Zum fünfzigjährigen Todestage Franz Schubert’s

Textdaten
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Autor: La Mara
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Titel: Zum fünfzigjährigen Todestage Franz Schubert’s
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aus: Die Gartenlaube, Heft 48, S. 794–798
Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1878
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Zum fünfzigjährigen Todestage Franz Schubert’s.
Von La Mara.

Fünfzig Jahre haben sich am 19. November dieses Jahres erfüllt, seit Franz Schubert, der große Meister des deutschen Liedes, sein Haupt geneigt zum ewigen Schlummer und sich seine sangreichen Lippen geschlossen. Vor der Zeit, in der Blüthe der Manneskraft, noch bevor er sein Tagewerk vollenden durfte, ward ihm sein Ziel gesetzt, zu früh für ihn selbst, den die Sonne des Glücks noch nie mit ungebrochenem Glanze beschienen, zu früh auch für die Welt, die ihn verlor, noch bevor sie wußte, was sie in ihm besessen. Keins der Güter, die das Schicksal seinen Lieblingen in den Schoos wirft, weder Geld, noch Ruhm, noch Liebesglück, ward ihm zu Theil. Der Beifall der Menge und die Gunst der Großen dieser Erde dankten ihm nicht für seine Wundergaben. Arm und unbeachtet ging er, der Tönereiche, dahin durch das Leben; nur sich selbst zur Lust sang er, weil er nicht anders konnte, bis der Tod ihm, dem Unermüdlichen, Schweigen gebot. In Wahrheit, den Vorwurf, der uns aus mehr als einem Grabe unsrer künstlerischen Größen entgegenklingt: daß unser Volk erst den Todten die verspätete Schuld der Dankbarkeit und Anerkennung zu entrichten pflegt, die es den Lebenden kargend vorenthielt, wir empfinden ihn in seiner ganzen Schwere an Franz Schubert’s Gruft. Heute freilich, wo sein Name in Aller Herzen, seine Lieder in Aller Munde leben, wo wir stolzen Blickes auf sein reiches Vermächtniß schauen als auf einen uns längst gesicherten unveräußerlichen Besitz, bedenken wir kaum, daß jedes einzelne der fünfzig Jahre, die seit des Meisters frühem Tod verflossen, daran mitwirken mußte, uns den Werth dieses Besitzes in’s Bewußtsein zu bringen, ja diesen Besitz selbst erst zum großen Theil an’s Licht zu fördern. Jahr um Jahr erwachen seinem Genius neue Freunde und Verehrer; Jahr um Jahr hebt man neue Schätze aus seinem Nachlaß. Und dennoch ist bis auf diesen Tag die große Erbschaft noch nicht ganz gehoben. Noch immer harrt ein Theil seiner Werke der Veröffentlichung, und kommenden Tagen erst bleibt ein vollständiger Ueberblick über die Gesammtthätigkeit dieses fruchtbarsten Künstlers vorbehalten.

