Wilhelm Löhes Leben (Band 2)/Die Petitionen an das Kirchenregiment

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Wilhelm Löhes Leben (Band 2)
Antwort des Kirchenregiments und neue Petitionen »
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Die Petitionen an das Kirchenregiment.

 Am 8. Oktober 1849 giengen gleichzeitig zwei auf mehreren Konferenzen vorbereitete und gemeinsam beratene Eingaben, die sich nach Inhalt und Tendenz eng an die der Generalsynode eingereichte Petition anschlossen, an die oberste Kirchenbehörde ab. Die eine forderte Wiederherstellung der Verpflichtung der Geistlichen und Religionslehrer auf sämtliche lutherische Symbole im Sinne des wohlverstandenen quia und Aufkündigung der Kirchengemeinschaft mit solchen, die obwohl äußerlich der lutherischen Kirche angehörig, dennoch mit ihr und ihrer Lehre in offenbarem Widerspruch sich befänden: die andere, von Pfarrer Wucherer verfaßte, drang – mit Bezugnahme auf eine von mehreren Gemeindegliedern Nürnbergs in derselben Absicht eingereichte Vorstellung – auf Uebung der Lehrzucht gegen offenbare und unbußfertige Verächter der Grundlehren des Evangeliums. Wir teilen die erstere dieser Petitionen unter Nr. 3 im Anhang mit.

 Es war ohne Zweifel richtig gehandelt, daß Löhe, ohne voreilig mit der Landeskirche zu brechen, erst auf jegliche Weise versuchte, die faktischen Zustände derselben wieder zu einer den unveräußerlichen Rechten der lutherischen Kirche entsprechenden Gestalt zurückzuführen. Er handelte damit in einer gewissen Uebereinstimmung mit den Beschlüssen der Leipziger Konferenz vom 29. August 1849. Diese Konferenz hatte nämlich in besonderer Berücksichtigung der bayerisch-landeskirchlichen Verhältnisse sich auch mit der Frage nach der Berechtigung und Verpflichtung zum Austritt aus einer Landeskirche beschäftigt und folgende These angenommen:

„Die Notwendigkeit, von einer bisher bestehenden Landeskirche auszuscheiden, tritt erst dann ein, wenn abseiten des Kirchenregiments Akte der Gesetzgebung geschehen, durch welche das Bekenntnis alteriert wird und zu deren Aufhebung alle gesetzlichen Schritte vergebens versucht worden sind.“
|  Bei der Besprechung dieser These hob Münchmeyer hervor, daß man bei Lösung der Frage nach Berechtigung der Separation von einer Landeskirche zwei Dinge genau auseinanderhalten müsse: Die Akte der Gesetzgebung und die Akte der Kirchenbehörden in Verwaltung und Disciplin; bei letzteren, den sogenannten Verwaltungssünden, liege Berechtigung und Verpflichtung zum Austritt nicht vor. Zwar wurde von einigen entschiedeneren Mitgliedern jener Konferenz hervorgehoben, daß auch durch solche „Verwaltungssünden“ besonders bei der eigentümlichen Verfassung einzelner Landeskirchen leicht ein faktischer Zustand herbeigeführt werden könne, durch den in Wirklichkeit das Bekenntnis ebenso alteriert werde, wie wenn es rechtlich aufgehoben sei. Dagegen wurde aber bei aller Anerkennung der Möglichkeit und Wirklichkeit solcher Zustände erwidert, daß hiegegen erst alle gesetzlichen Schritte zu unternehmen und deren Erfolge abzuwarten seien.
