Zur Beurtheilung des Perikles

Textdaten
<<< >>>
Autor: Gottlob Egelhaaf
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Zur Beurtheilung des Perikles
Untertitel:
aus: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft Bd. 11 (1894), S. 144–151.
Herausgeber: Ludwig Quidde
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1894
Verlag: Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Freiburg i. B. und Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans auf Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
korrigiert
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[144] Zur Beurtheilung des Perikles. Unter den Werken über die Griechische Geschichte, die in neuester Zeit erschienen sind, nimmt jedenfalls Jul. Beloch’s Griechische Geschichte (I. Bd. Strassb., Trübner. 1893) eine bemerkenswerthe Stelle ein. Ich gedenke mich aber hier nicht mit den Vorzügen und Mängeln dieses Buches im allgemeinen zu befassen, sondern nur einen Punkt, mit dem ich mich schon früher beschäftigt habe[1], zur Sprache zu bringen – die Beurtheilung des Perikies.

Beloch gehört auch zu den Neueren – oder vielleicht sagt man noch richtiger: Neuesten –, welche nicht begreifen können, wie man Perikles so hoch hat stellen mögen. „Er hat“, lesen wir S. 466, „eine hervorragende militärische Begabung nicht besessen. Wir können selbst zweifeln, ob er ein grosser Staatsmann gewesen ist; wenigstens suchen wir vergebens bei ihm nach einem wirklich schöpferischen Gedanken. Auch hat er es nicht vermocht, das Attische Reich auf der Höhe zu erhalten, auf die es Themistokles und Kimon geführt hatten, und er hat bei seinem Abtritt vom politischen Schauplatz Athen jenen Krieg als Erbschaft hinterlassen, an dem es schliesslich zu Grunde gegangen ist. Aber er war, wie wir heute sagen würden, ein grosser Parlamentarier. Wie kein zweiter seiner Zeitgenossen besass er die Gabe, die Massen durch die Macht seiner Rede zu lenken und mit sich fortzureissen; und er hatte ein sehr feines Gefühl für das, was die öffentliche Meinung verlangte.“ S. 517 lesen wir: „Skrupel in der Wahl seiner Mittel hat Perikles nie gekannt; und wie er einst in Athen den Classenkampf entzünden geholfen hatte [?], so entzündete er jetzt aus Rücksichten der inneren Politik den Hellenischen Bürgerkrieg.“ Davon, dass Perikles den Peloponnesischen Krieg absichtlich herbeiführte, wie etwa Napoleon III. [145] den von 1870, ist Beloch so überzeugt, dass er ebenda erklärt: „ich sehe nicht [!], wie Perikles’ Politik von anderen Voraussetzungen aus verständlich ist – – –. Der Perikles-Cultus, der ja noch immer in schönster Blüthe steht, sträubt sich natürlich, die Thatsache anzuerkennen, dass der grosse Athenische Staatsmann den Peloponnesischen Krieg aus persönlichen Gründen zum Ausbruch gebracht hat. Thukydides ist weniger zartfühlend gewesen; er hält es für selbstverständlich, dass ein Staatsmann von egoistischen Motiven geleitet wird, und legt demgemäss solche Beweggründe auch den Männern unter, die er am höchsten bewundert, einem Brasidas (V, 16), einem Nikias (a. a. O.), einem Phrynichos (VIII, 50; vgl. VIII, 27)“. Zum Beweis, dass Perikles den Krieg herbeigeführt habe, weil er die Opposition in Athen von sich ablenken wollte, behauptet Beloch S. 516: aller Voraussicht nach würde die Zurücknahme des Beschlusses der Handelssperre gegen Megara genügt haben, der Friedenspartei in Sparta zum Siege zu verhelfen; es war eine Phrase, wenn Perikles jetzt erklärte: die Ehre des Staates verbiete das; 14 Jahre vorher hatte Athen den Frieden mit weit schwereren Zugeständnissen erkauft und doch seine Grossmachtstellung behauptet. Schon die öffentliche Meinung seiner Zeit sei nicht im Zweifel gewesen, dass er den Krieg verschuldet habe; vgl. Aristophanes, Acharner 515 f., Frieden 609 und Andokides, vom Frieden 8, sowie Ephoros bei Diodor XII, 39. Den Krieg selbst hat er dann nach Beloch ohne rechte Thatkraft geführt; „im ersten Kriegsjahr hätte sehr viel mehr geschehen können“, heisst es S. 520 Anm. 1.

