Zu dem Artikel „Die Schriftsprache der durch Schlaganfall Gelähmten“
[270] Zu dem Artikel „Die Schriftsprache der durch Schlaganfall Gelähmten“ erhalten wir folgende Zuschrift:
„Geehrte Redaction! Aus Veranlassung des in Nr. 5, S. 90 der ‚Gartenlaube‘ gebrachten Aufsatzes über die Schrift einseitig Gelähmter möchte ich noch einige Bemerkungen hinzufügen. Als ich vor mehreren Jahren in der Ambrosianischen Bibliothek zu Mailand zuerst jenen berühmten Codex atlanticus des Leonardo da Vinci sah, von dem später ein leider nur sehr kurzer Auszug veröffentlicht worden ist, legte ich mir, wie wohl Jeder thut, der zum ersten Male jenes kostbare Werk zu Gesicht bekommt, die Frage vor: Was bewog wohl Leonardo, nach Art der Orientalen von der Rechten zur Linken zu schreiben, sodaß man sich genöthigt sieht, beim Lesen seiner Schriften einen Spiegel zu gebrauchen? Die gewöhnliche Erklärung ist: daß er seine Schriften nicht jedem oberflächlichen Leser zugänglich machen wollte. In Neapel wurde ich indeß eines Bessern belehrt. Ich fand dort in der Nationalbibliothek das Manuscripttagebuch des Geistlichen Antonio de Beatis aus Melsetta, der im Jahre 1517 im Gefolge des Cardinals de Aragona eine Reise durch Deutschland, die Niederlande und Frankreich machte. Der Cardinal besuchte auf dieser Reise auch Leonardo da Vinci, der in der Umgegend von Amboise in einer ihm vom Könige Franz dem Ersten geschenkten Villa (jetzt Clos-Lucé genannt) die letzten Jahre seines Lebens zubrachte. De Beatis sagt von ihm: ‚Daß nicht viel Gutes in der Malerei von ihm mehr zu erwarten sei, da eine Lähmung der rechten Hand ihn dazu untüchtig mache.‘ Beim Durchlesen dieser Worte drängte sich mir sofort der Gedanke auf: sollte dies vielleicht die Ursache der umgekehrten Schrift des Leonardo gewesen sein? Ich stellte sogleich einen Versuch an, mit der linken Hand zu schreiben, und fand zu meinem nicht geringen Erstaunen, daß ich, ohne es je vorher versucht zu haben, ziemlich gut mit derselben, doch ganz unwillkürlich von rechts nach links, schreiben konnte. Der Leser wird dies bei einem Versuche bestätigt finden, auch ohne daß eine Lähmung der Rechten ihn zum Gebrauche der Linken zwingt. Die Spiegelschrift des Leonardo da Vinci findet so ihre Erklärung, und wir können wohl mit Sicherheit annehmen, daß der große Meister seine zahlreichen Schriften über Malerei, Hydraulik, Mechanik, Anatomie etc. in seinen späteren Jahren abgefaßt habe, als die durch Antonio de Beatis constatirte Lähmung seiner rechten Hand ihm das fernere Malen erschwerte.
Stuttgart. Dr. Julius Schmidt.“