„Wenn Fruchtbarkeit,“ sagt Robert Schumann, „ein Hauptmerkmal des Genies ist, so ist Schubert eines der größten.“ Aber nicht allein die Menge, viel mehr noch die Bedeutung seiner Gaben haben ihm den Platz neben den besten und größten unsrer Tondichter erworben, den man dem Todten wenigstens willig einräumt. Einer der ersten Meister der nachclassischen Periode, einer der vornehmsten Vertreter der romantischen Richtung, die, wie auf dem Gebiete der Schwesterkünste, Poesie und Malerei, so auch auf dem der Musik Leben gewann und im Gegensatz zum Classicismus in das Vorwalten des Inhalts über die Form, in den Triumph des Geistes über das Gesetz ihr Wesen setzt, trägt Schubert nichtsdestoweniger gar Manches vom Classiker an sich. Die lautere Naivetät seines Schaffens, die krystallhelle Klarheit seiner Gebilde, ihre Leichtigkeit und Freiheit von allem Erdendrucke gemahnen an die heitere Ruhe classischer Gestaltungsweise und lassen es nicht vergessen, daß seine Jugend mit dem goldnen Zeitalter der Tonkunst zusammenfiel. Seinem innersten Wesen nach freilich ist er echter Romantiker. Die Welt tief inniger, in sich geläuterter Empfindung ist es, in der seine Sangesweise heimisch ist. Die ganze Scala der Gefühle, vom Lächeln der Freude bis zum Ausbruch der Verzweiflung, beherrscht [795] er mit sicherer Hand. Was die Menschenbrust bewegt an Last und Leid, das klingt er in Tönen aus. Zwar ist von den Sonnenstrahlen, die seinen Sang durchleuchten, wenig zu spüren in seinem Leben; ein um so treuerer Gefährte war ihm der Schmerz, und aus thränenreicher Saat sind ihm viele seiner unvergänglichsten Gebilde aufgegangen. Bekennt er doch selbst in seinem Tagebuch: „Jene meiner Erzeugnisse, welche der Schmerz allein erzeugt hat, scheinen die Welt am meisten zu erfreuen.“

Ueberblicken wir die reiche Fülle seiner Schöpfungen, so gewahren wir keine Kunstart, von der höchsten herab bis zur geringsten, deren Pflege er nicht aufgenommen hätte in sein künstlerisches Tagewerk. Einige seiner Compositionen für Kammermusik, wie die Quartette in A-moll und D-moll, die beiden Trios, das tiefpoetische Streichquintett, und seine letzte große Symphonie behaupten eine bleibende Stelle unter den Meisterwerken unserer Musikliteratur. Seine eigenste Sphäre aber bleibt das Lied; als Schöpfer desselben im modernen Sinne hat er seine höchste Bedeutung gewonnen. Sein eigentlichster Inhalt culminirte eben in lyrischen Gaben, ja seine kunstgeschichtliche Mission wies ihn auf die Entwickelung einer Kunstform hin, die in geringerem Grade als die andern Musikgattungen von der Hand der großen classischen Meister die Weihe der Vollendung empfangen hatte. Die Voraussetzungen zu einem musikalischen Liederfrühling hatten sich erfüllt. Einen Blüthenreigen ohne Ende hatte die lyrische Poesie unseres Vaterlandes im Anschluß an Goethe hervorgezaubert, welcher nur der Wiedergeburt in Tönen zu harren schien. Desgleichen war das geistige und technische Wesen des begleitenden Instrumentes, dank Beethoven, der dem Clavier bereits seine unsterblichen Sonatendichtungen anvertraut, zur Genüge ausgebildet und geschmeidigt worden, um das gesungene Wort durch den vollen Reichthum der Harmonie und Figuration zu unterstützen. So brauchte Schubert sich nur der vorgefundenen Errungenschaften zu bemächtigen, um die Tonkunst einer neuen Phase der Entwickelung zuzuführen und jene vorzugsweise lyrische Epoche einzuleiten, die sich in Musik und Poesie bis in die Gegenwart hineinzieht.

Nicht Reflexion oder ästhetische Speculation führte ihn dazu, das Wesen des Liedes zu vertiefen, seinen Inhalt geistig zu erweitern, es nach der Seite der Charakteristik und lyrischen Dramatik hin auszubauen: ihn leitete dabei einzig der ihm eingeborene künstlerische Instinct. Eine unglaublich üppige, leidenschaftlich erregte Phantasie, eine eigenthümlich malerische Gestaltungsgabe drängten zum Ausfluß; sie verlangten so zu sagen die Inscenirung jedes Sujets; das Lied erweiterte sich unwillkürlich zur Scene, ohne darum doch seines lyrischen Grundcharakters verlustig zu gehen. Mit unerschöpflicher Sangeslust begabt, über einen Melodienschatz verfügend, dem sich an Unversiechlichkeit kaum ein anderer als derjenige Mozart’s vergleichen läßt, flossen seine Lippen über von Liedern ohne Ende. Jeder Vers, den seine Hände berührten, verwandelte sich zum fertigen Tongebild. Fast wahllos gestaltete er aus der Ueberfülle eines nahezu unbegrenzten Vermögens heraus, das ihn nirgends an Beschränkung mahnte. So schuf er rastlos auf inneres Geheiß, voll jener Naivetät und Unmittelbarkeit, die den Genius unbewußt das Rechte treffen, ihm Glück und Schmerz zum künstlerischen Segen, zum Gewinn für sich und die Nachwelt gedeihen läßt.

