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Über die Flucht und das Finden
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Über die Flucht und das Finden.

Nachdem in der vorhergehenden Schrift De congressu eruditionis gratia zuletzt (§ 158) über 1 Mos. 16, 6a gehandelt worden war, schließt sich unsere Schrift mit der Erklärung von V. 6b–14 unmittelbar an. Sie ist folgendermaßen angelegt:

I. Im Anschluß an 1 Mos. 16, 6b wird über die Beispiele von Fliehenden in der Schrift gehandelt (§§ 1–118):
1. Es begegnen in der Schrift drei Motive der Flucht, Haß, Furcht und Scham:
a) Hagar flieht vor Sarah aus Scham (§§ 4–6);
b) aus Haß flieht nach 1 Mos. 30, 20f. Jakob, der Anhänger des Monotheismus, vor dem der Vielgötterei und irdischem Wesen ergebenen Laban (§§ 7–22);
c) aus Furcht flieht er vor Esau nach Mesopotamien (1 Mos. 27, 42–45): der Asket muß vor dem Schlechten, der seine noch nicht gefestigten Vorsätze zu erschüttern droht, sich ins praktische Leben zurückziehen, um den Gegner auf seinem eigenen Gebiet bloßzustellen (§§ 23–32), und wird dadurch zugleich für seine eigene Person dem Vorwurf der Heuchelei begegnen (§§ 33–36). Überhaupt ist die praktische Lebensweise als Vorstufe zur theoretischen unerläßlich, wie es auch den Leviten nach 4 Mos. 4, 30 vorgeschrieben ist (§§ 37–38). Einzelerklärung der Verse 1 Mos. 27,42–45 (§§ 39–47); Erklärung von 1 Mos. 28, 2 (§§ 48–52).
2. Über 2 Mos. 21,12–14: Flucht der unfreiwilligen Mörder (§§ 53–118).
a) Erklärung des Ausdrucks „des Todes sterben“: wie die Weisen über das irdische Leben hinaus unsterblich sind und ihr Leben nicht mit diesem Leben endet, so sind die Schlechten schon bei Lebzeiten tot (§§ 54–64).
b) „Unfreiwillige Mörder“ sind diejenigen, durch die Gott mittels einer unbeabsichtigten Tat eine Strafe an anderen hat vollziehen[51] lassen (§§ 65–74); darum dürfen sie auch „zu Gott fliehen“: Gott als den Urheber ihrer Tat bezeichnen (§§ 75 bis 76), was im Munde des vorsätzlichen Mörders Gotteslästerung bedeutet (§§ 77–82). Diesen „Ankläger Gottes“ erwartet daher die schwerste Strafe (§§ 83–85), während andrerseits die unabsichtlich Fehlenden nach 4 Mos. 35 Zufluchtstädte zugewiesen erhalten (§ 86).
c) Vier Fragen, die die Zufluchtstädte (4 Mos. 4, 35) aufgeben (§§ 87–118): 1. Warum diese Städte sämtlich zu den Städten des Stammes Levi gehören. – Die Leviten sind in gewisser Weise selbst Flüchtlinge nach 5 Mos. 33, 9 und 2 Mos. 32, 27; ferner besteht die Ähnlichkeit, daß, wie die Leviten Diener im Heiligtum sind, ebenso die unfreiwilligen Mörder Gott dienen, indem sie die Strafe an den Schuldigen vollziehen (§§ 88–93). 2. Warum es sechs Städte sind. – Unter diesen Städten sind der Logos und die fünf Kräfte Gottes zu verstehen, zu denen der unabsichtlich Fehlende seine Zuflucht nehmen kann, während der gänzlich Fehllose in Gott selbst wohnen darf (§§ 94–102). 3. Warum drei von den Städten diesseits und drei jenseits des Jordans liegen. – Der Logos, die schöpferische und die königliche Kraft sind dem Bereiche des Irdischen weit entrückt, die gnädige, die gebietende und verbietende Kraft dagegen treten mit ihm in Verkehr; denn Gnade, Gebot und Verbot haben nur da Sinn, wo gefehlt wird (§§ 103–105).
4. Warum als Termin der Rückkehr der Flüchtlinge der Tod des Hohepriesters festgesetzt ist. – Wenn der göttliche Logos, der unter dem Hohenpriester zu verstehen ist, in die menschliche Seele zurückgeht, müssen alle Flecken schwinden (§§ 106–118).
II. Über das Finden und Suchen in der Schrift, im Anschluß an 1 Mos. 16,7 (§§ 119–176).
