Wilhelm Löhes Leben (Band 3)/Am Schluß des ersten Jahrzehnts. Rückblick und Vorausblick

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Wilhelm Löhes Leben (Band 3)
Der Krieg des Jahres 1866 und Löhes Stellung zu demselben »
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Am Schluß des ersten Jahrzehnts.
Rückblick und Vorausblick.

 Der Ablauf des ersten Jahrzehnts der Diakonissenanstalt wurde mit einer gewissen Feierlichkeit begangen. Lebhaft war Dank und Freude darüber, daß der HErr bisher geholfen. Was beim Blick rückwärts und vorwärts Löhes Seele bewegte, hat er in einen Aufsatz des Diakonissenkalenders von 1864 niedergelegt, aus dem wir Folgendes ausheben.

 „Bei der Einweihung des Diakonissenhauses vor zehn Jahren sagte einer der Festredner (Löhe selbst): das Haus habe genug gedient und sei der Bausumme schon wert geworden, wenn es zehn Jahre lang seinen Zweck erfüllt haben würde. Was anderes hatte| er damit im Sinn, als daß die Diakonissenanstalt vielleicht nur zehn Jahre dauern und dann ihr kleines Lichtlein wieder auslöschen könnte. Dieser Festredner setzte der Anstalt damit ein kurzes Leben und denen, die an ihr arbeiten würden, eine baldige Ruhe. Er erlebte nun aber selbst den Abschluß des ersten Jahrzehnts, und anstatt am zehnjährigen Jubeltage mit der Leiche der Diakonissenanstalt zu gehen, bemächtigte sich seiner die Überzeugung, daß die ganze Anstalt nach zehn Jahren erst noch im Kindesalter sei, und statt ihre Aufgabe gelöst zu haben, vielmehr noch ferne von ihrem vollkommenen Alter erkannt werden müße. Die ganze Entwicklung des ersten Jahrzehnts ist, obgleich viel größer, als man vor zehn Jahren hoffen konnte, doch so ungenügend in jeder Hinsicht, daß man der Anstalt entweder noch ein ferneres, sich auf lange Zeit hinausstreckendes Leben und Wirken erwünschen und erflehen, oder sich auf jene Gefühle gefaßt machen muß, die einen überwältigen, wenn ein Mensch in der Blüte seiner Jahre, ehe er seine Lebenskraft recht erreichen konnte, aus der Zeit und zu Grabe gehen muß. – Es gibt freilich schon jetzt Leute genug, welche über das rastlose Umsichgreifen der Diakonissenanstalt ganz unwillig sind und nichts mehr wünschen, als daß sie endlich einmal in ein stilles Geleise einlenken und ihr bischen Arbeit im Frieden thun möchte. – Aber das wäre gerade so, wie wenn man zu einem kräftigen Jüngling, der sich seinem männlichen Alter entgegenstreckt und nach einem Lebensberuf ringt, sagen wollte: Gib dir nicht so viel Mühe; setz dich in den Großvatersessel und sei still. Was für eine Nachwelt werden die erziehen, die den strebenden Kräften dergleichen Ratschläge geben. – Es hat alles Ding seine Zeit, und es gibt z. B. Pflanzen und Thiere, die alt genug sind, wenn sie zehn Jahre gelebt haben; aber es gibt andere, deren Lebensende, ja deren Lebensmitte, ja deren Lebensjugend sich weit über ein Jahrzehent hinaus erstreckt, und der einem jeglichen Ding seine Zeit| und seine Tage auf Sein Buch schreibt, das ist der HErr und zwar der HErr alleine. – So wird auch die Diakonissenanstalt schon einmal wieder untergehen, sintemal nichts Zeitliches einen ewigen Bestand hat; wann aber, nach wie langer Zeit, wer weiß das? Die Diakonissenanstalt soll den HErrn ihrer Tage anbeten und zu Ihm sagen: „Meine Zeit steht in Deinen Händen;“ dann aber soll sie aufstehen und wie ein Jüngling, der am Morgen an sein Tagewerk geht, ihre Sehnen ausstrecken, in Christo Jesu Mut und Kraft anziehen und sich aufs neue, bei begonnenem zweiten Jahrzehent vornehmen, nicht zu ruhen, sondern ihrem herrlichen Ziele entgegenzuringen. – Auch hier ist wieder das bekannte Liedlein anzustimmen:

Merk, Seele, dir das große Wort:
Wenn Jesus winkt, so geh etc.

besonders V. 4:

Wenn Er dich aber brauchen will,
So steig mit Kraft empor etc.“

 Man sieht: Löhes Blick in die Zukunft war damals voll Thatenlust und Hoffnungsfreudigkeit. Bezeichnend ist aber auch hier wieder das Ziel, das er dem Vorwärtsstreben des Diakonissenhauses bestimmt. Er sagt hierüber in demselben Aufsatz: „Wir wollen unser Ziel nicht zu weit stecken. Wir hätten freilich auch gerne eine Mission, wie Kaiserswerth eine im Morgenlande hat. Denn die Mission ist nach richtigem Verstand des Diakonissenwesens der Aufgabe der Diakonissen ganz nahe. Das Diakonissentum ist dem Predigtamte von Anfang her beigegeben, wie Eva dem Adam, und eine Kirche, die unter den Heiden ohne Diakonie Gottes Werk treibt, kommt mir vor wie ein Mensch mit einem einzigen Bein. Darum halten wir es auch für ganz recht, daß Kaiserswerth nicht blos in Preußen, sondern auch in Jerusalem, in Smyrna, in Kairo arbeitet. Ja wenn es uns nachgienge, wir giengen gleich auch nach Jerusalem und kauften das Cönaculum| (eine Lieblingsidee Löhes) und dienten im Frieden neben den Kaiserswertherinen, wie sehr und viel wir könnten. Und wenn das für uns zu viel wäre, wie es denn so ist, so nähmen wir auch etwas Geringeres als Mission. Wir gehen gleich, wenn wir können, in die Slovakei und dienen den dortigen Lutheranern und ihren Töchtern, wie es immer sein kann. Aber annoch haben wir keinen Missionsberuf, selbst nicht in dem für Dettelsau heimischen Amerika, wo alle Diakonissen, die wir hingesandt haben, in den Hafen der Ehe eingelaufen sind. Dagegen aber haben wir einen sicheren und gewissen Beruf in unserm fränkischen und bayerischen Heimatlande. Der Titel, welcher dem Diakonissenhause vor zehn Jahren von den obersten Behörden unseres seligen Königs Max II. gegeben worden ist, ohne daß wir ihn eigentlich in dieser Bestimmtheit und Weitschaft suchten, heißt: Diakonissenhaus für die protestantisch-lutherische Bevölkerung Bayerns diesseits des Rheins. Siehe hier Beruf und Weitschaft des Diakonissenhauses Neuendettelsau. Man hat uns freilich vor zehn Jahren mit dem Titel die Macht nicht gegeben, uns demselben gemäß geltend zu machen und auszudehnen; aber es liegt doch in dem Titel die Erlaubnis, innerhalb der gesteckten Grenzen zu dienen und in treuem Fleiße um die freie Liebe und Anerkennung der genannten Bevölkerung zu werben. Wir müßen freilich zugestehen, daß die Diakonissen von Dettelsau außerhalb Bayerns bis auf diese Stunde mehr Anerkennung, Achtung und Liebe gewonnen haben, als in Bayern selber. Aber wir müßen andrerseits auch anerkennen, daß unsre Stellung in Bayern immer besser geworden ist und daß man innerhalb unseres großen Arbeitsgebiets im Fortschritt des ersten Jahrzehnts trotz aller inneren und äußeren Hindernisse die Dettelsauer Diakonissen je länger je mehr anerkannt und gesucht hat und noch sucht. Und da ist es also unser Beruf und Ziel, durch fromme und treue Vaterlandsliebe die Leute zufrieden zu| machen und durch freudige und immer reinere Aufopferung im Dienste die Liebe derer, an welche uns unser Beruf weist, je länger je mehr zu gewinnen. Wir haben in der That in unsrer Heimat Platz genug, die gastlichen Zweige auszustrecken, Schatten und Frucht zu bieten.

 Aber allerdings, ein Baum, der seine Zweige so weit ausstrecken will und soll, muß auch seine Wurzeln ausstrecken können und wollen, und vor allen Dingen muß er die Herzwurzel tief in die Erde schlagen. Die Herzwurzel aber schlägt ein Baum grad unter, an der nächsten Stelle, wo er steht, und demgemäß sehen wir unsern Beruf so an, daß wir in starker, geduldiger Liebe und großer Hingebung und Aufopferung in unserer Nähe, vor allen Dingen in der nächsten Nähe, Wurzeln schlagen und durch unsre Treue die Herzen in der nächsten Heimat gewinnen müßen. Ich habe einen Baum gesehen, der mit seinen Wurzeln den Weg durch eine Mauer fand, die Mauer los machte und die Wurzel hinaus zum Kirchhof streckte, auf dem er stand. So muß die Diakonissenliebe von Dettelsau die Mauern des Totenfeldes, auf dem sie wurzeln soll, brechen und so aus der Nähe in die Ferne ihre Wurzeln und damit ihre Liebeskraft, den Schatten und die Früchte ihrer Zweige strecken. Und das ist unser Beruf. – Darum möchten wir für das zweite Jahrzehent dem Diakonissenhause Neuendettelsau und seinen treuen Bemühungen für das Wohl des Heimatlandes eine größere und entgegenkommendere Liebe und Hilfe der Heimat wünschen. – Gott kann uns wohl geben, daß wir auch ohne Gewährung dieser Bitte im neuen Jahrzehent gesegnet und immer mehr Segen verbreitend dahingehen und ohne Hilf und Dank der Unsrigen zu unserem Ziele gelangen; aber es bleibt dennoch ein großer Tadel und eine Schande, wenn der HErr mit irgend einem Segen zu den Seinen einkehrt, Ihn nicht zu erkennen und nicht aufzunehmen.“





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