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Artikel „Castillon, Giovanni Francesco Mauro Melchior Salvemini, genannt“ von Moritz Cantor in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 4 (1876), S. 67–69, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Castillon,_Jean&oldid=- (Version vom 14. November 2024, 01:35 Uhr UTC)
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Castillon: Giovanni Francesco Mauro Melchior Salvemini, nach seinem Geburtsorte genannt Castillioneus, Castilhon, Mathematiker, geb. zu Castiglione im Valdarno di Sopra 15. Jan. 1708, † zu Berlin 11. Oct. 1791. Die Familie der Salvemini war eine alte Patricierfamilie, welche sich bis in das 14. Jahrhundert zurück verfolgen läßt. Auch von mütterlicher Seite stammte C. aus einem edlen Pisaner Geschlecht. Den ersten sorgfältigen Unterricht erhielt er im elterlichen Hause, bezog dann die Universität Pisa, wo er 1729 als Doctor beider Rechte promovirte, ohne jedoch (nach eigener späterer [68] Aussage) von Jurisprudenz etwas zu verstehen; von Mathematik habe er wenigstens wenig gewußt. Atheistische Gesinnungen, welche er späterhin gründlich ablegte, damals jedoch laut zu erkennen gab, brachten ihn in Ungelegenheiten und nöthigten ihn nach der Schweiz zu fliehen. Vielleicht um seinen Lebensunterhalt sich zu erwerben, beschäftigte er sich dort mit Uebersetzungen, z. B. mit der des Pope’schen 1733 erschienenen Essay on man in gleich viele italienische Verse, als das Original englische zählt. Wiewol diese Uebersetzung erst 1760 im Drucke herauskam, verschaffte sie doch schon im Manuscripte C. manche Freunde, welche ihm 1737 zu einer Lehrerstellung in Vevay verhalfen. In Vevay schrieb C. seine beiden ersten mathematischen Aufsätze, welche 1741 und 1742 in den Philosophical Transactions abgedruckt sind, über die Cardiodide, deren Name von ihm herrührt, und über den polynomischen Lehrsatz. Von dort aus, später von Lausanne aus, wohin C. 1745 übersiedelte, leitete er die Uebersetzung und Herausgabe der kleineren Schriften von Newton („Opuscula mathematica Newtoni“, 1744), des Briefwechsels zwischen Leibnitz und Joh. Bernoulli („Leibnitii et Joh. Bernoullii commercium philosophicum et mathematicum“, 1745), der Euler’schen Analysis („Introductio in analysin infinitorum auctore Leonhardo Eulero“, 1748). Die königl. Gesellschaft zu London erwählte ihn darauf zum Mitgliede. Während derselben Zeit bemühte er sich vergebens um eine mathematische Professur in Bern, um eine theologische Professur in Lausanne; die letztere Bewerbung erscheint um so interessanter, als aus ihr hervorgeht, wie weit damals bereits seine religiösen Anschauungen sich geändert hatten. Im Sommer 1751 erhielt C. gleichzeitig zwei Berufungen nach Utrecht und Petersburg, nahm beide bedingungsweise an, in der Absicht endgültig da zuzusagen, von wo die erste Rückantwort einlaufen würde, und trat demgemäß seine Stellung in Utrecht am 9. Decbr. 1751 zunächst erst als Lector der Mathematik und Physik an. Die ordentliche Professur der Philosophie und Mathematik erhielt er erst 1755, nachdem er vorher den dazu nothwendigen Doctorgrad der Philosophie sich erworben hatte. In dieser spätern Anstellung erkennt man die Folgen der Verläumdungen und Anfeindungen, mit welchen man C. als Ausländer verfolgte. Eine Widerlegung der Schrift Rousseau’s über den Ursprung der Ungleichheit der Menschen gab C. 1756 heraus, Uebersetzungen einer italienischen Schrift von Donati, einer englischen von Locke ins Französische 1758. Ein ausführlicher Commentar von ihm zu Newton’s „Arithmetica universalis“ erschien 1761 in Amsterdam. Inzwischen hatte ihn 1753 die Göttinger gelehrte Gesellschaft zum Mitgliede ernannt, deren Beispiel die Harlemer Gesellschaft der Wissenschaft 1762 folgte. 1763 berief Friedrich der Große unmittelbar nach Abschluß des siebenjährigen Krieges C. als Mathematiklehrer am Artilleriecorps nach Berlin, wo er bleibenden Aufenthalt nahm, seit 1764 als Mitglied, seit 1787 als Director der mathematischen Classe der Akademie der Wissenschaften, eine Stellung, in welcher er der unmittelbare Nachfolger Lagrange’s war. Von auswärtigen Akademien wurde er als Mitglied ernannt von Bologna 1768, von Mannheim 1777, von Padua 1784, von Prag 1785. Im November 1787 erlitt C. einen Schlaganfall, von welchem er sich zwar geistig, nicht aber körperlich wieder erholte. Von drei Kindern überlebte ihn nur ein Sohn, Friedrich Adolf Maximilian Gustav, welcher am 26. Januar 1792 die akademische Lobrede auf den verstorbenen Vater hielt. Während Castillon’s Berliner Aufenthalte gab er einige weitere Uebersetzungen ins Französische heraus, worunter die von Philostratos, „Leben des Apollonius von Tyana“, 1774, besonders zu nennen ist. Außerdem verschiedene mathematische Abhandlungen in den damals in französischer Sprache erscheinenden Denkwürdigkeiten der Berliner Akademie. In allen mathematischen Arbeiten Castillon’s gibt sich [69] eine Vorliebe für synthetische Geometrie gegenüber von den analytischen Methohen und eine ziemliche Gewandtheit in Handhabung derselben zu erkennen, vielleicht ebensowol eine Folge, als eine Ursache von Castillon’s eingehender Beschäftigung mit den Werken Newton’s.

Vgl. Mémoires de l’académie royale de Berlin, 1792 und 1793, Histoire de l’académie, p. 38–60.