Was Wunder, da eben die Kunstart, der er seine Pflege vorzugsweise widmete, eine specifisch deutsche ist, daß seine Lieder vor Allem ihn zum Liebling des deutschen Volkes gemacht, daß er durch sie demselben an’s Herz gewachsen ist? Volksthümlicher als er ist kein andrer Sänger geworden. Oder wo fände sich ein Kunstlied, das sich an Popularität mit dem „Erlkönig“ oder dem „Wanderer“, dem „Ständchen“ oder den „Müllerliedern“ messen dürfte? Mußte er auf instrumentalem Gebiet noch einen Andern, Höheren, wenn auch keinen Geringeren als Beethoven über sich erkennen, im Bereich des Liedes hat er den höchsten Gipfel erklommen; nur neben und mit, nicht über ihm sind die nach ihm kommenden Liedergrößen, Robert Schumann und Robert Franz, zu nennen. Sie stehen neben einander als ebenbürtige Genossen – die reichste, ursprünglichste Musiknatur unter ihnen aber war gleichwohl der Erstgeborene. Der Einfluß ihrer Zeit, die moderne vielseitigere Bildung, philosophische Schulung und poetisirende Neigung wiesen die beiden Jüngeren in neue Bahnen und ließen sie, im Gegensatz zu ihm, dem das rein Musikalische als das Wesentlichste galt, das Lied mehr von der poetischen Seite erfassen, die dichterische Intention mehr in den Vordergrund stellen. Ihrer reflectirenden Art gegenüber tritt seine naive Unmittelbarkeit in’s hellste Licht. Mit ihm aber, so scheint es, kam der Tonkunst die Naivetät nunmehr für lange abhanden. Absichtslos und selbstgenügsam, geräuschlos und still wie die Natur selbst, waltete schaffend sein Genius; still und geräuschlos, selbstgenügsam wie sein Wirken stellt sich auch sein äußeres, persönliches Leben der Betrachtung dar.

Als schlichter Eltern Kind kam Franz Schubert am 31. Januar 1797 auf die Welt[1]. Sein Vater, der Sohn eines Bauern aus Oesterreichisch-Schlesien, leitete in Lichtenthal, einer Vorstadt Wiens, eine Trivialschule; seine Mutter, Elisabeth geborerne Fitz, hatte ehemals als Köchin gedient. Unter vierzehn Kindern, mit denen der Himmel, überreich für ihre dürftigen Verhältnisse, sie gesegnet hatte und zu denen dem Vater später in zweiter Ehe noch fünf hinzugeboren wurden, ward ihnen Franz als vierter Sohn geschenkt. Mangel und Sorgen zu Gefährten, wuchs er auf, und nur das Angebinde, das die Musen ihm in die Wiege gelegt, verklärte von früh an sein Dasein. Der Vater in Gemeinschaft mit dem älteren Bruder Ignaz machte ihn auf Clavier und Violine heimisch; dann nahm der regens chori Michael Holzer ihn im Gesang und Generalbaß, wie auf Pianoforte und Orgel unter seine Flügel. Mit Rührung versicherte der Lehrer, einen solchen Schüler noch niemals gehabt zu haben, der wie Franz „die Harmonie im kleinen Finger habe“, und frischauf begann der Knabe schon zu componiren. Elf Jahre alt, war er bereits als tüchtiger Sopransänger und Geiger auf dem Chor der Lichtenthaler Pfarrkirche thätig; bald darauf (im October 1808) trat er als Sängerknabe in die kaiserliche Hofcapelle und zugleich als Zögling in das Wiener Stadtconvict ein. Bei den vorhergegangenen Prüfung hatte er das Interesse der beiden Hofcapellmeister Salieri und Eybler derart erregt, daß seine Aufnahme sofort erfolgte. Schenkte er den übrigen Unterrichtsgegenständen nur geringe Aufmerksamkeit, sodaß sogar öftere Nachprüfungen nothwendig wurden, so war das musikalische Treiben im Convict seiner Entwickelung nach dieser Richtung um so förderlicher. Durch die daselbst alltäglich stattfindenden Aufführungen, bei denen er zuerst als Violinspieler, später als Dirigent mitwirkte, lernte er die Schöpfungen der classischen Meister kennen und seinen Tonsinn an denselben bilden, wie es denn vor allem die Werke Beethoven’s waren, die ihn mit Begeisterung erfüllten. Anderseits wurde ihm dort zugleich die willkommene Gelegenheit geboten, seine eigenen Compositionen zu Gehör zu bringen.