Wir wollen nun an dieser Stelle kein Wort darüber verlieren, dass Beloch von Perikles sagt: er habe als Staatsmann keinen „wirklich schöpferischen Gedanken“ gehabt. Bis vor kurzem war man der Meinung, dass das gerade Gegentheil der Fall sei; noch vor wenigen Jahren (1889) hat z. B. Holm in seiner unseres Ermessens unendlich tieferen Auffassung des Mannes (Griech. Gesch. II, 390–394) erklärt: „Perikles war von einem Ernste, von einem Streben nach dem Bedeutenden, wie dies bei wenigen Staatsmännern in so hohem Grade hervortritt – – –. Wir betrachten die Athenische Demokratie mit Perikles als einen der glänzendsten politischen Zustände“.

Nicht minder überflüssig scheint es uns, die Anklage zu widerlegen, dass Perikles jemals den Classenhass geschürt habe. Soweit sie überhaupt verständlich ist, kann sie sich nur darauf beziehen, dass er den Richtersold und den freien Eintritt in’s Theater einführte; dass aber diese Massnahmen den Classenhass geschürt hätten, sagt Beloch nicht einmal selbst an der Stelle, wo er von diesen Dingen redet, S. 467–469. Offenbar ist auch das gerade Gegentheil wahr: diese [146] Massnahmen schwächten die Classengegensätze in hohem Grade ab: sie erlaubten, wie Holm a. a. O. ganz treffend sagt, den Athenern insgesammt als Gentlemen zu leben, ähnlich wie es lange Zeit die Spartaner thun konnten.

Genauer möchten wir aber auf die Anklage eingehen, dass Perikles den Peloponnesischen Krieg aus rein selbstsüchtigen Beweggründen entzündet habe, weil er der gegen ihn emporwachsenden Opposition auf andere Weise nicht habe Herr werden können.

Fragt man zunächst nach den Quellenbelegen für diese Behauptung, so ist es ja wahr, dass die beiden Stellen bei Aristophanes (Acharner 515 ff. und Frieden 609) besagen: nicht die Bürgerschaft war am Kriege schuld, sondern schlechte und unlautere Männchen (ἀνδράρια μοχθηρὰ κaὶ παρακεκομμένα); darunter sind die Jünglinge verstanden, welche hüben wie drüben Mädchen raubten: der Olympier Perikles blitzte dann und donnerte und rührte ganz Hellas durcheinander; ehe er selbst etwas Böses erleiden sollte, setzte er die Stadt in Brand (πρὶν παθεῖν τι δεινὸν αὐτός, ἐξέφλεξε τὴν πόλιν[WS 1]), und zwar vermöge des Megarischen Beschlusses. Ebenso erklärt Andokides a. a. O., wegen Megaras sei der Krieg ausgebrochen – διὰ Μεγαρέας πολεμήσαντες – und Ephoros-Diodor führt den Krieg auf Perikles’ Erwägung zurück, dass das Volk ihn dann nothwendig brauchen und auf seine Gegner nicht hören werde. Aber was wollen diese Stellen schliesslich besagen? Aristophanes will beim Volk für den Frieden wirken: da darf er erstens das Volk nicht vor den Kopf stossen; er darf ihm nicht etwa sagen: tua maxima culpa[2], er braucht vielmehr einen Sündenbock. Zweitens muss er die Sache so darstellen, als ob der Krieg eigentlich aus leichtfertigen, unerheblichen Gründen begonnen worden sei und ohne Mühe beigelegt werden könne. So kommt es, dass die Aufrechterhaltung des Megarischen Beschlusses als Kriegsursache hingestellt wird, wofür auch die Erklärung der Spartaner (bei Thukydides I, 139) zu sprechen schien: „Wenn dieser Beschluss aufgehoben werde, so werde wohl – man beachte dies „wohl“! – kein Krieg entstehen“. Andokides nimmt diesen allgemein üblich gewordenen Satz dann einfach an: „Ihr habt wegen Megaras Krieg geführt“. Das passt ihm sehr gut in den Kram, weil er a. a. O. ja zeigen will, wie viele Wohlthaten des Friedens Athen aus geringfügigen Gründen verscherzt habe, und wie sehr die Rückkehr in friedliche Bahnen ihm nützen werde. Was endlich Ephoros-Diodor anbetrifft, so ist er einfach das Echo der Früheren und kommt als selbständiger Zeuge nicht in Betracht.