Die Schrift unterscheidet vier Klassen von Menschen:
1. Unter denen, die weder suchen noch finden, sind diejenigen zu verstehen, die ihren Geist durch Mangel an Übung verkümmern lassen; Beispiele sind das Weib des Lot und Pharao (§§ 121 bis 125).
2. Beispiele von solchen, die suchen und finden (§§ 126–142):
a) Joseph, der noch im irdischen Leben sich aufhält, forscht[52] nach dem „besseren Geschlecht“ der nicht am Irdischen hangenden Frommen und wird auf den rechten Weg gewiesen, nach 1 Mos. 37,15–17 (§§ 126–131);
b) Abraham und Isaak, die Weisen die nach dem Zustandekommen der Denk- und Wahrnehmungsakte forschen, gelangen darüber zur ἐποχή, nach 1 Mos. 22, 7ff. (§§ 132–136);
c) 2 Mos. 16, 15f. forschen die Israeliten, die „Gottschauenden“, nach der Natur des ihnen von Gott gespendeten Manna und finden, daß es das Wort Gottes ist, das Gott den die Schau liebenden Seelen als geistige Nahrung spendet (§§ 137 bis 139);
d) als Moses nach der Ursache des Rechttuns forscht, findet er, daß es die Vereinigung mit Gott ist: 2 Mos. 3,11 f. (§§ 140–142).
3. Beispiele von solchen, die suchen aber nicht finden (§§ 143–165):
a) Laban, der die „Bilder“ nicht findet, die Sodomiten, die die Engel bei Lot vergeblich suchen, um sie zu schänden, die Rotte Korah, die vergebens nach der Priesterwürde strebt, Pharao, der Mose töten will, ihn aber nicht findet, sind Beispiele für Niedrige, die vergebens über ihre Natur hinausstreben (§§ 143–148);
b) die Schrift will, wo sie von Juda und Thamar handelt, (1 Mos. 28,20–23), lehren, daß man weder im irdischen Leben das Schöne noch am Orte des Schönen eine gemeine Seele findet (§§ 149–156);
c) Reue wird vergebens gesucht, wo der unvernünftige Trieb sich die Seele unterworfen hat; ebenso da, wo die Seele in eine Schuld verstrickt ist: 3 Mos. 10, 16; 10, 19. 20 (§§ 157 bis 160);
d) vergebens forscht Moses 2 Mos. 3, 2. 3 nach der Ursache, weswegen der Dornbusch brennt, ohne zu verbrennen, d. h. warum die Welt vergeht, aber wieder von neuem entsteht; denn diese Ursache ist Gott, der jenseits des menschlichen Erkenntnisvermögens liegt (§§ 161–165).
4. Unter denen, die finden ohne zuvor gesucht zu haben, sind die „selbstgelehrten“ Weisen zu verstehen, die ohne ihr Zutun durch Gottes Gnade ihr Wissen empfangen haben; Gott ist überhaupt die Ursache aller Erscheinungen in der Natur, die sich scheinbar von selbst vollziehen (§§ 166–-172). Wer diesen Glauben hat, gewinnt den Frieden des Sabbaths (§§ 173–174). – Gott läßt[53] auch, ohne Zutun des Menschen, die Tugenden und die tugendhaften Seelen entstehen (§§ 175–176).
III. Über die verschiedenen allegorischen Bedeutungen der Quelle, nach 1 Mos. 16, 7 (§§ 177–201).
1. Eine Quelle ist der menschliche Geist, insofern als von ihm, dem ἡγεμονικόν, die Sinne ausströmen; darauf geht 1 Mos. 2, 6 (§§ 178–182).
2. Die vorbereitenden Wissenschaften sind, nach 2 Mos. 15,27, die Quellen, aus denen die noch nicht zu vollkommener Weisheit Gelangten trinken (§§ 183–187).
3. Der Quell der Unvernunft strömt, wenn vom Nus Unrechte Taten ausgehen, von den Sinnen her die Leidenschaften emporquellen: 3 Mos. 20, 18 (§§ 188–193).
4. Eine Quelle der menschlichen Einsicht ist die Weisheit Gottes, aus der 1 Mos. 24, 16 Rebekka das Gefäß der Seele füllt und von der alle Einzelwissenschaften herkommen (§§ 194–196).
5. Die beste Quelle ist Gott; er ist die Quelle des Lebens, die Quelle, aus der der ganze Kosmos entsprang, und die Quelle der wahren Weisheit: 1 Mos. 26, 18 (§§ 197–201).
IV. Kurze Erklärung der Verse 1 Mos. 16, 7–14 (§§ 202–213).

