Über die finnische folkloristische Methode

Textdaten
Autor: Kaarle Krohn
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Titel: Über die finnische folkloristische methode
Untertitel: Antrittsvorlesung am 31. 1. 1909
aus: Finnisch-ugrische Forschungen, 10. Band, S. 33–43
Herausgeber: Kaarle Krohn, Emil Nestor Setälä, Yrjö Wichmann
Auflage:
Entstehungsdatum: 1909
Erscheinungsdatum: 1910
Verlag: Red. der Zeitschrift; Otto Harrassowitz
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Erscheinungsort: Helsingfors; Leipzig
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Quelle: Princeton-USA*, Commons
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Über die finnische folkloristische methode.
Antrittsvorlesung am 31. 1. 1909.

Am 28. august 1908, wo die finnische und vergleichende folkloristik an der finländischen universität zu einem ordentlichen lehrfach erhoben wurde, waren 20 jahre verflossen seit dem tage, wo der eigentliche begründer dieser wissenschaft in Finland, Julius Krohn, in den fluten des Finnischen meerbusens seinen tod fand. Es sei mir aus diesem grund gestattet kurz über die auffindung der forschungsmethode zu sprechen, die, aus der beschäftigung mit den Kalevalaliedern erwachsen und nachmals auf andere gebiete der volkspoesie angewandt, unter dem namen der finnischen methode bekannt ist.

Das Kalevala hatte mein von deutschen eltern geborener und in einer lehranstalt mit schwedischer unterrichtssprache erzogener vater schon auf der schulbank lieben gelernt. Er las grössere stücke davon, als der unterrichtsplan vorschrieb, ja er fertigte sogar ein verzeichnis der in der dichtung vorkommenden unbekannten wörter an, bei deren erklärung er von der schwägerin seiner tante, die aus Nordkarelien gebürtig war, durch mündliche mitteilungen unterstützt wurde. Als student meldete er sich sofort als hörer Lönnrots an, nachdem dieser als professor nach Helsingfors gekommen war. Seine dissertation „Die finnische poesie während der schwedenherrschaft“ 1862 behandelte auch einige lieder der Kanteletar, die sich in Westfinland seit dem mittelalter erhalten hatten. Wir finden hier zwar die alte anschauung von dem karelischen ursprung des Kalevalas, aber schon ist hier nicht mehr von der verneinung der poetischen begabung der tavasten die rede. „In Tavastland sind keine Kalevalalieder mehr angetroffen worden, wenn solche dort überhaupt jemals erklungen sind. Aber diese finländische provinz ist darum inbezug auf den gesang [34] doch keineswegs geringzuschätzen, welcher lieder wie die obenerwähnten [das lied vom bischof Henrik und die Helkalieder] und besonders das zuletzt angeführte [Elinas tod] hervorgebracht hat. Gerade ihre bereits erwähnte gedrungene, kernige diktion war ein sehr wertvoller zug, der den alten karelischen liedern abgeht. Wer weiss, was aus dieser wurzel entsprossen wäre, wenn sie sich in ruhe hätte entwickeln können.“

Als mein vater 1869 in den Erzählungen aus der geschichte Finlands die religion der altfinnen darstellte, bemerkte er: „In diesem kapitel ist der versuch unternommen worden durch vergleichung finnischer und estnischer mythen festzustellen, wie die mythologie der finnen ursprünglich beschaffen gewesen ist.“ Aus dieser zeit hat sich eine handschriftliche skizze einer estnischen mythologie erhalten, die sich allerdings in derselben weise auf das Kalevipoeg-epos stützt wie die darstellung der alten religion der finnen auf das Kalevala. Aber die parallelisierung der in diesen epen vorkommenden mythischen vorstellungen setzt auch eine gleichstellung der estnischen und finnischen Volkslieder voraus.