[147] Befragen wir nun aber über den Ausbruch des Krieges unsere Hauptquelle, Thukydides, so erhalten wir ein ganz anderes, und zwar, wie uns scheint, innerlich durchaus wahrscheinliches Bild[3].

Nach ihm (I, 67) findet auf die Beschwerden der Korinther gegen die Athenische Politik eine Versammlung aller der Bundesgenossen statt, die sich über Athen zu beklagen haben, und die Spartaner beschliessen auf ihre Vorstellungen hin mit grosser Mehrheit, dass die Verträge gebrochen seien. Die Sache kommt aber (I, 119) noch vor die Vollversammlung der Bundesgenossen, deren Masse (τὸ πλῆθος) nun den Krieg beschliesst (I, 125). Etwas anderes war angesichts des Hilferufs, den das nach Sparta mächtigste Bundesglied hatte erschallen lassen, in der That kaum möglich, wenn der Bund nicht politisch abdanken wollte. Athen stand im Begriff, Korinth im Westen gänzlich aus seiner vorwaltenden Stellung zu verdrängen, und was war der Peloponnesische Bund seinen Gliedern noch werth, wenn er sie in solchen Lebensfragen im Stiche liess? Diese Erwägung musste alle Unlust der Binnenländer, sich für die Seestädte zu schlagen[4], in Sparta ersticken. Den Spartanern als Vollstreckern des Mehrheitsbeschlusses – der mit ihrem eigenen Beschluss sich völlig deckte – war nunmehr die Richtung unabänderlich vorgezeichnet, und das Nächstliegende wäre gewesen, sofort den Krieg zu erklären und ihn sofort zu beginnen. Das war aber nicht möglich, weil man noch nicht vorbereitet war (I, 139). Es bestand vielmehr die Gefahr, dass Athen, das mit seinen Kriegsvorbereitungen viel rascher fertig werden konnte, den Peloponnesiern zuvorkam; also musste man es durch Verhandlungen hinzuhalten suchen. Zugleich galt es, die Athener womöglich noch mehr in’s Unrecht zu setzen, indem man ihnen scheinbar nochmals die Hand zum Frieden bot (ὅπως σφίσιν ὅτι μεγίστη πρόφασις [148] εἴη τοῦ πολεμεῖν, ἢν μή τι ἐσακούωσιν[WS 2], I, 140). Zu diesem Zweck wurden die bekannten drei Gesandtschaften nach Athen geschickt, von denen die erste (I, 126) die Beseitigung des Kylonischen Frevels, d. h. die Verbannung des Perikles, die zweite (I, 139) die Aufgabe von Potidäa und Aegina und die Zurücknahme des Megarischen Beschlusses, die dritte aber (I, 139) die Gewährung der Autonomie an die Hellenen, d. h. die Auflösung des Attischen Reiches, forderte. Alle diese Ansinnen waren so ausgedacht, dass ihre Ablehnung vorauszusehen war. Athen konnte sich weder seines Steuermanns in dem Augenblick berauben, wo ein schwerer Sturm heraufzog, noch konnte es Bresche in sein Reich legen, was die Aufgabe Potidäas