Wie aus dieser Übersicht hervorgeht, geben die Verse 1 Mos. 16, 6a. 7 („sie entfloh vor ihrem Antlitz; es fand sie aber ein Engel des Herrn“) die Stichworte für die umfangreichen Ausführungen über die beiden im Titel[1] enthaltenen Themen, an die ein kleiner, von V. 7 ausgehender Exkurs über Quelle im allegorischen Sinn sowie eine kurze fortlaufende Behandlung der übrigen Verse (V. 7–14) angeschlossen sind. Die beiden den Hauptteil unserer Schrift bildenden Abhandlungen über Fliehen und Finden haben nun keinen einheitlichen Inhalt. Philos Absicht ist, wie er selbst gelegentlich andeutet (vgl. § 3 und § 120), darzulegen, in welchem verschiedenen Sinne die Heilige Schrift von Fliehen und von Finden redet, und so ist es verständlich, daß die Ausführungen περί εὑρέσεως nach einem äußerlichen Schema in zwei Sonderabhandlungen über 1 Mos. 30, 20. 21 und 1 Mos. 27, 42–45 zerfallen und daran eine Erörterung der Flucht in die Levitenstädte angehängt ist, und daß in ähnlicher Weise das zweite Thema in einer Reihe von Einzelexegesen[54] abgehandelt wird, die nach einem äußerlichen Dispositionsprinzip zusammengestellt sind. Aus diesem Sachverhalt scheint hervorzugehen, daß die beiden Themen aus der Bibelexegese erwachsen sind; in Exegesen Philos klingen sie öfter an (Flucht z. B. All. Erkl. II § 91 III § 1. 12ff. 172. 194. 242. Über die Cherubim § 2f. Quis rer. div. her. § 270 Über die Riesen § 67 Über die Trunkenheit § 94 Über die Geburt Abels § 119; Finden Quaest. in Gen. III § 27 Über die Geburt Abels § 64)[2].

Wie andere philonische Schriften hat auch diese auf den Kirchenvater Ambrosius gewirkt, der in seiner Schrift De fuga saeculi große Teile daraus fast wörtlich übernommen hat und auch in drei von seinen Briefen auf sie anspielt[3].


  1. Den Titel περὶ φυγῆς καὶ εὑρέσεως, den die eine der beiden Handschriften, in denen unsere Schrift erhalten ist, gibt, erweist als authentisch gegenüber dem früher bevorzugten der anderen, περὶ φυγάδων, Wendland in Cohn-Wendlands Ausgabe Vol. III S. XVII.
  2. Eine ausführliche Besprechung und Analyse unserer Schrift gibt Bousset, Jüdisch-christlicher Schulbetrieb in Alexandria und Rom, S. 127ff.; vgl. unsere Anmerkungen zu § 23 und § 120.
  3. Darüber zuletzt Wendland a. a. O. S. XIV, der die Parallelstellen unter dem Text seiner Ausgabe abdruckt.
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