Die im lesejahr 1874–5 in der Helsingforser frauenakademie gehaltenen vorlesungen über das Kalevala berührten sowohl dessen künstlerischen wert als auch die geschichte seiner entstehung. Nach der auflösung der akademie musste jedoch diese lieblingsarbeit wegen anderer pflichten zurücktreten, sodass nur in den spärlichen ruhepausen darauf zurückgegriffen werden konnte. Erst gegen die 80er jahre, wo die illustrierte zeitschrift Suomen Kuvalehti wegen der geringen abonnentenzahl eingehen musste, vermochte mein vater die aufgabe mit voller kraft in angriff zu nehmen. Die arbeit wurde dann dadurch beschleunigt, dass die bei der 50jahrfeier der Finnischen Literaturgesellschaft erfolgte prämiierung des ersten ästhetischen kapitels des werkes meinen vater zu umgehender fertigstellung und veröffentlichung des ganzen werkes verpflichtete. Aber eine durch überanstrengung herbeigeführte schwere krankheit lähmte seine literarische tätigkeit für zwei jahre, während der er schon daran dachte die wissenschaftliche laufbahn mit einer praktischen zu vertauschen.

Als er dann wieder an die arbeit gehen konnte, schritt dieselbe langsamer fort, als er anfangs geglaubt hatte, sodass [35] das werk erst 1885 vollendet wurde. Die veranlassung zu der verzögerung lag glücklicherweise nicht allein in der langsamen wiederkehr der kräfte, sondern vor allem in der auffindung einer neuen forschungsmethode, die eine erneute gründliche durchmusterung des materials erforderte.

Das erste, was bei der vergleichung der verschiedenen kapitel des Kalevalawerkes Julius Krohns in die augen fällt, ist die freimachung von dem gedruckten Kalevala. In seiner vorrede zu dem 1884 erschienenen zweiten und dritten kapitel, „Die fundorte des Kalevalas“ und „Das Kalevala mit den mythen anderer völker verglichen“, bemerkt er: „Fast alle jetzt in die hände des publikums gelangenden bogen waren schon im jahre 1881 gedruckt. Später bin ich infolge einer als notwendig erkannten änderung der forschungsmethode in mehreren punkten zu anderen schlussfolgerungen gekommen. Besonders habe ich die vorstellung aufgeben müssen, dass alle einzelheiten des gedruckten Kalevala im volksmunde entsprechungen haben, wenigstens in dem zusammenhang, in dem sie im buche auftreten“. Das vierte, die „Entstehung des Kalevalas“ behandelnde kapitel gibt in seinen fussnoten in grossen zügen eine anschauliches bild von dem anteil Lönnrots und der volksdichter am Kalevala. Welche ungeheure arbeit in diesen knappen angaben steckt, sieht man aus den vorbereitenden verzeichnissen, in denen in der reihenfolge des Kalevalas bei jeder stelle der dichtung angemerkt ist, welche entsprechungen sich in den handschriftlichen sammlungen vorgefunden haben.

Davon ist die erforschung der literarischen geschichte des Kalevalas ausgegangen, die in A. R. Niemis werk „Kalevalan kokoonpano I. Runokokous Väinämöisestä“ ein so vorzügliches ergebnis gezeitigt hat. Aber über diesen ersten entwurf des alten Kalevalas sind wir noch nicht hinaus. Für die zusammensetzung des neuen Kalevalas haben die ausführungen meines vaters bis heute als notwendige quelle unsres wissens gedient. Indes sind dieselben vorzugsweise als äussere vorbedingung zur aufhellung der Kalevalafragen auf grundlage der volkslieder von bedeutung.

Am meisten aufsehen erregten seinerzeit die durch Julius Krohn im Kalevala nachgewiesenen fremden entlehnungen. Der gedanke der möglichkeit von entlehnungen war keineswegs [36] neu; schon seit Grimm und Castrén waren einzelne vergleichungen zwischen dem mythenschatz des Kalevalas und dem anderer völker versucht worden. Das von meinem vater gesammelte material gründete sich jedoch auf viel umfassendere und vielseitigere nachforschungen, als man bisher angestellt hatte. Aber die ergebnisse seiner vergleichungen sind im lichte der neuen finnischen und estnischen sammlungen beträchtlich einzuschränken. Die eigentliche bedeutung seiner mühsamen sammelarbeit, wovon zahlreiche annotationen aus der poesie verschiedener völker zeugen, beruht darin, dass dieselbe zeigt, wieviel bei der sichtung einer fülle von möglichen vergleichspunkten an faktischen übereinstimmungen überhaupt bleibt.

