Textdaten
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Autor: Adolf Loos
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Titel: Wohnen lernen!
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aus: Adolf Loos: Sämtliche Schriften in zwei Bänden – Erster Band, herausgegeben von Franz Glück, Wien, München: Herold 1962, S. 383–387
Herausgeber: Franz Glück
Auflage:
Entstehungsdatum: 1921
Erscheinungsdatum: 1962
Verlag: Herold
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Erscheinungsort: Wien
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft: erstdruck im „neuen wiener tagblatt“ vom 15. mai 1921.
Quelle: PDF bei Commons
Kurzbeschreibung:
Loos pflegte eine Kleinschreibung (außer bei Satzanfängen und Namen) auch bei seinen Titeln, wie den Inhaltsverzeichnissen zu entnehmen ist (im Buch selbst sind die Titel in Versalien gesetzt). Um Irritationen zu vermeiden, werden die Titel in der gewohnten Groß-Kleinschreibung gegeben
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[383]
WOHNEN LERNEN!
(1921)

Die neue bewegung, die alle bewohner dieser stadt wie ein fieber befallen hat, die siedlungsbewegung, verlangt neue menschen. Menschen, die, wie Leberecht Migge, der große gärtner, so richtig sagt, moderne nerven besitzen.

Wir haben es leicht, menschen mit modernen nerven zu schildern. Wir brauchen unsere phantasie nicht anzustrengen. Sie leben schon fix und fertig, allerdings nicht in Österreich, sondern etwas weiter westlich. Die nerven, die die amerikaner heute besitzen, werden unsere nachkommen erst erhalten.

Im amerikaner ist der städter und der bauer nicht so scharf getrennt wie bei uns. Jeder bauer ist ein halber städter, jeder städter ein halber bauer. Der amerikanische stadtmensch hat sich von der natur nicht so weit entfernt wie sein europäischer kollege oder, besser gesagt, wie sein kontinentaler kollege. Denn auch der engländer ist ein rechter bauer.

Beide, engländer und amerikaner, empfinden das wohnen mit anderen leuten unter einem dache als unerquicklichen zustand. Jeder, arm oder reich, strebt nach seinem eigenen heim. Und wenn es nur ein cottage, eine verfallene hütte mit tief herabhängendem strohdach, wäre. In der stadt spielen sie theater und bauen zinshäuser, deren einzelwohnungen in zwei stockwerken angeordnet sind, die eine eigene holztreppe verbindet. Übereinander gestülpte cottages.

Und da komme ich zum ersten programmpunkte meiner ausführungen. Der mensch im eigenheim wohnt in zwei stockwerken. Er trennt sein leben scharf in zwei [384] teile. In das leben bei tage und in das leben bei nacht. In wohnen und schlafen.

Man darf sich das leben in zwei stockwerken nicht unbequem vorstellen. Schlafzimmer nach unserem begriff gibt es allerdings nicht. Dazu sind diese räume zu klein und unwohnlich. Das einzige möbel ist das weißlackierte eisen- oder messingbett. Schon ein nachtkästchen wird man vergeblich suchen. Und kasten gibts schon gar nicht. Das oder besser der „closet“, der wandschrank, wörtlich der verschluß, tritt an stelle der schränke. Diese schlafräume dienen wirklich nur zum schlafen. Sie sind leicht aufzuräumen. Aber eines haben sie vor unseren schlafzimmern voraus, sie haben nur eine eingangstür und können niemals als durchgangszimmer benützt werden. Des morgens kommen alle familienmitglieder zur gleichen zeit herunter. Auch das baby wird heruntergebracht und bleibt nun tagsüber bei der mutter in den wohnräumen.

In jeder familie gibt es einen tisch, um den sich die ganze familie zur mahlzeit versammeln kann. Also wie bei den bauern. Denn in Wien können es nur zwanzig prozent der einwohner dieser stadt tun. Wie machens die übrigen achtzig prozent? Nun, einer sitzt beim herd, einer hält den topf in der hand, drei bei tisch, die andern okkupieren die fensterbretter.

Und nun soll jede familie, die ein eigenes heim bekommt, einen tisch erhalten, der sich wie der tisch des bauern in der wohzimmerecke befindet. Wie bei den bauern. Das wird eine schöne revolution geben! Man hört stimmen für und wider. „Na, na, dös tun mer nöt! Dös hab ich bei den bauern in Oberösterreich gesehen. Dort sitzn s’ um an tisch und essen alle aus derselben schüssel. A na, wir san so was nöt gwöhnt. Wir essen einzeln.“ [385] Und ein vorsorgender vater meint: „Was, um an tisch? Daß sich meine kinder das wirtshausgehn angwöhnen!“

Und wenn ich das erzähle, so lachen die leute. Aber ich weine innerlich.

