Zur Naturgeschichte des deutschen Komödianten/8. Intendanten und Directoren

Textdaten
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Autor: Arno Hempel
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Titel: Intendanten und Directoren
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aus: Die Gartenlaube, Heft 48, S. 809–812
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1875
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Serie: Zur Naturgeschichte des deutschen Komödianten
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Zur Naturgeschichte des deutschen Komödianten.

8. Intendanten und Directoren.

Die Stellung eines Bühnenleiters ist eine hoch verantwortliche in mehr als einer Beziehung. Der Leiter einer Bühne ist verantwortlich der Kunst, den Dichtern, den Künstlern, sich selbst und – leitet er ein Institut von hohem Range – sogar der Nation. Wohl müssen, um eine Nationalbühne zu schaffen, verschiedene Kräfte zusammenwirken. Der wohlwollende Staat vermag das Meiste und Beste zu thun. Die Leugnung der Würde der Bühne von Seiten des Staates ist der Anfang vom Ende des letzteren. Nicht weniger maßgebend neben dem Staate sind aber auch die Dichter und die Bühnenleiter. Diese drei sind es, von welchen man eine Blüthezeit der dramatischen Kunst zu hoffen hat und die ersten Schritte zur Neuschaffung derselben fordern darf. Der Einfluß des ausübenden Künstlers steht erst in zweiter, der des Publicums gar erst in dritter Linie. Das, was der ausübende Künstler giebt, wird immer den Dichter und bei aller Wahrung der Selbstständigkeit des subjectiven Talentes – den Bühnenleiter widerspiegeln. Das Zusammenspiel nun gar liegt ganz in der Hand des Bühnenleiters, denn er ist entweder selbst sein Regisseur oder trifft doch die Wahl desselben und trägt also auch die Verantwortung. Und das Publicum? – Das Publicum, ich wage es zu behaupten, läßt sich erziehen zum Guten, wie zum Bösen, womit nicht gesagt sein solle daß seine Erzieher nicht geschickte Pädagogen von Herz und Kopf sein müssen.

Die Bühnenleiter, d. h. die Intendanten und Directoren, sind auf’s Engste mit der Naturgeschichte des deutschen Komödianten verwachsen. Wir widmen ihnen daher in dieser Artikelreihe ein Viertelstündchen ernster Betrachtung und scherzhafter Beleuchtung.

Beginnen wir mit den Intendanten! Die Hoftheater-Intendanten konnten natürlich nicht früher da sein als die [810] Hoftheater. In jener fein-sinnlichen, barocken, geistreichen, empfindsamen und herzlosen Zeit, die wir einfach und bezeichnend Rococo nennen, in der Zeit des aufgeklärten Absolutismus und des Landeskinderverkaufs, in der Zeit Eckhof’s, in welcher der goldene Leichtsinn der verachteten Komödianten sich noch nicht in den Sinn für schweres Gold verwandelt hatte, bekamen die großen und kleinen Landesväter des heiligen römischen Reichs deutscher Nation plötzlich Lust ein wenig Louis XIV zu spielen. Sie ahmten ihn sclavisch nach, den Mann, welcher der Staat selbst war. Sie mußten demnach auch ihr Hoftheater und ihre Hofkomödianten haben. So wurden sie hereingeholt von der Landstraße, die besseren Komödiantentruppen, und sie fanden auf kürzere oder längere Zeit ein ungewohntes Quartier in Räumen, die von Gold, Seide und Sammet strotzten. Diese Räume hatten sich die hohen Herren geschaffen, um nach dem Essen zur Verdauung ein Stündchen Schauspiel genießen zu können. Oder sie lauschten in diesen Räumen an bestimmten Abenden den schmeichelnden Melodien einer Modeoper und erfreuten das höchsteigene, etwas genußmüde Auge durch die Pas und Entrechats einer französischen oder italienischen Ballerina. Deutsche Ballerinen von Ruf gab es damals noch nicht. Die deutschen Mädchen begriffen das System der Tricots und Tanzkleidchen etwas schwerer als die geweckteren romanischen Schwestern.

In dieser Zeit also entstand der Hoftheater-Intendant, der „intendant des spectacles“. Es war eine Hofcharge, wie es deren an den damaligen Höfen so viele gab, weiter nichts. Die Cavaliere, welche man mit dieser Stellung betraute, nahmen ihr Amt auch gar nicht ernst. Sie bekümmerten sich wenig um die Komödianten. Höchstens befahlen sie auf Befehl ihres Herrn bestimmte Galavorstellungen und protegirten dann und wann „une petite actrice“. Der Intendant des Rococo lebte in einem goldenen Nichtsthun.