Die dritte frage, die seinerzeit die gemüter in spannung hielt, betraf die herkunft des Kalevalas oder, wie man sich damals auszudrücken pflegte, den karelischen ursprung des Kalevalas. In seinem genialen aufsatz: „Wo ist das Kalevala entstanden?“ („Missä Kalevala on syntynyt?“) war A. A. Borenius [Lähteenkorva] 1873 zu dem schluss gelangt, sprachliche und sachliche umstände in den russisch-karelischen liedern bewiesen, dass diese von westen her, aus Finland dorthin gelangt seien. Dieser anschauung verlieh Julius Krohn durch neue nachweise eine weitere stütze. Ausserdem zeigte er, dass die lieder auch auf eine südliche herkunft aus Ingermanland und Estland deuteten. Aber durch diese allgemeinen beweisführungen, gegen die Aug. Ahlqvist noch 1887 ankämpfte, war man nur so weit gekommen, dass das alleinige recht der karelier an unserem liedererbe streitig wurde. Was darin karelisch, was tavastisch, wie man damals sagte, was schliesslich estnisch sei, konnte nur durch eine ins einzelne gehende untersuchung lied für lied festgestellt werden.

Zu dieser detaillierten untersuchung schritt Julius Krohn und dabei fand er seine geographische methode. Er erkannte, dass sich die lieder bei ihrer wanderung von westen nach osten und von süden nach norden in der weise verändert hatten, dass sich die eine fassung aus der anderen in geographischer reihenfolge entwickelte. Auf diesem wege rückwärts gehend, versuchte er für jedes lied die urform und zugleich die heimat zu ermitteln. Zu diesem zweck legte er genaue verzeichnisse von unseren liedersammlungen an, suchte in ihnen [37] sämtliche varianten einunddesselben liedes auf, schrieb von jeder variante kurze inhaltsangaben nieder, wobei er auch ihre fundorte bestimmte, was damals eine höchst mühselige arbeit war, und zerlegte das lied in seine einzelnen züge, schliesslich in einzelne verse, indem er zugleich nachforschte, in welchen buchungen und in welchem umkreis jeder einzelne punkt vorkam. Es ist eine merkwürdige tatsache, dass in der diskussion über den karelischen ursprung des Kalevalas auf keine dieser spezialuntersuchungen eingegangen worden ist, auf die sich doch die schlussfolgerungen meines vaters vorzugsweise gründeten. Ebenso bezeichnend ist, dass in keiner einzigen rezension der versuch gemacht worden ist diese einzelheiten zu berichtigen. Aber die vorstellung von der geographischen entwicklung der liedformen, der durch die ganze beweisführung hindurchging, war damals etwas ungewohntes. Heute dagegen versteht jeder, dass eine noch grössere bedeutung als den unmittelbaren resultaten der arbeit, die sich beim anwachsen des materials stets in einigem grade ändern werden, dieser forschungsmethode zukommt, die aus dem tastenden folkloristischen dilettantismus eine reale wissenschaft gemacht hat und die mit jeder neuen forschergeneration zu immer neuen errungenschaften führen wird.

Auf das gebiet der volksmärchen konnte ich noch zu lebzeiten meines vaters seine geographische methode anwenden, deren tauglichkeit sich nicht nur auf die lieder und das finnische material beschränkt, sondern sich überhaupt auf alle volkstümlichen traditionen erstreckt, die sich von mund zu mund fortpflanzen. Dass diese forschungsmethode in Finland entstand, wo der aus dem volksmund gesammelte stoff reicher und wechselnder als anderwärts und die eventuellen wanderstrassen der lieder in den spärlich besiedelten grenzgegenden wenig zahlreich waren, ist recht natürlich. Aber die geographische forschungsmethode müsste mit der zeit auch anderswo gefunden worden sein. „Auch ohne die finnische forschung wäre sie zum hauptwerkzeug des forschers geworden“, hat der berühmte dänische gelehrte Axel Olrik geäussert und damit den besten beweis für die allgemeine brauchbarkeit dieser methode erbracht.

