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Autor: Carl Weyman
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Titel: Der Titel der Germania
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aus: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft Bd. 11 (1894), S. 151–154.
Herausgeber: Ludwig Quidde
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1894
Verlag: Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr
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Erscheinungsort: Freiburg i. B. und Leipzig
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Quelle: Scans auf Commons
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[151] Der Titel der Germania. Während von den beiden neuesten Bearbeitern der Römischen Literaturgeschichte der eine (L. Schwabe bei Teuffel II5, 839) im Anschluss an eine Vermuthung August Reifferscheid’s als den „wahrscheinlich“ ursprünglichen Titel der Germania des Tacitus „de situ Germaniae“ betrachtet, und der andere (M. Schanz II, 368) sich einer bestimmten Meinungsäusserung enthält, hat kürzlich E. Wölfflin (Rhein. Mus. XLVIII [1893], 312 f.) unter Zurücknahme seiner früheren Ansicht[1] sich für die vollständige Beibehaltung der durch den codex Leidensis gebotenen Fassung „de origine, situ, moribus ac populis Germanorum“ ausgesprochen, und als gewichtigen Zeugen für letztere den Cassiodorius, einen Benützer der Germania, vorgeführt, welcher nach der Angabe des Anecdoton Holderi (ed. Usener) S. 4, 27 f. „scripsit praecipiente Theodoricho rege historiam Gothicam, originem eorum et loca moresque XII libris annuntians“. „Da Cassiodor keinen Anlass hatte, von den Völkern der Gothen zu reden, wie Tacitus im zweiten Theile seiner Schrift von den Völkerschaften der Germanen, so zeugt sein Titel nicht gegen ‚populis‘, sondern geradezu für die viergliedrige Ueberschrift des codex Leidensis“. Ich bin mit Wölfflin vollkommen einverstanden, will aber versuchen, da die Frage – für uns Deutsche [152] wenigstens – nicht von untergeordnetem Interesse ist, der Sache von einer anderen Seite beizukommen und der schützenden Nachahmung eine Analogie aus früherer Zeit, vielleicht sogar ein Vorbild, an die Seite zu stellen.

Im 10. Buche der Pharsalia des Lucanus v. 176 ff. fordert der wissbegierige Cäsar den greisen Aegyptischen Priester Achoreus[2] mit folgenden Worten zur Schilderung seines Heimathlandes auf:

„O sacris devote senex, quodque arguit aetas,
Non neclecte deis, Phariae primordia gentis
Terrarumque situs volgique edissere mores
Et ritus formasque deum“.

Glücklicher- oder unglücklicherweise jedoch sieht er sich alsbald zu einer Beschränkung seiner Wünsche veranlasst und heischt in erster Linie Belehrung über den Nil (v. 189 ff.):

 „nihil est quod noscere malim,
Quam fluvii causas per saecula tanta latentis
Ignotumque caput; spes sit mihi certa videndi
Niliacos fontes: bellum civile relinquam“.