Als dreizehnjähriger Knabe hatte er sich bereits in allen Gattungen seiner Lieblingskunst versucht, und nie kehrte er im Elternhause, wo er seine Ferientage zu verleben pflegte, ein, ohne für die von Vater und Brüdern regelmäßig mit ihm betriebenen Quartettübungen eine Gabe in Bereitschaft zu haben. Seit ihn, den gänzlich Mittellosen, die Wohlthätigkeit eines Freundes mit dem unentbehrlichen Notenpapier versorgte, überließ er sich sorglos seinem jugendlichen Schaffensdrang. Ein glücklicher Zufall führte eins seiner Lieder: „Hagar’s Klage“, in Salieri’s Hände und bestimmte diesen, ihm in Musikdirector Ruczizka einen besonderen Generalbaßlehrer zuzuweisen. Aber auch der neue Meister erklärte nur zu bald, daß sein Schüler schon Alles wisse. „Der,“ meinte er, „hat’s vom lieben Gott gelernt.“ So übernahm denn Salieri fortan die Ausbildung des ungewöhnlichen Talentes in höchsteigener Person. Der Unterricht bei ihm ward noch Jahre lang fortgesetzt, selbst nachdem Schubert im Herbst 1813 das Convict verlassen hatte, damit er auf Wunsch des Vaters diesen im Schulhaus als Hülfslehrer unterstütze. Er hörte nicht auf zu schaffen und zu gestalten, selbst unter dem bleiernen Druck eines Berufs, den er nur unter härtesten Kämpfen auf sich genommen, um dem Gebot des Vaters und der Sorge für seine Existenz zu genügen. Gerade in jene Zeit bitterster Qual und opfervollster Entsagung fällt, wundersam genug, das quantitativ reichste Jahreserträgniß seines Künstlerlebens. Ueber die Productivität des Jahres 1815 ist keins der späteren hinausgekommen. Weist es doch beispielsweise mehr als hundert Lieder, darunter den „Erlkönig“, die Gesänge Ossian’s und die Mignonlieder, zwei Symphonien, zwei Messen, verschiedene [796] große und kleine Kirchencompositionen, Clavier- und Kammermusik und nicht weniger als sieben Opern und Singspiele aus. Die dramatische Erstlingsthat des jungen Meisters: „Des Teufels Luftschloß“, reicht noch ein Jahr weiter zurück. Einige andere Opern, mit ihnen die umfänglichsten: „Alfonso und Estrella“ und „Fierrabras“, entstanden einige Jahre später. Sie alle aber blieben, mit Ausnahme des vorletzt genannten Werkes, das Liszt auf der Weimarer Bühne für kurze Zeit in’s Leben rief, und der kleinen Operette: „Der häusliche Krieg“, die nach Schubert’s Tode hier und dort ohne sonderlichen Erfolg in Scene ging, sowie dreier bescheidenerer Arbeiten, deren Aufführung er selbst noch erlebte, zu ewigem Schweigen verurtheilt. Bühnengemäß geartet – das beweisen sie zur Genüge – war die Tonsprache des großen Lyrikers nicht, so dramatisch sie im engen Rahmen des Liedes erscheint. Aber wer sagt, ob er, hätte die Bühne sich nicht hartnäckig seinen Werken verschlossen, nicht vielleicht im Umgang mit ihr gelernt hätte, sich ihren Forderungen erfolgreich zu fügen?