und Aeginas bedeutet hätte, noch Megara, das auf Korinthischer Seite gegen Korkyra gekämpft hatte (I, 27), dessen Uebelwollen gegen Athen unbedingt gebrochen werden musste, wieder zu seinen Märkten zulassen, noch endlich gar seine Herrschaft ohne Schwertstreich selbst aufgeben. Die Forderung der Aufhebung des Megarischen Beschlusses erscheint, wie man bemerken wird, durchaus nicht allein, sondern sie ist verkoppelt mit dem Verlangen der Freilassung Potidäas und Aeginas: wurde das eine zugestanden und setzte sich Athen damit in’s Licht der Friedensliebe, so rückten die Gesandten ohne Zweifel mit dem zweiten (bezw. ersten) ihnen aufgetragenen Punkte hervor, hinsichtlich dessen es doch wahrlich kein Schwanken, für keinen Athener, geben konnte[5]. Man hatte, wie Beloch erinnert, freilich 445 weit mehr nachgegeben, als die zweite Spartanische Gesandtschaft jetzt forderte; aber das war nach erfolgtem Kriegsausbruch geschehen, als ein feindliches Heer bei Eleusis stand, und gegenüber einem Feinde, der in Wahrheit geneigt war, zu einem Frieden zu gelangen. Wenn Athen damals seine halbe Grossmachtstellung, die zur See, gerettet hatte, so hatte es die andere Hälfte, die festländischen Besitzungen, dafür um so gründlicher verloren. Beloch schwächt die von Athen 445 erlittene Niederlage in unzulässiger Weise ab. Sollte es jetzt auch das ihm 445 Gebliebene – ohne Gegenwehr! – abbröckeln lassen, und zwar einen Theil derjenigen Machtstellung, ohne welche es auf die Stufe Korinths herabsinken musste? Man bedenke ferner, dass hinter den Forderungen der zweiten Gesandtschaft das Verlangen der dritten lauerte, das auf nichts weniger als auf freiwilligen Verzicht Athens auf seine ganze Macht ging: nicht erst beim Königsfrieden, sondern damals schon, [149] fast 46 Jahre früher, war Spartas Losung, wenn es einen ebenbürtigen Gegner entwurzeln wollte, die Autonomie der Hellenen, die alle andern Bündnisse zertrümmerte, nur nicht das Peloponnesische. Beloch erwähnt freilich alle diese Forderungen Spartas auf S. 516 mit keiner Silbe, und so ist allerdings Perikles leicht verdammt. Angesichts der Politik Spartas lässt sich unseres Erachtens doch nur urtheilen, dass Perikles die Sachlage vollkommen richtig auffasste, wenn er seinen Mitbürgern den Rath gab, einem Feinde gegenüber, der hinter geringeren Forderungen nur grössere bereit hielt, der offenbar die Absicht hatte, Athen zu demüthigen und dann es zu vernichten – avilir et après démolir! – von vornherein fest zu bleiben und keinen Schritt breit nachzugeben – μὴ εἴκειν Πελοποννησίοις (I, 140)[6].