Des tisches wegen werden wir uns nicht streiten. Man wird schon bald dahinter kommen, daß das gemeinschaftliche frühstück geld erspart. Das wiener frühstück – ein schluck kaffee stehend am herd und das stück brot, das zur hälfte auf der treppe, zur andern hälfte auf der straße verzehrt wird, – verlangt um zehn uhr ein gulasch, also einen magenbetrug, und, da das gulasch schön papriziert ist, ein krügel bier. Diese mahlzeit, die der engländer und der amerikaner nicht einmal dem namen nach kennen, heißt bei uns gabelfrühstück, offenbar deshalb, weil dabei nur das messer in aktion tritt. Man soll zwar nicht mit dem messer essen – „aber womit essen s’ denn nacher die soß?!“

Dieses zweite frühstück sei dem hausvater gegönnt, so lange er sich mit dem schluck schwarzen kaffees zu hause begnügen muß. Aber seine frau wird bald dahinter kommen, daß sich um dieses geld für die ganze familie ein herrlicher amerikanischer frühstückstisch erwerben läßt, so sättigend, daß man bis mittag nichts essen kann. In der amerikanischen familie ist das frühstück die schönste mahlzeit. Alles ist durch den schlaf erfrischt, das zimmer behaglich, frisch durchlüftet und warm. Der ganze tisch ist mit speisen besetzt. Zuerst ißt jeder einen apfel. Und dann teilt die mutter das oatmeal aus, diese herrliche speise, der Amerika seine energischen menschen, seine größe und seine wohlfahrt verdankt. Die wiener werden allerdings lange gesichter machen, wenn ich ihnen verrate, daß oat hafer und meal speise bedeutet. Aber wir [386] werden in Lainz den ausflüglern die hafergrütze nach amerikanischer art zubereitet vorsetzen und hoffen, ganz Wien zu haferessern zu bekehren. Was nützen uns die mit hafer gefütterten schönen pferde, auf die wir so stolz sind! Auch die menschen sollten bei uns „trockene“ köpfe, ausdrucksvolle gesichter bekommen.

Ob arm oder reich, pauper oder milliardär, die hafergrütze fehlt in Amerika auf keinem frühstückstisch. Alles übrige, der billige fisch oder das teure kalbskotelett, richtet sich nach den verhältnissen. Natürlich gibt es tee und brot, was merkwürdigerweise auch zu mittag und am abend serviert wird.

Das mittagessen ist eine sehr einfache sache. Der vater ist nicht zu hause, die mutter hat den ganzen vormittag zu tun, um das haus in ordnung zu bringen. Denn einen dienstboten hat die hausfrau nicht. Und dieses fehlen des dienstbaren geistes hat es mit sich gebracht, daß die speisen im wohnraum zubereitet werden. Denn die frau des hauses hat ein anrecht darauf, ihre zeit nicht in der küche, sondern im wohnzimmer zu verbringen.

Eine solche anordnung bedingt aber eine zweiteilung des kochens. Es zerfällt in zwei scharf getrennte teile. Der eine teil ist die arbeit beim feuer, die arbeit am herde. Der andere teil ist die vorarbeit und die reinigung des geschirres. Der erste teil wird im wohnzimmer, wo sich der herd befindet, absolviert. Dazu ist allerdings notwendig, daß der herd sich dem blick des bewohners so viel als möglich verbirgt.

Was ist nicht alles in Amerika erfunden worden, um dieses problem zu lösen! Erst neulich sah ich in einem blatte eine photographie, vielmehr zwei photographien. Das eine bild zeigte einen herd, der in einer wandnische [387] untergebracht war, das zweite einen schreibtisch. Es war dieselbe nische in der wand: ein druck auf einen knopf und wie bei einem tabernakel dreht sich, je nach bedarf, durch elektrischen strom getrieben das werk um.

Aber eine solche anordnung verlangt mehr, als die technik hervorbringen kann. Sie verlangt menschen, die sich vor dem kochen nicht fürchten. Wir, die wir alle ein gelindes grauen vor dem kochen empfinden, ein gefühl, das bauern, engländer und amerikaner nicht besitzen, wundern uns, daß heute in den hotels speiseräume entstehen, in denen vor den speisenden gästen gekocht wird. Rostraum hießen diese räume während des krieges, grillroom heißen sie jetzt wieder. Aber der einfache siedler wird ihn wohnküche oder kochzimmer nennen und wird es so nobel haben wie ein englischer lord. Oder so ordinär wie ein österreichischer bauer.

Wer siedeln will, muß umlernen. Das städtische zinshauswohnen müssen wir vergessen. Wenn wir aufs land wollen, müssen wir beim bauern in die schule gehen und sehen, wie ers macht. Wir müssen wohnen lernen.