Die Zeiten änderten sich. Es war ein Dalberg da; ein Nationaltheater erblühte, und ein Iffland schuf und glänzte. Die Intendanten wurden ernste, kunstbegeisterte Leute. Hatten sie doch an dem ernsten, kunstbegeisterten, wenn auch etwas zaghaften Dalberg ein so leuchtendes Vorbild. Sie mußten ihre Pflicht ernster nehmen – der Stolz des Cavaliers verlangte es so. Es kamen ja auch die herrlichen Tage Weimars, und SchillerSchiller und Goethe traten für die Nationalbühne ein. So wurden die Intendanten ernst und kunstbegeistert, und bis in die Mitte unseres Jahrhunderts können wir die Küstner, Redern, Gall u. A. mit künstlerischem Sinne wirken sehen.

Es war mir vergönnt, dem General-Intendanten Karl Theodor von Küstner näher zu treten. Freilich war er damals schon ein Greis und ein Pensionär, aber die alte Kunstbegeisterung war ihm treu geblieben und dazu ein Herz voller Humanität. Seine Güte war sprüchwörtlich, und ich kann mir den gutmüthigen Herrn Generalintendanten noch vorstellen mit all’ seiner unfreiwilligen Komik, wenn er bei der Crelinger, der „Katze“, wie sie Ludwig Devrient nannte, kraft seines Amtes etwas durchzusetzen versuchte.

In seinem freundlichen Heim in der Elsterstraße zu Leipzig waren wir jungen Schauspieler des Stadttheaters gern gesehene Gäste, und er suchte uns auch an schönen Sommernachmittagen häufig bei Kintschy im Rosenthale auf. Gutmüthigkeit und Häßlichkeit waren zu gleichen Theilen in seinem immer freundlichen Antlitze vertreten. Grundsätzlich vermied er, sich äußerlich acceptabler zu gestalten. Seine Perrücke spielte bereits in mehreren Farben und fand ihren festesten Halt durch die Seitenfedern einer großen goldenen Brille. Von ehrwürdigstem Alter waren Kopfbedeckung und Garderobe. So kam er eines Tages freudestrahlend bei Kintschy an und rief glücklich im „reensten“ Leipziger Dialekt aus:

„Gott sei Dank, Kinder, nu weeß ich doch, daß ich noch zum Theater gehöre. Heute war ein durchreisender Schauspieler bei mir und holte sich Reisegeld. So lange, wie se noch Vorschuß bei mir holen, bin ich ooch noch Director.“

Mit dem lebhaftesten Interesse und der größten Bescheidenheit sprach er von seinem Wirken. Ein strenges Gerechtigkeitsgefühl zierte ihn. Folgendes Geschichtchen mag das illustriren.

Im October 1863 feierte der verdienstvolle, noch heute wirkende „erste Vater“ der Leipziger Bühne, Heinrich Stürmer, sein fünfundzwanzigjähriges Engagementsjubiläum. Zur Festvorstellung war Gutzkow’s „Zopf und Schwert“ bestimmt, denn König Friedrich Wilhelm der Erste ist eine der besten Leistungen des Jubilars. Durch die Krankheit eines Darstellers, der den „Eversmann“ zu geben hatte, wäre die Festvorstellung in letzter Stunde gescheitert, wenn nicht ein jüngeres Mitglied das Wagestück unternommen hätte, ohne Probe für den Erkrankten einzutreten. Es gelang. Stürmer’s Ehrentag war gerettet und der Direction ein übervolles Haus. Zwei Tage später begegnet Küstner in der Nähe des Theaters jenem jungen Schauspieler und spricht sich ihm gegenüber anerkennend über das Gelingen des Wagestückes aus. Plötzlich fragt er naiv:

„Was ham Se denn gekriegt?“

„Wie meinen Herr Generalintendant?“

„Nu, ich meene – sind se denn da oben – er zeigte mit der Hand nach den Fenstern der Theaterkanzlei – „nich dankbar gewesen?“ Der junge Mann zuckte die Achseln.

„Ich habe bis jetzt noch nicht ein Wort des Dankes empfangen.“ Ganz entrüstet platzt da der alte Herr los:

„Ne, da hört aber wirklich Alles uff! – So ä volles Haus – bei so enner Gelegenheit und nich ’mal: Danke scheene! – Ne, heeren Se, das hätt’ ich nich sein dürfen! Da wär’ mersch, weeß Gott, uff e Paar Louisdors nich angekommen. Ei Herr Jeeses, das nehm’ mer Keener übel – ne –“ Und kopfschüttelnd setzte er seinen Weg fort.