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 Nur im Sinne dieses letzteren Zusatzantrages, der jedoch von der Konferenz nicht förmlich angenommen wurde, konnte Löhe sich mit der Leipziger These einverstanden erklären. An sich erschien ihm diese Satzung zu eng, weil er der Meinung war, daß es nicht auf die Quelle, aus welcher die Uebelstände in der Kirche fließen, sondern auf die Unabwendbarkeit und Unheilbarkeit derselben ankomme, wenn es sich nämlich um die Berechtigung handle, von ihr auszuscheiden. Ihm bot eben die Berufung auf den – bei der bayerischen Landeskirche ihm ohnehin zweifelhaften – Rechtsbestand der lutherischen Kirche und ihres Bekenntnisses nicht den Trost, den die lutherisch gesinnte Partei in Bayern, an deren Spitze die theologische Fakultät in Erlangen stand, daraus schöpfte. „Es ist – sagt er in einer anfangs 1850 erschienenen, zur Rechtfertigung seines kirchlichen Ganges seit 1848 und zur Verteidigung gegen mehrfache öffentliche Angriffe geschriebenen Brochüre „Unsere kirchliche Lage etc. – eine traurige Sache, wenn wir nichts zum Troste haben als ein| papiernes und obendrein der Anfechtung ausgesetztes Recht. Haben wir das Recht, so laßt es uns brauchen und sehen, wie weit es langt; können wirs aber nicht ausüben, nicht auf Bekenntnistreue nach oben und unten dringen, ach nun, dann wollen wir uns über unsre Lage auch keinen Sand in die Augen streuen, und wäre er auch von den Unterschriften der Konkordia genommen. Eine Kirche, welche de facto unlutherisch ist und nicht alles thut, dem Recht gemäß sich wieder einzurichten, hat an ihrem Recht und Freibrief einen Vorwurf, keinen Trost, eine Anfechtung, nicht eine Garantie ihres Lebens, zumal wenn dies im Sterben liegt... Gibts denn sonst keine Art und Weise zu sterben und aufzuhören, als durch Urkunden und Akte des Staates? Was helfen dem Leichnam im Sarge die Urkunden? Was tot ist, ist tot, und wenn das Recht zu leben tausendmal verbrieft ist. Zum Leben einer Kirche gehört doch vor allem und einzig das Leben; ist es nicht da, so rede man nicht vom Recht, das niemanden aus dem Tode wiederbringt, sondern man bekenne und rufe den an, der die Toten auferweckt!“ Von diesen Anschauungen aus regelte sich Löhes kirchliches Handeln. Freilich mußten seine – sehr erklärlichen – Zweifel an dem Rechtsbestand einer lutherischen Kirche in Bayern ihm zuweilen den richtigen Gesichtspunkt des Handelns verschieben und in seine sonst gewissen Tritte zum Ziel vorübergehende Unsicherheit bringen. Unsrer Meinung nach – wenn wir hier eine, allerdings wohlfeile, retrospektive Kritik üben wollen – wäre der richtigste Weg der gewesen, daß man zunächst das gute – wiewohl durch latitudinaristische Ausdrücke und konfessionswidrige Bestimmungen der Verfassungsurkunde verdunkelte – Recht der lutherischen Kirche Bayerns zu konfessioneller Sonderexistenz nachgewiesen und damit die Rechtsbasis derselben außer allen Zweifel gesetzt hätte, und dann fußend auf diesem neu konstatierten Recht mit aller Macht auf Abstellung der bekenntniswidrigen Misstände in Verfassung, Regiment und Leben der Kirche zu| dringen, oder, falls sich dieselben als unverbesserlich erwiesen, dann mit unantastbarem Recht den letzten Schritt des Austritts zu thun. Im ganzen hielt ja auch die von Löhe hervorgerufene kirchliche Bewegung diese Richtung ein und langte jedenfalls schließlich bei diesem Ziele an, doch nicht ohne vorübergehende Schwankungen und Abweichungen von der dadurch vorgezeichneten Linie des Verhaltens.
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 Löhes Ausgangspunkt – der Zweifel an dem konfessionellen Charakter und dem gesicherten Rechtsbestand der bayerischen Landeskirche – war jedenfalls berechtigt. Er behauptete nicht von vornherein ihren unlutherischen Charakter, aber er bezweifelte ihren lutherischen Charakter. „Es ist richtig – sagt er in dem oben angeführten Schriftchen, ,Unsere kirchliche Lage‘ – daß alle diese Dinge (die bekenntniswidrigen Mißstände) sich in den Zeiten konfessionellen Entwerdens festgesetzt haben, und daß man sie deswegen mehr als Krankheitssymptome, denn als Sünden deuten könnte. Allein sie sind denn doch einmal da und zwar bestehen sie größtenteils zu Recht, auf Grund