Vier Jahre hatte Schubert selbstverleugnend das schwere Joch der Schulmeister getragen; da endlich kam ihm die Erlösung. Ein gastfreier Freund, Franz von Schober (er lebt gegenwärtig noch in Dresden), bot ihm Aufnahme in seinem Hause; bei ihm fand er hinfort, mit geringer Unterbrechungen nur, eine bleibende Zufluchtsstätte. In der heitern Tafelrunde der Genossen Schober’s – unter ihnen die Dichter Mayrhofer, Bauernfeld, Feuchtersleben, die Maler Schwind, Kupelwieser, Ludwig Schnorr von Carolsfeld, die Musiker Franz Lachner und Hüttenbrenner – feierte er allabendlich seine frohesten Stunden. Hier überließ er sich, so tief melancholisch er zu Zeiten sein konnte, seiner natürlichen harmlosen Lustigkeit. Von weittragendstem Einfluß auf seine künstlerische Entwickelung aber ward der intime Verkehr mit Vogl, dem ersten Bariton der Hofoper, der sich ihm um diese Zeit erschloß. Die Liederschätze, die in der stillen Arbeitsstube des jungen Tondichters vergraben lagen, trug der gefeierte Sänger hinaus in Salon und Concertsaal und sorgte besser als ihr um seinen Ruhm unbekümmerter Schöpfer für ihren Weg in die Welt und das Bekanntwerden seines Namens. Von Franz selbst als der erste und ausgezeichnetste Interpret seiner Lieder geschätzt, ihm an Kenntnissen und umfassender wissenschaftlicher Bildung weit überlegen, wirkte der um fast dreißig Jahre Aeltere vielfältig belehrend und rathend auf den genialen Freund ein, dessen schlichte Erziehung ihn nicht über das Maß einer gewöhnlichen Durchschnittsbildung seiner Zeit hinausgeführt hatte. Der Eine singend, der Andere begleitend, waren sie Beide allenthalben willkommene Gäste, zogen sie im Sommer auch als fahrende Sänger durch Oberösterreich und das Salzkammergut, überall offene Thüren und Herzen findend.