Achoreus zögert nicht, dem Gewaltigen durch einen v. 194–331 umfassenden Vortrag über Nilschwelle und Nilquellen zu willfahren, für welchen der Dichter, wie erst vor einigen Jahren nachgewiesen wurde[3], das Material zum grössten Theile aus den „naturales quaestiones“ seines Oheims, des Philosophen Seneca, entlehnt hat. So oft ich nun die an erster Stelle citirten Verse lese, kann ich mich des Eindruckes nicht erwehren, dass Lucanus mit denselben auf den Titel einer geographisch-culturgeschichtlichen Prosaschrift über das „Wunderland der Pyramiden“ angespielt habe. Als Verfasser einer solchen tritt uns abermals Seneca entgegen, welcher nach einer Angabe des Vergiliuserklärers Servius (zu Aen. VI, 154; vgl. die Berner Scholien zu Luc. X, 323, ed. Usener p. 328), an welcher keine kritische Operation vorzunehmen ist, „de situ et sacris Aegyptiorum“[4] geschrieben [153] hat. Für den Titel der Schrift[5] kann Servius allein, der hier offenbar kein bibliographisch treues Citat gibt, unmöglich massgebend sein, was aber ihren Inhalt betrifft, so lehrt das einzige durch Servius a. a. O. (vgl. Hase’s Seneca-Ausgabe III, p. 420) erhaltene Fragment, verglichen mit nat. quaest. IV, 2, 7, dass derselbe sich sehr nahe mit dem der „physikalischen Fragen“ berührt haben muss, ja Diels[6] bezeichnet das Buch über Aegypten, zu welchem der Verfasser jedenfalls durch seinen Aufenthalt an Ort und Stelle angeregt wurde, geradezu als eine Vorarbeit für den entsprechenden Theil der naturales quaestiones. Hat nun von vornherein die Vermuthung, dass der Neffe auch das ältere, als Specialstudie doch wohl in dem einen oder anderen Punkte reichhaltigere Werk des Oheims nicht ganz unberücksichtigt gelassen habe, eine gewisse Wahrscheinlichkeit für sich, so drängt sich dieselbe noch stärker auf, wenn wir beachten, dass nicht alle Züge der Lucanischen Schilderung aus den naturales quaestiones hergeleitet werden können, und Diels z. B. bei der Besprechung von v. 255 ff. es für „viel wahrscheinlicher“ erklärt, „dass die entsprechende Stelle des Seneca uns verloren ist“[7]. Aber mag auch die Benützung der fraglichen Schrift eine minimale gewesen sein, ja mag sie überhaupt nicht stattgefunden haben, so bleibt für mich trotzdem nicht nur die Möglichkeit, sondern die höchste Wahrscheinlichkeit bestehen, dass Lucanus, wenn er den Cäsar sich nach Aegyptens primordia, situs, mores und ritus erkundigen lässt, auf Seneca’s Buch über Aegypten anspielt und damit seinem Oheim und Gewährsmann den schuldigen Dank abstattet. Der Titel der späteren Schrift konnte ja zu einer derartigen, den literarischen Verhältnissen der Zeit gewiss nicht widersprechenden Höflichkeit schwerlich verwendet werden. Sollte aber die Anspielung ihre Wirkung nicht verfehlen, [154] so musste sie verständlich sein, d. h. sie durfte sich nicht weit von dem wirklichen Buchtitel entfernen, und so wage ich es, indem ich Lucan’s „ritus formasque deum“ unter den von Servius dargebotenen Begriff „sacra“ zusammenfasse, Seneca’s verlorenem Buche die Ueberschrift „de primordiis (origine?) situ, moribus et sacris Aegyptiorum“ beizulegen[8]. Wer mir bis hieher gefolgt ist, wird auch den letzten Schritt noch mit mir thun: Tacitus, der nicht nur in seiner ganzen Weltanschauung von Seneca beeinflusst ist, sondern auch durch zahlreiche sachliche und sprachliche Einzelheiten seine gründliche Vertrautheit mit den Werken des Philosophen an den Tag legt[9], hat mit einer in der Natur des Gegenstandes begründeten Aenderung den Titel seiner Schrift über Germanien nach dem Titel von Seneca’s Schrift über Aegypten gestaltet. Der Römer, den man einst mit Unrecht zu den ersten Christen gezählt hat, und der Christ, den man heute noch mit Recht zu den letzten Römern rechnet, beide treten sie ein für die viergliedrige Ueberschrift des codex Leidensis.

Carl Weyman.     

Anmerkungen

  1. Im Hermes XI (1876), 126 f. hatte er mit eklektischer Benützung des Leidensis „de situ ac populis Germaniae“ befürwortet.
  2. Vgl. über den Namen H. Diels, Seneca und Lucan (Abhandlungen der Berliner Akademie von 1885) S. 6 Anm. 1. Der neueste Herausgeber der Pharsalia, C. Hosius, nach dessen Ausgabe (Lips. 1892) ich oben citire, schreibt nach der massgebenden Ueberlieferung „Acoreus“.
  3. Diels a. a. O. Einige Modificationen bei C. M. Francken, Lucanus de Nilo (Mnemosyne N. F. XXI (1893) 315 ff.)
  4. Die sogen. Danielischen Scholien fügen vor „sacris“ ein „de“ ein. – An die Conjectur von F. Osann und F. Glöckner, welche für „situ“ „ritu“ schreiben wollten (vgl. Teuffel-Schwabe II5, 697, wo ohne Grund bemerkt wird „richtiger vielleicht de situ et sacris Aegypti“), glaubt jetzt wohl niemand mehr. Auch Glöckner’s Versuch, die Schrift über Aegypten als einen Abschnitt der Schrift „de superstitione“ zu erweisen, ist verfehlt. (Bei Augustinus, De civ. dei VI, 10, p. 268, 18 D2 heisst „in sacris Aegyptiis“ gewiss nicht „bei Besprechung Aegyptischer Religionsgebräuche“.)
  5. Mit der Stelle des Tortelli (geb. zu Arezzo gegen 1400, gest. vor 1466; vgl. Nouv. Biogr. gén. XLV, 512 f.) „quem [Callimachum] secutus est Seneca in libro, quem de sacris Aegyptiorum composuit“ (Comment. de orthogr. ed. Osann, Giessen 1829 p. 4 = O. Schneider, Callimachea II, p. 693) weiss ich nichts anzufangen.
  6. a. a. O. S. 29.
  7. a. a. O. S. 15. Vgl. O. Ribbeck, Gesch. d. Röm. Dicht. III, 119. Francken a. a. O. p. 320. Der letztere ist in analogem Zusammenhange auf die Schrift über Aegypten gerathen, weist aber den Gedanken sofort wieder ab.
  8. Zu „situs Aegyptiorum (Germanorum)“ vgl. Tacitus ann. IV, 33 „situs gentium“. Vgl. ferner „originem, mores“ (von einer Person) verbunden bei Tac., ann. IV, 1, auch „mores gentium, regionum situs“ Plinius, paneg. 15; vgl. Vellejus Paterculus II, 96, 3 (nach Sallust, Jug. 17, 1?).
  9. M. Zimmermann, De Tacito Senecae philosophi imitatore (Breslauer philologische Abhandlungen V, 1. 1889), bes. p. 54 f. und 67.