Die Intendanten der neuen Schule sind andere Leute. Sie gehen meist aus zwei sehr verschiedenen Berufsclassen hervor. Ursprünglich sind sie sehr häufig Officiere oder Schriftsteller. Die Ersteren leisten als Bühnenleiter beinahe noch Besseres als die Letzteren. Sie haben jedenfalls Sinn für Disciplin, und eine energische Disciplin gehört zu einer erfolgreichen Bühnenleitung. Ferner haben sie die Offenheit, sich einzugestehen, daß das Theater nicht ihr eigentliches Terrain ist und daß man Dinge, die man gedeihlich betreiben will, ihrem vollen Umfange nach verstehen muß. Darum halten sie auf tüchtige Regisseure.

Die Schriftsteller-Intendanturen sind im Allgemeinen weit weniger ersprießlich für die Kunst, obgleich man das Gegentheil glauben sollte. Es sind Ausnahmen vorhanden: Laube, Dingelstedt, Wehl. Das sind Praktiker. Sie haben sich angelegen sein lassen, den Organismus der Bühne kennen zu lernen; sie haben sich nicht auf den Standpunkt gestellt: „Als Dichter sind wir geborene Bühnenleiter.“ Dieser Standpunkt ist ein schlimmer Irrthum, und selbst ein Immermann hat seine bösen Folgen empfinden müssen. Die Theorien allein thun es eben nicht. Darum haben diese Praktiker der Bühnentechnik im weitesten Sinne nachgespürt, und sie sind nicht nur im Aristoteles und Lessing zu Hause, sondern auch in der Garderobe des Schauspielers und auf dem Schnürboden des Maschinisten.

Wir begrüßen nun zunächst die Directoren der stabilen Stadt- und Privattheater. In neuerer Zeit ist das Wort Director etwas aus der Mode gekommen. Man bedient sich jetzt statt dessen – vermuthlich aus Gründen des Wohlklangs – des Ausdrucks: Bühnenvorstand. Unter den Bühnenvorständen sind die Commissionsräthe ganz besonders stark vertreten. Es giebt nur wenige Ausnahmen unter diesen Leitern großer stabiler Bühnen, deren Brust nicht mit einem oder mehreren Orden geziert ist. Meist sind es recht praktische Geschäftsleute. Einzelne unter ihnen sind indessen wirklich im Stande, der Kunst aus vollem, ehrlichem Herzen Opfer zu bringen. Das sind gewesene Schauspieler oder Sänger, welche die Ideale ihrer Jünglingszeit noch nicht vergessen haben. Sonst wissen sich die meisten dieser Herren „trefflich mit dem Blutbann abzufinden“.

Die Directoren der Stadttheater zweiten Ranges – auf sie findet der „Bühnenvorstand“ seltener Anwendung – bieten im Allgemeinen kein unerfreuliches Bild. Sie sind meist aus dem Stande der ausübenden Künstler hervorgegangen, und der größte Theil sorgt und müht sich redlich, den Anforderungen gerecht zu werden, welche die Neuzeit mit ihren hohen Gagen und theuren Autorenhonoraren stellt. Die Mehrzahl dieser Directoren würde vielleicht gern künstlerischer vorgehen, wenn es ihr überhaupt nur möglich wäre. Aber es ist schwer möglich. Das Budget dieser Stadttheater zweiten Ranges ist kolossal angeschwollen in Folge der neuen Verhältnisse, und dennoch dürfen sie kaum wagen – was doch ganz naturgemäß wäre – ihre Eintrittspreise zu erhöhen. Würden sie es thun, so wäre es bei [811] der heutigen Zeitrichtung unausbleiblich, daß sich der größte Theil des noch treu gebliebenen Publicums über Hals und Kopf in den Strudel des Tingeltangelthums stürzt. Das Unwesen der Tingeltangelei macht sich auch in kleineren Städten schon gewaltig breit, und wie sehr dies der Kunst schadet, sieht man am deutlichsten an dem kümmerlichen Vegetiren dieser kleinen Stadttheater, die nur mit großen Opfern ihrer ehrlichen Directoren dem Bankerott entgehen, der ihnen fortwährend droht.