Eben diese wiederholten Künstlerfahrten mit Vogl und einige wenige nähere Ausflüge zu oder mit Freunden abgerechnet, kam Schubert sein Lebtag nicht über Wien hinaus. Nur in Zelecz, dem ungarischen Sommeraufenthalt der gräflichen Familie Esterhazy, ließ er sich mehrmals monatelang fesseln. So gern seine schüchterne, in geselligen Formen unbeholfene Natur sonst dem Verkehr mit vornehmen Häusern aus dem Wege ging, so widerwillig er, der allem Zwange Abholde, im Uebrigen jede Aufforderung zum Unterrichtertheilen ablehnte, in diesem Falle entschloß er sich zu einer Ausnahme von der Regel. Er verkaufte seine goldene Freiheit um der Liebe willen, die er für Caroline, die jüngste Tochter des Grafen, gefaßt hatte und die ihn bis zur letzten Stunde seines Lebens als die einzig unwandelbare begleitete. Das Glück der Erwiderung freilich blieb ihm versagt, und sie, die das Feuer in der erregbaren Künstlerseele entfacht, ahnte wohl kaum die ganze Gewalt desselben. Wenigstens störte kein Bekenntniß seiner Leidenschaft das ruhige Gleichmaß der freundschaftlichen und künstlerischen Hochachtung, die sie ihm zollte, und wer mag sagen, ob ihr nicht auch die volle Bedeutung des Wortes verborgen blieb, das ihm einst entschlüpfte, als sie ihm scherzend vorwarf, daß er ihr nicht ein einziges seiner Werke zugeeignet habe, jenes: „Wozu denn? Ihnen ist ja ohnehin Alles gewidmet.“ Für sie ist unter Anderem eines seiner schönster Clavierstücke: die vierhändige Phantasie in F-moll (Op. 103) geschrieben. Aber auch mit andern seiner Compositonen, wie beispielsweise mit seinem reizenden Divertissement à la hongroise, verknüpft sich die Erinnerung an sie und das musikreiche Haus, das ihm die sonnigsten Tage und Stunden seines Lebens spendete.

Im Uebrigen ging sein Dasein nach wie vor in stiller Zurückgezogenheit und rastloser Arbeit dahin. Und doch, von dem, was man gemeinhin Arbeit nennt, von mühseligem Aufbauen, war bei ihm keine Rede. Fertig „wie ein holdes Wunder“ löste sich das Kunstwerk aus seiner Seele. Wo haben die Leichtigkeit und Massenhaftigkeit seiner Production in der Geschichte der Tonkunst ihres Gleichen? Von der „Schönen Müllerin“ wird uns erzählt, wie Schubert bei einem Bekannten die Gedichte Wilhelm Müller’s fand und eilig mit sich nach Hause nahm, um am andern Morgen schon dem erstaunten Freund die Composition der ersten fünf „Müllerlieder“ vorzulegen. Die übrigen Gesänge des ewig jungen frühlingsduftigen Cyclus wurden während einer Krankheit im Hospital vollendet. Den „Erlkönig“ schrieb der achtzehnjährige Jüngling nach mehrmaligem Durchlesen der Dichtung in einem Zuge nieder. Der „Zwerg“ entstand inmitten eines Gesprächs mit einem Freunde, das „Ständchen“ („Horch, horch“) wurde im Tumult eines Gasthauses auf’s Papier geworfen. Umfangreiche Kirchenstücke, Symphoniesätze, Opernacte waren das Resultat weniger Tage.

Die Früchte seines Schaffens zu ernten nur war ihm leider nicht beschieden. Seine Bewerbungen um eine öffentliche Anstellung in Laibach und Wien blieben erfolglos. Spät und spärlich nur gelangten bei seiner Lebzeiten einzelne seiner Werke zur Aufführung – er mußte bis zum Jahre 1819 warten, bis überhaupt eine seiner Compositionen, das Lied „Schäfers Klage“, zum ersten Mal in den Concertsaal eindrang. Ein einziges Mal nur in seinem Leben trat er auf Zureden seiner Freunde als Concertgeber vor das Publicum und führte einige seiner Compositionen den Wienern vor. Das glänzende Ergebniß forderte zu einer Wiederholung auf; aber sie kam erst nach seinem Hinscheiden zu Stande und lieferte die Mittel, ihm einen Grabstein zu setzen.