[38] Wodurch ist nun die finnische forschungsmethode charakterisiert? Dadurch, dass zuerst soweit wie möglich alles erreichbare beweismaterial eines zu untersuchenden themas, alle sog. varianten, genau gesammelt werden? Das erstrebt ja überhaupt jede gewissenhafte forschung. Das hauptgewicht liegt hier auf der konzentrierung des sammelns auf ein bestimmtes geographisches gebiet, in dem man sowohl das vollständigste als das zuverlässigste material gewinnen kann. Meistens ist für den forscher das material des eigenen landes der nächste und natürlichste ausgangspunkt. Dies vermag er, wenn in früheren aufzeichnungen einmal lücken erscheinen, mitunter auch durch reisen und nachfragen zu ergänzen und er dürfte es auch am sichersten auf seine beweiskraft hin beurteilen können. Denn die erste bedingung für das gedeihen folkloristischer forschung ist eine stets wache, die beschaffenheit der quellen anzweifelnde kritik. In dieser beziehung ist es für eine angehende wissenschaft am gebotensten möglichst skeptisch vorzugehen. Die finnische volkspoesie ist für die forschung dadurch ein günstiges feld, dass zu ihren kunstmässigen kompilationen wie dem Kalevala fast alle volkstümlichen quellen bewahrt sind. Dazu sind alle literarischen veröffentlichungen so jung, dass ihre einwirkungen auf das volkslied verhältnismässig leicht zu erkennen und auszuscheiden sind.

Aber sogar ein vollständig volkstümliches material lässt sich wissenschaftlich nicht anders als in bestimmter gegenseitiger anordnung behandeln. Wer es unternähme z. b. eine russisch-karelische liedvariante, die meist das schliessliche ergebnis einer langwierigen, auf finnischen boden vor sich gegangenen entwicklung ist, mit irgendeiner nichtfinnischen volkstradition, die ebenfalls ihre eigene geschichte haben kann, zu vergleichen, käme leicht in die gefahr infolge einer zufälligen übereinstimmung fehlschlüsse zu machen. Die finnische methode fordert die geographische einordnung der gesammelten varianten eines zu untersuchenden themas, indem sie diese forderung auf die bei uns wahrgenommene tatsache gründet, dass jede gegend ihre eigene sanges- und erzählungsart hat und dass diese lokalen bildungen einander im allgemeinen näher oder ferner stehen, in demselben verhältnis wie die gegenden selbst. Neben der örtlichen variation ist natürlicherweise [39] auch die zeitliche zu berücksichtigen, sodass die methode eigentlich eine historisch-geographische ist. Da aber die zeitliche umwandlung in einundderselben gegend im vergleich zu den örtlichen variationen von relativ untergeordneter bedeutung ist und da das sammeln des volkstümlichen materials im allgemeinen kaum mehr als hundert jahre zurückreicht, hat sich die methode vorzugsweise zu einer geographischen ausgebildet. Die älteren literarischen quellen, die z. b. der märchenforschung zu gebote stehen, empfiehlt es sich allerdings von den volkstümlichen getrennt zu behandeln, wenn man nur beachtet, dass sich ein zug im treuen gedächtnis des volkes bis auf den heutigen tag in ursprünglicherer gestalt erhalten haben kann, als er in der mittelalterlichen literatur auftritt. Der wesentlichste wert kommt auch den älteren buchungen als lokalem beweismaterial zu.