Auch Beloch erkennt S. 516 an, dass der Krieg zwischen beiden Mächten früher oder später unvermeidlich war: angesichts dieses Bekenntnisses muthet sein Suchen nach persönlichen Gründen, die Perikles’ Politik bestimmt hätten, nicht anders an, als das Bestreben, die Kriege Ludwig’s XIV. von dem unsymmetrisch gebauten Fenster in Trianon herzuleiten[7]. Wenn Perikles schliesslich von Beloch eigentlich nur noch der Vorwurf gemacht wird, dass er den Krieg nicht gerade in jenem Augenblick hätte herbeiführen sollen, wo Argos vertragsmässig zum Frieden mit Sparta verpflichtet und wo ein Drittel der Athenischen Landmacht vor Potidäa festgehalten war, so antworten wir darauf: war denn Perikles überhaupt in der Lage, den Zeitpunkt des Kriegs nach seinem Gutdünken zu wählen? Kann man denn verkennen, dass Sparta eben wegen dieser beiden Gründe, wegen Argos und Potidäa, ein kapitales Interesse hatte, es jetzt unter allen Umständen zum Bruch zu treiben? Und konnte denn Perikles jemals darauf rechnen, dass angesichts einer drohenden Verwicklung mit Sparta die Bundesgenossen alle ruhig bleiben würden? In jedem solchen Falle gingen, wenn man Mac Mahon’s Wort von 1873 vergleichsweise anwenden darf, die Chassepots von selber los; und was 432 Potidäa that, das that ein paar Jahre später vermuthlich Mytilene. Die inneren Feinde, die Athen mit Mühe bändigte, so lange es mit Sparta im Frieden lebte, erhoben sofort das Haupt, wenn [150] dieser Friede in’s Wanken gerieth, und das Bewusstsein, welches furchtbare Sprengmittel man mit dem Schlachtruf der Autonomie der Hellenen in Händen hielt, hat schliesslich am Eurotas gewiss die Wagschale mit zu Gunsten des Krieges gesenkt. Der losere Spartanische Bund hatte für den föderativen Grundzug des Hellenischen Volkscharakters etwas Anziehenderes als die straffe Organisation des Athenischen Reichs. Aber freilich: Sparta, dessen Symmachie sich auf den Peloponnes beschränkte, der ihm fast zu 2/5 gehörte, konnte seinen Bundesgenossen die Autonomie belassen, da es ihrer ohnehin sicher war. Athen, das die Wacht gegen Persien halten musste, dessen Reich weithin verzweigt war, musste ein strafferes Band um seine Bundesgenossen legen und sie zu Unterthanen machen. Mit einem Wort also, der Krieg war 431 nicht länger zu verschieben; es bleibt Perikles’ Ruhm, dass er nicht schwächlich verhandelte und zurückwich bis zum Rande des Abgrundes, sondern den Handschuh offen, ja gelassen aufnahm. Selbst wenn die Frage, wer in Megara Herr sein sollte, Sparta oder Athen, schliesslich den Hauptpunkt des Streits gebildet haben sollte, so wäre es doch auf alle Fälle nur ein Beweis dafür, dass die Gegner allmählich so aufeinander stiessen, dass ein Ausgleich auf friedlichem Wege nicht mehr möglich war.

Aber auch Perikles’ Kriegführung im Jahre 431 ist nicht ernsthaft anzufechten. Was hätte denn eigentlich so „sehr viel mehr“ geschehen sollen? Beloch setzt ja selbst auseinander, dass ein Drittel der Attischen Landmacht in Thrakien stand; ein weiteres Drittel musste doch mindestens in Attika zurückbleiben, das sonst von Theben aus schwer gefährdet war, und mit dem letzten Drittel hat Perikles genug geleistet: der Peloponnes und Megara wurden verheert, Kephallenia zum Anschluss an Athen bewogen, also eine weitere Station im Westen gewonnen, Sollion erstürmt und Aeginas Bewohner ausgetrieben. Es war eine schneidende Antwort auf die Forderungen der zweiten Spartanischen Gesandtschaft ertheilt: Megara, statt wieder zum Verkehr mit Athen zugelassen zu werden, war schwerer als je heimgesucht, und die Aegineten waren frei – wie die Vögel in der Luft. Beloch findet denn auch auf einmal S. 526 selbst: „Perikles hatte, alles in allem genommen, doch Ursache, mit den Ergebnissen dieses ersten Feldzuges nicht unzufrieden zu sein“. Ganz einverstanden: wozu aber dann vorher der Lärm, „dass im ersten Kriegsjahr sehr viel mehr hätte geschehen können“?