verfassungsmäßiger Bestimmungen, so daß sie ein übles Licht auf die Behauptung rechtlichen Bestehens der lutherischen Kirche werfen können. Oder ist es nicht so? Ist die verfassungsmäßige ,protestantische Gesamtgemeinde‘ mit allen ihren Kombinationen in den Organen von oben bis unten etwa ein Beweis, daß es eine lutherische Kirche in Bayern gibt? daß sie zu Recht besteht? Allermindestens schaffen diese gewaltigen Widersprüche Zweifel und Anfechtung und Verwirrung der Gemüter, welche darauf achten... Unsere befreundeten Gegner haben bei verschiedenen Versammlungen darauf gedrungen, daß von den Anwesenden anerkannt würde, die bayerische Kirche sei lutherisch – trotz und ungeachtet aller unleugbaren, den Grund angreifenden Uebelstände, weil doch das Bekenntnis zu Recht bestand, wie sie sagten. Ganz natürlich! War die Kirche lutherisch, was für eine Thorheit, ja was für ein| Frevel schien es dann zu sein, von ihr zu gehen und selbst Lutheraner sein zu wollen! So, wenn man sagte: ,Ja, sie ist lutherisch‘ gab man sich freilich gefangen. Ich meinerseits würde, wann man mir eine solche Frage gestellt hätte, einfach meinen Zweifel kund gegeben und ihn durch Hinweisung auf die noch bestehenden, verfassungsmäßigen, grundangreifenden Uebelstände und auf die mangelnde Lehr- und Bekenntnistreue in allen Regionen der Landeskirche begründet haben.“

 Von diesem Standpunkt aus war es denn gewiß auch vollkommen gerechtfertigt, wenn Löhe an die Generalsynode von 1849 das ihm so sehr verdachte Verlangen eines unzweideutigen Bekenntnisses zu den lutherischen Bekenntnissen stellte. „Ich hätte – sagt er a. a. O. – es gerne recht völlig und glaubwürdig aus dem eignen Mund der Kirche erfahren, ob es denn wirklich noch beim alten Bunde verbleiben sollte, der 1580 geschlossen wurde... Da schien es nun das beste, die richtige Meinung durch den Ausspruch der Kirche selbst, die durch ihre Generalsynode vertreten ist, kennen zu lernen. Wenn die Generalsynode ein gutes Bekenntnis bekannte und sich gegen die verfassungsmäßigen und kirchenregimentlichen Widersprüche erklärte, dann hatte man ein Zeugnis, das die Seele einigermaßen stillen konnte; es mußten dann auch gewiß die Widersprüche fallen. That sie aber das nicht; gab sie undeutlichen Ton des Bekenntnisses, und machte sie ihr wörtliches Bekenntnis nicht durch treuen Fleiß gegen die Widersprüche verständlicher: dann stand es schlimm mit dem Luthertum der Landeskirche.“ etc.

 Unsre Leser wissen, in welch ungenügender Weise die Generalsynode von 1849 diesem Verlangen entsprach und wie Löhe in seiner „Beleuchtung der Synodalbeschlüsse“, daraufhin sein Votum für den Austritt aus der Landeskirche abgab. Die Hoffnung, die Vertretung seiner Sache in die Hände einflußreicher Männer gelangen zu sehen, bewog ihn, die Ausführung des gefaßten Entschlusses bis| auf weiteres zu vertagen. Statt sofortigen Bruches mit der Landeskirche versuchte er nun wo möglich innerhalb derselben eine Besserung der kirchlichen Zustände herbeizuführen und dem lutherischen Bekenntnis zum Recht und thatsächlicher Geltung zu verhelfen. Diesen Weg beschritt er durch die wiederholten Petitionen vom Spätherbst 1849, die oben bereits erwähnt sind. Wir bemerken dazu nur noch, daß Löhe mit seinem Dringen auf Bekenntnistreue und Verpflichtung der Geistlichen auf die Symbole mit quia doch keinen Anteil hatte an jener Ueberspannung der Symbole, die nun ein Charakteristikum der „missourischen Richtung“ geworden ist. Während diese letztere bekanntlich die Symbole fast wie einen lehrgesetzlichen Kodex von lauter gleich unverbrüchlichen Glaubensparagraphen ansieht, vertrat Löhe schon damals das Recht einer Unterscheidung des eigentlichen Bekenntnisses im Bekenntnis von der theologischen Zuthat an demselben. Er verwarf zwar den Kraußoldschen Satz: „Ich nehme in den Bekenntnissen das Bekenntnis an“ als zu vag und vieldeutig, stellte aber seinerseits den Satz auf: „Ich nehme an was in den Bekenntnisschriften bekennend (bekenntnisweise) gesagt ist.“ „Es fällt mir – sagt er a. a. O. p. 60 ff – nicht ein, am Buchstaben zu kleben und mir eine Symbololatrie zu Schulden kommen zu lassen. Ich unterscheide im Konkordienbuche was bekennend gesagt ist und was nicht also gesagt ist – und ich unterscheide noch mehr – gewisse einseitige, sich einander beschränkende und ergänzende Stellen der Symbole und Artikel, die im Streite der Kirche nicht völlig erledigt sind.