Die geographische zusammenstellung der varianten setzt natürlich voraus, dass die traditionen als mündliches lehngut von volk zu volk gewandert sind. Neben dieser wanderungstheorie steht allerdings eine andere, die übereinstimmende erscheinungen aus einer durch übereinstimmende bedürfnisse hervorgerufenen analogen tätigkeit der menschlichen seele herleitet. Die letztere möglichkeit muss natürlich berücksichtigt werden, wenn es sich nur um einen einfachen zug handelt. Die finnische folkloristik hat denn auch die forderung aufgestellt, dass wenigstens zwei kombinierte züge vorhanden sein müssen, und hat daran bei der entscheidung des wirklichen zusammenhangs streng festgehalten. Hierauf beschränkt sich aber auch die berechtigung der sog. anthropologischen theorie. Denn weit kommt man damit selbst auf dem gebiet der materiellen menschlichen erzeugnisse nicht, auf die man manchmal bei der beurteilung geistiger erscheinungen hingewiesen hat. Dass z. b. auch die steingeräte nicht immer autochthone selbständige erzeugnisse, sondern oft als handelsware von hand zu hand gewanderte kulturgegenstände sind, kann sich aus der art des steines selbst ergeben, wenn das zu den geräten verwandte material in der nähe der fundplätze nicht vorkommt. Noch weniger reicht die berufung auf die analoge tätigkeit der menschlichen seele bei der deutung der erzeugnisse der phantasie aus. Diese sind ja in der regel entweder aus mehreren zügen zusammengesetzt, [40] wie in den erzählungen, oder sonstwie gruppiert, wie in sitte und gebrauch. Und es handelt sich nicht nur um einzelne traditionen und gebräuche. Wenn z. b. fast der ganze märchenschatz der schweden oder der grösste teil ihrer zauberbräuche auch bei den finnen anzutreffen ist, so kann man darin jedenfalls keine unabhängige psychische parallelerscheinung sehen. Eigentlich ist diese theorie inkonsequent, wenn sie nicht erklärt, dass jede schwedisch- oder finnischsprachige landschaft ihre phantasieprodukte selbständig ausgebildet hat. Innerhalb einer sprachgrenze gibt man im allgemeinen die möglichkeit des gedankenaustausches zu, will aber geistige entlehnungen zwischen angehörigen verschiedener sprachstämme bezweifeln. Lönnrot hat seinerzeit auf die tatsache hingewiesen, auf die sich die forscher im ausland, wo sich die volkspoesie schon in die entlegensten winkel zurückgezogen hat, vielfach berufen haben, wie nämlich die finnischen, norwegischen und russischen fischer an den küsten des Eismeeres märchen untereinander austauschen. Dass die sprachgrenze für die wanderung der volksüberlieferungen keine unübersteigbare schranke darstellt, beweist am deutlichsten der finnische märchenschatz, der in Westfinland mit dem schwedischen und in Ostfinland mit dem russischen übereinstimmt.

Nicht die sprachgemeinschaft, sondern die kulturgemeinschaft und die geographische lage sind hier ausschlaggebend gewesen.

Erst nachdem die varianten gesammelt, gesichtet und geographisch geordnet sind, kann die analyse eines zu untersuchenden themas zug für zug beginnen. Dabei wird das ziel verfolgt die urformen in ihren einzelnen punkten festzustellen, und jedesmal wird gewissermassen eine abstimmung über die verschiedenen varianten vorgenommen. Eine einzelne variantenform ist meistens als zufällige erscheinung zu beurteilen; der häufiger vorkommenden variation ist im allgemeinen der vorzug vor der seltener begegnenden zu geben. Indes genügt die mechanische zusammenzählung der variantenziffern nicht. Ein gebiet, in dem intensive sammelarbeit getrieben worden ist, kann gegen andere, vernachlässigte gebiete durch vielfache aufzeichnungen vertreten sein. Man muss also die gebiete, in denen die verschiedenen variationen auftreten, vielmehr messen [41] und dem ausgedehnteren im allgemeinen gegenüber den beschränkteren den vorzug geben. Schliesslich aber muss sich der forscher auf sein eigenes urteil verlassen, um zu entscheiden, was am natürlichsten der urform entspricht. In dem kriterium der natürlichkeit steckt unleugbar etwas subjektives, das sich jedoch durch umfassende kenntnisnahme und gründliche vertiefung in das material der volkspoesie einschränken lässt und das mit dem fortschreiten der forschung immer mehr zusammenschrumpfen wird. Hat aber dieses kriterium überhaupt objektive berechtigung? Sind die schöpfungen der volkspoesie ursprünglich natürlich und folgerichtig zusammengesetzt? Die folkloristik hat wie jede andere forschung als axiom die vorstellung annehmen müssen, dass das von ihr bearbeitete material aus vernünftigen konzeptionen hervorgegangen ist; denn wo keine vernunft ist, kann es auch keine wissenschaft geben. Aber es hat sich auch schon mehrfach gezeigt, dass dies axiom auf tatsächlichem boden steht. Ich brauche nur auf Antti Aarnes hervorragende, auch im auslande gewürdigte untersuchung hinzuweisen, der es gelungen ist lange komplizierte märchen fast zug für zug genau zu bestimmen; als resultat hat sich eine zusammenhängende, in sich abgeschlossene und harmonische grundform ergeben. Die ansicht, dass es ursprünglich nur einzelne märchenzüge gegeben habe, die dann in verschiedenen gegenden willkürlich kombiniert und vermischt worden wären, ist durch diese untersuchung absolut hinfällig geworden. Vermischung gibt es in den volksmärchen freilich genug; aber gemischt sind die erzählungen als ganzes oder in ihren teilen. Daher ist auch aussicht vorhanden, dass die forschung das gewirr einmal lösen wird.