Die neue Theatergesetzgebung hat eine neue Classe von Directoren geschaffen, die Classe der „dramatischen Bierwirthe“. Das sind die Besitzer großer Restaurationslocalitäten, die sich in den Kopf gesetzt haben, auch Theaterdirectoren sein zu wollen. Diese dramaturgischen Anwandelungen verdanken sie dem Wunsche, möglichst viel Geld zu verdienen. Das thun sie auch. Der dramatische Bierwirth engagirt sich einen „technischen Leiter“ oder einen „Oberregisseur“, zahlt auch sehr häufig nicht unbedeutende Gagen und macht fast immer sein Geschäft. In Bezug auf das Institut der dramatischen Bierwirthe haben die Schauspieler den Witz gemacht: „Heute frische Blutwurst! Dazu: Die Braut von Messina!“ Wenn das nun auch übertrieben ist, so ist manches Andere noch schlimm genug. Ich kannte einen dramatischen Bierwirth ersten Ranges. Er war sogar Mitglied des deutschen Bühnenvereins und bot seinen Schauspielern etwa folgendes Wochenrepertoire für den Winter:

Sonntag: Vorstellung im Etablissement von sieben bis elf Uhr Abends bei mörderischem Tabakrauch. – Montag: Probe. Direct nach Tisch Abreise mit der Bahn nach einer vier Meilen entfernten Stadt. Nach Ankunft Probe. Abends Vorstellung. – Dienstag: Früh sechs Uhr Abreise. Nach Ankunft Probe. Abends Vorstellung im Etablissement wie oben. – Mittwoch: Zwei Proben. – Donnerstag: Probe. Abends Vorstellung im Etablissement. – Freitag: Früh sieben Uhr Abreise per Omnibus nach einer sechs Meilen entfernten Stadt. Nach Ankunft Probe. Abends Vorstellung. – Sonnabend: Früh sechs Uhr Abreise per Omnibus nach dem sechs Meilen entfernten sogenannten Domicil. Um ein Uhr Ankunft, um drei Uhr Probe und so weiter mit Grazie bis in’s Unendliche. Dabei war der liebeswürdige Mann so freundlich, seinen Mitgliedern geheizte Zimmer in den Gasthöfen zu verweigern, weil „nach ärztlicher Aussage das kalte Schlafen und kalte Waschen sehr gesund sei“. Wann die abgehetzten, katarrhalisch und rheumatisch afficirten Mitglieder ihre Rollen lernen sollten – danach zu fragen, trug er nie Verlangen. Zur Erholung durften sie in Maskenzügen mitwirken, wenn er öffentliche Maskenbälle veranstaltete. Und für das Alles hatte der dramatische Bierwirth in seinen Contracten einen Schein des Rechts und war äußerst empört, daß ihm die Schauspieler in hellen Haufen contractbrüchig wurden. –

Ein fernerer Blick in die Rangliste der deutschen Theater zeigt uns nunmehr die sogenannten „reisenden Gesellschaften“ und ihre Directoren. Ich meine hier zunächst die „reisenden Gesellschaften“ besserer Art. Sie sind mit Unrecht in schlechten Ruf gekommen. Geistreiche Feuilletonisten, die auf einer Sommerreise irgendwo einmal einer „Schmiere“ oder einem „Meerschweinchen“ begegneten, amüsirten sich köstlich und schrieben äußerst pikante, humoristische Artikel über das Leben und Treiben der „reisenden Gesellschaften“. Aus diesem Grunde betrachtet[1] das große Publicum diese Institution als eine höhere Vagabondenschule. Sehr mit Unrecht. Was bedeutet heutzutage überhaupt „reisende Gesellschaft“? Es wird beim deutschen Theater jetzt so viel gereist, dasselbe zahlt so viele Thaler jährlich für Hausirgewerbescheine, daß man den Begriff „reisende Gesellschaft“ kaum noch präcisiren kann. Die Directoren der guten „reisenden Gesellschaften“ sind fast immer Ehrenmänner von etwas veralteten Ansichten, die über den Schwindel der Neuzeit den Kopf schütteln und ihre Gagen prompt bezahlen. Die Leistungen ihrer Bühnen stehen sehr häufig ganz auf gleicher Höhe mit denen der Stadttheater zweiten Ranges. Freilich – die scenische Ausstattung, die Costüme lassen oft viel zu wünschen übrig. Tritt der Zuschauer in die glänzenden Auditorien großer Theater, so erfolgt zunächst ein „Ah“ der Bewunderung. Der Glanz und die Pracht nehmen ihn gefangen. Der Gedanke, daß auch an einem „großen“ Theater eine schlechte Komödie gespielt werden könne, kommt nur schwer auf. Dem gegenüber ist der Mime der „kleinen“ Theater ganz auf sein künstlerisches Können angewiesen. Nichts hebt, nichts deckt die etwaige Schwäche seiner Leistung. Darum aber auch bedeuten seine Erfolge oft mehr. Und war denn Burbage ein schlechter Schauspieler, weil sein Director Shakespeare nur über einen Bühnenapparat der bescheidensten Art verfügen konnte? Waren die Ludwig Devrient, die Karl Grunert oder hundert Andere nicht schon Genies und Talente ersten Ranges, als sie das Wanderleben der „reisenden Gesellschaften“ theilten? Begannen und beginnen nicht noch heute die Talente ihren Siegesflug als Mitglieder der kleinen Theater?

