) abgewandt, um sich nunmehr ausschließlich den eigentlich römischen Rechtsquellen zu widmen. Den Rahmen dafür bot ihm das sog. Bonner Corpus juris Antejustinianei, in dem die leges, d. h. das weitaus größere Stück, ausschließlich von ihm (das jus hauptsächlich von Böcking) gearbeitet sind. Den Reigen eröffnen 1837 die Bruchstücke des Codex Gregorianus und Hermogenianus, soweit sie uns erhalten sind. Daran reiht sich das Monumentalwerk des Codex Theodosianus, 1837 bis 1842: die beste und vollständigste Ausgabe, die wir bis heute (Ende März 1904; das Erscheinen einer noch von Mommsen besorgten steht ja allerdings wol ganz nahe bevor) besitzen, obschon seither aus dem Turiner Palimpsest neue Ausbeute (durch die Krüger’sche Vergleichung, 1879) erschlossen worden ist und obschon des alten Gothofredus Ausgabe daneben ihren Werth behält. Anhänge dazu sind die Sirmondischen Constitutionen und die Sammlung der Novellen nach Theodosius bis auf Anthemius (gestorben 472) von 1844, beide Editionen von Krüger als die besten und brauchbarsten bezeichnet, nebst den zugehörigen Untersuchungen. Nun folgt als selbständiges Unternehmen 1849 die imponirende Leistung der Lex Romana Visigothorum, hergestellt unter Benutzung von 76 Handschriften, unter Aufnahme von 7 epitomirten Gestaltungen (wovon bis dahin nur zwei gedruckt waren) mit Vorwort, Noten, Anhängen u. s. f. Sie ist die erste selbständige Ausgabe seit der alten, kaum als Hülfsmittel dazu verwerthbaren Sichard’schen von 1528 und seither die letzte geblieben, wozu wesentlich nur eine (unverarbeitete) spanische Publication eines dort neu gefundenen Manuscripts hinzugetreten ist. – Daran reiht sich ein „Corpus legum ab imperatoribus ante Justinianum latarum, quae extra Constitutionum codd. supersunt“, Leipzig 1857 (Vgl. darüber Krüger, Gesch. d. Quellen u. Litteratur d. Röm. Rechts, S. 231 Note 21); und endlich der Julian: „Juliani epitome latina novellarum Justiniani“, nach 20 Manuscripten und älteren Ausgaben gearbeitet, 1873, die letzte Großthat dieses Riesenfleißes. Derselbe war um so gewaltiger, als leider H. noch des Glaubens und der wissenschaftlichen Ueberzeugung lebte, alle irgendwie erreichbaren Handschriften und älteren Ausgaben heranziehen, zu Lesarten im Texte ausbeuten und in fortlaufenden kritischen Noten berücksichtigen zu müssen. Da man damals noch allgemein so verfuhr, noch nicht die Spreu vom Weizen zu scheiden gelernt hatte, so kann man wahrlich H. diese seine Abweichung von der fortgeschrittenen Methode jüngerer Philologie, wie sie wohl Mommsen, Krüger u. A. auf die Behandlung juristischer Quellen übertragen haben, nicht zum Vorwurf machen. Bedauerlich mag es ja sein, daß er infolgedessen mit größerer Mühewaltung weniger Vollendetes geleistet hat, als ihm im Besitze der neuen Methoden möglich gewesen wäre; aber ob man in neuerer Zeit sich überhaupt zu solchen Opfern an Arbeit und Kosten, verwandt auf solche lediglich antiquarischen Texte, entschlossen haben würde? Ob sich da ein Mann von der wissenschaftlichen Beharrlichkeit und Arbeitsfreude Hänel’s gefunden haben würde? Dergleichen war eben nur in jener Zeit möglich, als der große Zug der historischen Schule mächtig auf die Gelehrtenwelt wirkte, als die Wissenschaft des Rechts nicht nur um der Praxis zu dienen, sondern um ihrer selbst willen betrieben wurde und das Römische Recht unbedingte Verehrung genoß. [755] In Anlehnung an diese seine Zeit beherrschenden Ideen hatte H. den Entschluß gefaßt, sein Leben ausschließlich in den kritischen Dienst romanistischer Text- und Quellen-Ausgaben zu stellen, dem Neubau der historischen Schule die mühsamsten und verborgensten Dienste, die Substructions-Arbeit, zu liefern. Und diesem Entschlusse ist er von Anfang bis zu Ende, in der Periode seiner Reise- und Sammler-Thätigkeit wie in der späteren, längeren Periode der Verarbeitung und Drucklegung, treu geblieben.

Der Würdigung der wissenschaftlichen Leistungen Hänel’s schließt sich die Würdigung des Menschen demgemäß auf das engste an. Wie in seiner Gelehrsamkeit, so bethätigte er auch in den Verrichtungen und Geschäften des bürgerlichen Lebens seinen Pflichteifer durch strenge Ordnung, pünktliche Genauigkeit und eine Sorgfalt, die auch die Kleinigkeit noch beachtet. Auch in seiner Gelehrsamkeit trat als ein wesentlicher Zug seiner Persönlichkeit die wahrhaftige und doch selbstbewußte Bescheidenheit hervor, mit der er die Beschränkung seiner Veranlagung und seiner Leistung auf ein eng begrenztes Wissenschaftsfeld anerkannte; – wahrhaftig, weil Niemand mehr wie er freudige Anerkennung und Bewunderung den großzügigen historischen Darstellungen oder den dogmatischen Systemen der Koryphäen der historischen Schule oder der jüngern Generation zollte; selbstbewußt, weil seine Ueberzeugung unerschüttert blieb, daß nur seine Arbeitsmethode die unentbehrliche Voraussetzung und Vorstufe für das höhere Verständniß der historischen Entwicklung und der Weltherrschaft des Römischen Rechtes schaffen könne. Und dieser Charakterzug des Gelehrten floß aus einer seltenen Liebenswürdigkeit des Herzens, die sich über seine ganze Lebensführung in ungesuchten Formen verbreitete. Sie befestigte sich in dem ungetrübten Glücke einer spät geschlossenen, kinderlosen Ehe mit einer Frau aus der Predigerfamilie Bernhardi, die ihm ein Schatz an Liebe und Treue und Frohmuth bis an sein Ende verblieb. Sie bethätigte sich in einem ausgeprägten Familiensinn, der den Verwandten jedes Alters und Geschlechtes mit nie versagendem Rath und That zur Seite stand, in der Beständigkeit und Opferwilligkeit seiner Freundschaft, in der Freude an behaglicher Geselligkeit, in natürlichster Leutseligkeit gegen Jedermann. Erst im spätesten Alter machten sich die Gebrechen geltend, die er geduldig sonst, mißmuthig nur darum ertrug, weil sie ihm das versagten, was sein Leben erfüllt hatte – die rastloste Arbeit. Nach vollendetem sechsundachtzigsten Lebensjahre ist er am 18. October 1878 gestorben. Die Universität hat ihm auf dem Johanniskirchhofe in Leipzig ein Denkmal gesetzt.