Im gegensatz ferner zu der anschauung, die alles in den traditionen und meinungen des volkes erhaltene für primitiv ansieht, behandelt die finnische folkloristische methode ihre stoffe als geschichtliche kulturprodukte, deren heimat und entstehungszeit festgestellt werden können. Dass sich nicht einmal die allgemein umlaufenden volksmärchen in allerprimitivsten verhältnissen gebildet haben, beweisen z. b. die oft in ihnen auftretenden relativ jungen kulturtiere. Während die entstehung der volkspoesie früher so weit wie irgend möglich in graue vorzeit hinaufdatiert wurde, schreitet die moderne forschung [42] möglichst vorsichtig nach rückwärts. Sie vergisst nicht mehr, dass zwischen dem heidentum und unserer protestantischen aufklärung das phantasiereiche katholische mittelalter liegt. Dass aus dieser zeit der grösste teil der uns erhaltenen finnischen volkspoesie stammt, ist nicht schwer zu erkennen, wenn man die sache nur ohne die gewohnte brille betrachten will. Über das verhältnis der altklassischen sagen und der katholischen volksüberlieferungen zueinander hat sich die anschauung auf uns vererbt, dass die heidnische tradition immer die ursprünglichere und die christliche späteres beiwerk sei. Aber die neuere untersuchung der nordischen mythen, sowohl der Edda- als der Kalevalalieder hat es gewagt das verhältnis umzukehren, indem sie zeigt, wie sich die christlichen legenden in halbheidnischer zeit mit namen alter götter oder anderen uralt anmutenden poetischen masken ausgeschmückt haben. Das christentum, das später den grund zur literarischen kultur des finnischen volkes legte, hat das volkslied schon vorher mit seinen gedanken befruchtet. Das geistige leben Finlands im mittelalter, über das uns bisher nur ausserordentlich spärliche und dunkle nachrichten zur verfügung gestanden haben, breitet sich in dem durch die folkloristische forschung geklärten spiegel mit deutlichen linien vor unseren augen aus. Ja auch über diese zeit hinaus hat die kritische forschung erfolgreich vorzudringen vermocht. Durch genaue aussonderung der späteren schichten ist es ihr gelungen auch ungeahnte heidnische überlieferungen blosszulegen. Mit einem wort: in dem erhaltenen material unserer volkspoesie können wir mit hilfe der richtigen methode die geschichte der nationalen entwicklung lesen.

Die finnische folkloristische methode ist sowohl nach ihrem material als nach ihrem ausgangspunkt und ihren ergebnissen eine unserer nationalsten wissenschaften. Aber indem sie ihre vergleichungen auf die kollektiven geistesprodukte aller völker der welt ausdehnt und das sammeln und bearbeiten des materials in den einzelnen ländern verfolgt, bildet sie sich zu einer internationalen wissenschaft aus, die über die alten, unter der oberfläche hinziehenden kulturströmungen und geistigen berührungen licht verbreitet. Das letzte ziel der forschung: die ermittlung der geistigen gesetze, die in den urkonzeptionen der volkspoesie zum ausdruck kommen und in den [43] späteren variationen noch fortwirken, ist ein allgemeinmenschliches ziel. Mit diesem endzweck darf die finnische und vergleichende folkloristik in den kreis der humanistischen wissenschaften eintreten.

Helsinki. Kaarle Krohn.