Wir kommen nun zu den Abarten der reisenden Gesellschaften, den „Schmieren“ und „Meerschweinchen“, wie die technischen Ausdrücke lauten. Der Schmierendirector zahlt Gage – wenn er sie einnimmt oder das Geld nicht anderweitig braucht. Die „Meerschweinchen“ dagegen sind sogenannte „Theilungsgesellschaften“, d. h. die Mitglieder theilen sich social-demokratisch in den Ertrag ihrer Arbeit. Der Director, auch „Häuptling“ genannt, fährt dabei nicht schlecht. Erstens bekommt er einen „Theil“ als Director, zweitens einen für das „Werk“ (Decorationen), drittens einen für die „Bibliothek“, viertes einen als Schauspieler, fünftens einen als Cassirer und – sehr häufig – sechstens einen sogenannten „Abnutzungstheil“. Die Stellung eines „Häuptlings“ ist also gewinnbringend. Das Geschäft kann sich sogar noch besser gestalten. Ist der „Häuptling“ verheirathet, wirkt seine Gattin mit und zählen etwa auch seine Kinder zu den ausübenden Künstlern, so erhält jede dieser Persönlichkeiten natürlich auch ihren „Theil“. Schließlich bezahlt der „Häuptling“ alle seine Bedürfnisse bei Bäcker, Schlächter und Bierwirth mit Billets – man sieht, die Stellung ist nicht ganz „ohne“. –

Zu den „Meerschweinchen“ gehören auch die sogenannten „Familiengesellschaften“. Ihre Entstehungsgeschichte ist gewöhnlich folgende: Ein Schauspieler Müller, Vater einer zahlreichen Familie, hat vor mehreren Jahren den nicht mehr ungewöhnlichen Einfall gehabt, Theaterdirector zu werden. Sein Kindersegen zwang ihn zu diesem heroische Entschlusse. Anfangs gab er mit seiner Gattin kleine Lustspiele, die nur zwei Personen beanspruchten, und sein Nachwuchs agirte in „Kinderkomödien“. Als die Kinder mehr und mehr gedeihlich heranblühten, begriff Müller, daß es Zeit sei, das Geschäft zu vergrößern. Er besitzt vier Sprößlinge, zwei Söhne und zwei Töchter. Er engagirt zwei junge Damen, und seine Söhne heirathen dieselben schleuigst. Nicht minder schnell wissen seine Töchter zwei junge Schauspieler in eheliche Fesseln zu schlagen. Der Zufall und ihr Unglück haben diese jungen Leute in das Fabrikdorf geführt, wo sich damals der Karren befand. Die Gesellschaft Müller ist nunmehr vollzählig, und das Publicum ist zufrieden. Höchstens beklagt sich einmal der Dorfschulze, daß der Name „Müller“ auf dem Theaterzettel so oft vorkommt. Dieser Theaterzettel ist manchmal gedruckt, häufiger geschrieben und wird stets „am folgende Tage wieder abgeholt“.

Sachsen, Böhmen und Bayern haben die zweifelhafte Ehre, für das Eldorado der „Schmieren“ und „Meerschweinchen“ zu gelten. Wie deutlich schwebst Du vor meinem inneren Blick, ehrlicher „keeniklich sächscher gonzessionirter Deaderderekt’r“! Du botest Deinem Publicum viel. Sogar „lebende Bilder“ auf der Drehscheibe. Eines schönen Abends stand auf der Drehscheibe eine herrliche Frauengruppe, darunter Deine „Braut“. Da schlich sich ein toller Bursche unter das Podium und half dem „Deadermeester“ die nicht leichte Last im Kreise wälzen. Aber der tolle Bursche drehte nicht im Gleichmaß, und die Frauengruppe – darunter Deine „Braut“ – purzelte über den Haufen. Ich sehe Dich noch vor mir stehen an dem engen Eingange, der unter das Podium führte. Du fuchteltest mit einem alten, verrosteten Hirschfänger in der Luft herum und führtest Wuth und Knotenstock im Blicke. Donnernd entströmten Deinen „keeniklich sächschen gonzessionirten“ Lippen die Worte:

„Nee, so änne Gemeenheet! Kumm’ Se nor ’raus – ich schlitze Sie den Bauch uff.“ –
Arno Hempel.



  1. Vorlage: „betrchtaet“