“ An verschiedenen Beispielen aus den Schmalkaldischen Artikeln zeigt Löhe dann Recht und Pflicht dieser Unterscheidung und erörtert den Sinn des öfter von ihm gebrauchten Ausdrucks „das recht verstandene quia“, indem er fortfährt: Der zweite Satz (ich nehme an was in den Bekenntisschriften bekenntnisweise gesagt ist) will nichts vom eignen Ermessen der jeweiligen Bekenner wissen; er nimmt als Bekenntnis| an, was die ersten Bekenner als Bekenntnis gaben... Sollte der öfter gemachte Vorschlag, für die Gemeinden zusammenzustellen, was im Konkordienbuch Bekenntnis sei, einmal ausgeführt werden: so würde viel Streit entstehen, wenn die Zusammenstellung Geltung bekommen sollte, und man würde in der That erfahren, wie vieldeutig das Wort Bekenntnis sei. Sollte hingegen zusammengestellt werden, was im Bekenntnis bekennend gesagt ist, so würde zwar das nicht so ganz leicht sein, weil nicht alle mal (man denke an die Apologie) das Bekennende durch eine Bekenntnisformel (credimus, docemus, confitemur) eingeleitet ist; aber man würde damit zu Stande kommen. Dort würde die Subjektivität mit ihrer Willkür, hier die Objektivität mit ihrem klaren Licht die Fackel tragen... Wer sich zu den Bekenntnissen und zu dem namentlich bekennt, was in ihnen bekennend gesagt ist (= was Frucht der lutherischen Reformation und ihres Kampfes ist), der bekennt sich zum Resultat der Geschichte, der historischen Entwicklung. Denn die lutherischen Bekenntnisschriften sind in dem was sie bekennen und behaupten, historisches Ergebnis des letzten bedeutenden dogmatischen Kampfes der Kirche. Wer jetzt geschichtlich bekennen, im Zusammenhang mit dem Altertum stehen und die Zukunft für sich haben will, muß auf der Basis der Konkordia stehen, welche den Fortschritt der alten zu der neuen Zeit vermittelt. Bei dieser geschichtlichen Betrachtung hat man eine Anleitung mehr, das Bekennende in den Bekenntnissen zu finden; bei ihr findet man auch leicht die Punkte wo eine ἐπιείκεια statthaben muß; bei ihr bleibt man vor der oberflächlich protestantischen und starr orthodoxen Auffassung gleich weit entfernt.“
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 Es wird die durchaus gemäßigte Haltung anerkannt werden müssen, die Löhe – zeug dieses Schriftchens – in jener Periode des kirchlichen Kampfes beobachtete. Entschiedener war die Stellung, die einer der nächsten Freunde und Mitkämpfer Löhes, der damalige| Kreis- und Stadtgerichtsassessor Hommel, in der Sache einnahm. Er bestritt in einem Anfangs 1850 erschienenen Schriftchen: Die wahre Gestalt der bayerischen Landeskirche etc. den Rechtsbestand der lutherischen Kirche in Bayern, indem er hauptsächlich aus der Thatsache, daß im Jahre 1808 alle einzelnen protestantischen Kirchengemeinden in Bayern zu einer „protestantischen Gesamtgemeinde“ vereinigt wurden, sowie aus der verfassungsmäßigen Bestimmung, daß dem Oberkonsistorium immer auch ein Rat reformierter Religion angehören solle, seine Schlüsse zog. In einer späteren Phase des kirchlichen Kampfes, als der Bruch mit der Landeskirche unvermeidlich schien, stellte sich Löhe selbst zeitweilig auf diesen Standpunkt, kehrte jedoch bald wieder zu seiner früheren – zwischen Kraußolds und Hommels Behauptung die Mitte haltenden – Ansicht zurück, daß der Rechtsbestand der lutherischen Kirche in Bayern mindestens zweifelhaft und in utramque partem disputabel sei. Diese letztere Anschauung teilte auch Professor v. Scheurl, der aber eben aus dem Umstand, daß die Bestimmungen der Verfassung in einem für den Rechtsbestand der lutherischen Kirche günstigen Sinn ausgelegt werden konnten, den Schluß zog, daß man mit gutem Gewissen in der bayerischen Landeskirche bleiben könne und nur auf konfessionelle Bereinigung der Verhältnisse und Erzielung stärkerer Garantieen für den rechtlichen Bestand der lutherischen Kirche bedacht sein müsse. Er entwickelte diese Anschauungen in einer Reihe von Briefen an Löhe, deren Hauptinhalt wir wegen der heutiges Tages noch aktuellen Wichtigkeit der Sache kurz herausheben.