Auch die Verleger zeigten sich erst willig, seine Lieder in ihre Kataloge aufzunehmen, nachdem eine aus Subscription veranstaltete Herausgabe von zwölf Liederheften (der „Erlkönig“ als Op. 1) im Selbstverlag des Autors reißenden Absatz fand. Nichtsdestoweniger lohnten sie dem in jeder Art praktischer Geschäftsführung gänzlich unbegabten Künstler, der seinen Vortheil nicht wahrzunehmen verstand, äußerst kärglich für seine Gaben. Als er starb, hatten nur etwa hundert Lieder und einige Clavier- und Kammercompositionen den Weg in die Oeffentlichkeit gefunden. Seine sieben Symphonien, seine Quintette und Quartette, seine Messen, das Oratorium „Lazarus“, seine Opern und Chorgesänge, seine zahllosen zwei- und vierhändigen Sonaten, Phantasien, Märsche etc. – wer kannte sie? Ist doch noch heutigen Tages der Instrumental- und zumal der Clavier-Componist Schubert über dem Lieder-Componisten wenn nicht vergessen, so doch vernachlässigt und nicht nach seinem Verdienste gewürdigt. Und gleichwohl ging er auch hier seine eigenen Wege. Ob auch, wie alle Nachkommenden, auf Beethoven fußend, steht er ihm doch in freier Selbstständigkeit gegenüber und verhält sich zu ihm wie die Richtungen, die sie vertreten, sich zu einander verhalten, wie die Romantik zur Classicität.

Befremdend vor allem erscheint die Thatsache, daß keiner von Schubert’s großen Kunstgenossen je in ein rechtes Verhältniß zu ihm getreten. Karl Maria von Weber hatte, als ihm der Wiener Meister die Partitur zu „Alfonso und Estrella“ vorlegte, kein anderes Urtheil als: „Ich sage Ihnen, daß man die ersten Hunde und die ersten Opern ertränkt.“ Selbst Beethoven, der dreißig Jahre dieselbe Luft mit ihm athmete und zu dem er schon von früher Jugend auf als zu seinem höchsten Ideal emporschaute, ging theilnahmlos an ihm vorüber. Eine schüchterne Huldigung des jungen Künstlers, die Dedication der vierstündigen Variationen Op. 10 blieb unbeachtet, wie es früher eine Sendung von Compositionen Goethe’scher Lieder an den Dichterfürsten in Weimar geblieben war. Erst auf seinem letzten Krankenlager lernte Beethoven eine Anzahl Schubert’scher Lieder kennen und beschäftigte sich eingehend mit denselben. „Wahrlich, in dem Schubert wohnt ein göttlicher Funke!“ rief er wiederholt begeistert aus und prophezeite, „daß er noch viel Aufsehen in der Welt machen werde.“ Die sieben Rellstab’schen Lieder, die jetzt Schubert’s „Schwanengesang“ zieren, aber ursprünglich Beethoven vom Verfasser zur Composition übergeben worden waren, sandte [797] er nun mit eigenhändig hinzugefügten Bleistiftzeichen an Schubert, da er sich selbst zu krank fühlte, die Arbeit zu vollenden. Kurz vor Beethoven’s Tode besuchte Schubert den sterbenden Meister, der nicht mehr zu sprechen im Stand war. Als er wenige Tage später mit seinen Freunden vom Begräbniß zurückkehrte, füllte er die Gläser und leerte das erste auf das Gedächtniß des Heimgegangenen, das zweite auf den, der ihm zunächst folgen würde. Er feierte so sein eigenes Gedächtniß. Noch ehe sich ein zweites Jahr vollendete, ruhte er selber zur Seite der geweihten Gruft.

Eine sich bis an’s Ende steigernde und läuternde Production wird in dem kurzen Künstlerdasein Franz Schubert’s auffällig. [798] Meisterwerke wunderbarster Art reifen in seinen letzten Lebensjahren. So weist das Jahr 1826 das „Rondo brillant“ für Clavier und Geige, Op. 70 die Streichquartette in D-moll und G-dur, das B-dur-Trio und den ersten Theil der „Winterreise“, das Jahr 1827 den zweiten Theil der letzteren, das Es-dur-Trio und die „Deutsche Messe“, das Jahr 1828 endlich die große Symphonie in C, das Streichquintett in C, die Messe in Es, die drei letzten Claviersonaten und den sogenannten „Schwanengesang“ auf, als die letzten Vermächtnisse des Künstlers, mit denen er seine Mission hienieden vollendete.