Beloch ist gewiss ein von grossen Gesichtspunkten ausgehender, geistvoller und kenntnissreicher Geschichtschreiber. Aber er ist in hohem Masse von der jetzt umgehenden Sucht angesteckt, die bisherigen Autoritäten zu stürzen, „die Mächtigen von ihren Thronen zu [151] stossen“. Sind diese Autoritäten wirklich innerlich morsch, so kann freilich nichts Besseres und Dringlicheres geschehen, als dass man sie umwirft – dann mag Thukydides immerhin fallen und Perikles, den er, der conservative Mann (Beloch, S. 513), so verehrte, mit ihm. Aber wir haben nicht den Eindruck, dass das, was man Jahrhunderte lang angenommen hat, so bald dahinfallen wird – über die massvolle Kritik Nissen’s (a. a. O. S. 420 ff.) über Thukydides und Perikles wird die Wissenschaft kaum hinauskommen – und wir halten es für sehr wahrscheinlich, dass der „Perikles-Cultus“ noch oder wieder „in schönster Blüthe stehen“ wird, wenn man von den heutigen Antiperikleern höchstens noch die Namen in gelehrten Handbüchern finden wird. Ein Wort, das Ernst Maass in Greifswald neulich gegenüber einem auch geistreichen Versuch, die Scävolasage auf die Stoiker und ihr Prahlen mit der ἀπάθεια zurückzuführen, in der Deutschen Literaturzeitung geschrieben hat (1893, Sp. 1355), scheint uns äusserst beherzigenswerth und mutatis mutandis auch in unserem Fall anzuwenden: „Die Wissenschaft muss diese Art galoppirender Methode auf das Entschiedenste ablehnen“.

G. Egelhaaf.     

Anmerkungen

  1. G. Egelhaaf, Analekten zur Geschichte. Stuttgart, Kohlhammer. 1886. Stück 1: Die kriegerischen Leistungen des Perikles (S. 1–30).
  2. Wie dies Nissen (Hist. Zeitschr. 63, 418) mit Recht betont: „die ganze Bürgerschaft theilte die Verantwortlichkeit“.
  3. Nissen hat in der Hist. Zeitschr. 63, 385–427 den Ausbruch des Peloponnesischen Krieges in seiner ebenso selbständigen als vorsichtigen, durchaus auf solidem Untergrund ruhenden Weise behandelt und in Perikles’ Bestreben, die 445 verlorene Position namentlich durch Wegnahme Megaras wieder zu gewinnen, den letzten Grund des Krieges erkannt. Thukydides hat nach ihm den Zusammenhang nicht gefälscht – das thut er nie –, aber durch Verschweigen verdunkelt. So viel Vorzügliches Nissen’s Aufsatz enthält, so weiche ich doch in dem Grundgedanken von ihm ab, sofern ich den Zusammenstoss für etwas Unvermeidliches ansehe und also mich nicht davon überzeugen kann, dass eine andere Politik Athens in den Fragen des Westens und Megaras den Krieg verhütet hätte. Die Streitfrage ist ähnlich wie die, ob der Krieg des revolutionären Frankreich gegen das alte Europa von der Gironde verschuldet oder unabwendbar war.
  4. Nissen S. 412.
  5. Es ist richtig, dass in den Verhandlungen das Verlangen wegen Aeginas und Potidäas keine weitere Rolle spielt: aber dass es von Sparta geradezu „ohne sonderliches Sträuben fallen gelassen worden sei“ (Nissen, S. 413), sagt Thukydides I, 1339 nirgends.
  6. Die Ansicht von den sogen. friedlichen Neigungen Spartas wird unseres Ermessens eben dadurch widerlegt, dass es nicht bloss auf die Megarische Sache sich beschränkte, sondern noch Härteres in Bereitschaft hatte.
  7. Nissen sagt dann auch S. 408, „dass diese Verleumdungen uns jetzt abgeschmackt klingen“ und sie nach 431 in Athen bloss desshalb Glauben finden konnten, weil man ein Opfer suchte, dem Athens Unglück aufgeladen werden sollte.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: πρὶν αὐτὸς παθεῖν τι δεινόν
  2. Vorlage: ἐσακούσωσι