Die „Winterreise“, ein Liedercyclus gleich der früher entstandenen „Schönen Müllerin“, unterscheidet sich von der rein lyrischen, mehr volksliedartigen Weise der letzteren durch eine ungleich größere Mannigfaltigkeit der Form und Kühnheit der Tonsprache, eine gesteigerte Leidenschaft und Dramatik und demgemäß eine lebendigere Betheiligung des tonmalerischen Elementes. In tiefste Schwermuth getaucht ist jeder einzelne der vierundzwanzig Gesänge. Der letzte Sonnenschimmer ist verglommen; aus der sanften Melancholie der „Müllerlieder“ ist hier Trostlosigkeit, friedlose Resignation und Verzweiflung geworden. Freundlichere Bilder machen sich in den „Schwanengesang“, die letzte Liederreihe, die nicht mehr von des Componisten Hand, sondern erst nach seinem Tode von seinem Verleger zusammengestellt wurde. Von hohem Werthe sind zumal die Heine’schen Lieder „Der Atlas“, „Die Stadt“, „Am Meer“, „Der Doppelgänger“, in denen Schubert jene mehr declamatorische Weise anschlägt, die Schumann zu weiterer Vollendung führte. Mit dem Schlußgesange, der „Taubenpost“, sagte er dem Lied für immer Lebewohl.

Als er im November 1828 die letzten Druckbogen seiner „Winterreise“ corrigirte, war auch für ihn der Winter herbeigekommen und der Sommer seines Lebens dahin. Müde lag der Sänger, der die schwermuthvollen Lieder wohl in Vorahnung seines nahen Abschieds gesungen hatte, auf dem Krankenlager, von dem es keine Genesung für ihn gab. Die Mittel, die er früher gegen sein altes Leiden, Kopfschmerzen und Schwindel, angewendet hatte: Bewegung in freier Luft und Zerstreuung in der Arbeit, fruchteten jetzt nichts mehr. Ein Nervenfieber war ausgebrochen. Er sprach noch von Opernplänen und rief in seinen Fieberphantasien nach Beethoven – die Musik in seiner Seele schwieg noch nicht. Aber bald darauf, am 19. November, ward es still in und um ihn – nun lauschte er himmlischen Harmonien.

Zwei Tage später, am 21. November bettete man ihn auf dem Währinger Kirchhof, in nächster Nachbarschaft seines Meisters Beethoven, wie er’s gewünscht hatte, in sein frühes Grab. Der Denkstein, der dasselbe schmückt, trägt seine Büste, um, gleich dem 1872 im Wiener Stadtpark errichteten Denkmal, sein Bild der Nachwelt zu überliefern. Es ist nicht schön, dieses Bild, auch an seinen Zügen wie an seiner Gestalt hatte das Schicksal seinen Segen gespart. Unter der Büste lesen wir außer dem Datum seines Geburts- und Sterbetages Grillparzer’s Worte: „Der Tod begrub hier einen reichen Besitz, aber noch schönere Hoffnungen.“ – So durfte die Klage der Mitlebenden lauten, denen die Werkstätte dieses wundersamen Geistes noch ein unentschleiertes Geheimniß war. Wir aber wollen fünf Jahrzehnte nach des Meisters Tode nicht ungenügsam mehr sprechen von gestorbenen Hoffnungen, sondern in immer erneuter Dankbarkeit uns des Tonsegens freuen, den er in verschwenderischer Fülle über uns ausgestreut. Erfüllt, herrlich erfüllt, wir wissen es heute, hat der Frühvollendete seine Sendung, und Wahrheit geworden ist sein einstiger Ausspruch: „Wenn das Wort Kunst ausgesprochen wird, ist von mir die Rede.“

  1. Ausführlicheres siehe: La Mara, Musikalische Studienköpfe. 1. Bd. 4. Aufl., Leipzig, Schmidt u. Günther.