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 Scheurl geht von dem Satz aus, daß man keine Nötigung habe aus einer Landeskirche auszuscheiden, so lange das Bekenntnis der Gesamtheit als solcher rein sei und man nicht, um in ihr geduldet zu werden, selber mitsündigen müsse. Der Rechtsbestand einer Kirche als lutherischer könne nicht anders aufgehoben werden als durch einen ausdrücklichen Akt der Kirchengesetzgebung. Der| tatsächliche Bestand der bayerischen Landeskirche sei freilich in vielen und wesentlichen Stücken unlutherisch. Allein bei der Unvollkommenheit irdischer Zustände werde überall der tatsächliche Zustand ein von der Rechtsregel mehr oder weniger abweichender sein. Die Herrschaft des Rechts bestehe überall nur darin, daß es von der Gemeinschaft der darunter Stehenden als Recht anerkannt sei – und daß Anstalten dafür bestehen, um einen vom Recht abgewichenen tatsächlichen Zustand mit dem Recht wieder in Einklang zu setzen.

 An diesen juristischen Wahrheiten habe man nun den Zustand der bayerischen Landeskirche zu messen, um zu finden, ob sie eine lutherische zu sein aufgehört habe und zwar werde es nach Art. VII. der Augustana nur darauf ankommen, ob in jenem Sinne reine Lehre und rechte Sakramentsverwaltung noch in ihr zu Recht bestehe.

 „Der Rechtssatz – fährt Scheurl fort – daß alle kirchliche Thätigkeit, insbesondere aber die öffentliche Lehre bestimmt sein müsse durch die lutherischen Symbole, der gemeines Recht aller lutherischen Landeskirchen und durch alle unsere Kirchenordnungen bestätigt ist, ist niemals für die bayerische Landeskirche aufgehoben worden... Religionsedikt und Verfassungsurkunde erkennen die lutherische[1] Kirche als eigene Kirche an neben der reformierten. § 38 des Religions-Edikts erkennt ganz ausdrücklich die fortdauernde| Geltung der symbolischen Bücher an. Die Verpflichtung auf die symbolischen Bücher ist durch kein Kirchengesetz, sondern soweit sie außer Uebung gekommen ist, nur durch Nachläßigkeit und Connivenz außer Uebung gekommen... Die Mitglieder der theologischen Landesfakultät haben fortwährend eine strenge Verpflichtung auf die lutherischen Symbole abzulegen. Ebenso ist es in Beziehung auf die Sakramentsverwaltung. Kein Kirchengesetz hat in betreff derselben an den Bestimmungen der alten Kirchenordnungen und Gebräuche etwas geändert. Wo etwas dagegen geschieht, geschieht es durch Übertretung rechtlich gültiger Bestimmungen... (durch) ungesetzliche Verwaltungshandlungen, welche der Kraft der gesetzlichen Bestimmungen so wenig etwas benehmen können, als die verfassungsverletzenden Ministerialerlasse Abels Abänderungen der Staatsverfassung und Staatsgesetze waren. Es besteht also reine Lehre und rechte Sakramentsverwaltung in unserer Kirche ununterbrochen zu Recht, und alle Juristen, die das Gegenteil behaupten, sind in einem handgreiflichen Irrtum befangen.“
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 Scheurl wendet sich dann weiter gegen die Behauptung, daß die bayerische Landeskirche durch ihre Verfassung eine unlutherische, unierte Kirche geworden sei. Nach dem II. Anhang zum Religions-Edikt soll nämlich das Oberkonsistorium zusammengesetzt sein aus einem Präsidenten des protestantischen Glaubensbekenntnisses und aus vier geistlichen Oberkonsistorialräthen, unter welchen einer der reformierten Religion ist. Zum Beweise dafür, daß diese kirchenregimentliche Union nicht auch zugleich eine konfessionelle Union sein sollte, beruft sich Scheurl auf die Anerkennung der drei bestehenden Kirchengesellschaften in der Verfassungs-Urkunde und aus § 38 des Religions-Edikts, welcher die fortdauernde Geltung der symbolischen Bücher einer jeden der anerkannten Kirchengesellschaften ausspreche, sowie auf die Thatsache, daß die pfälzische Kirche erst noch auf Grund einer besonderen Vereinigungsurkunde eine Union| der beiden protestantischen Konfessionen geschlossen habe. Wäre die äußerliche Vereinigung von Lutheranern und Reformierten unter Einem Kirchenregiment schon eine konfessionelle Union gewesen, so hätte man ihr in der Pfalz nicht erst noch eine solche hinzufügen können. Die dehn- und deutbare zwitterhafte Natur der die kirchlichen Verhältnisse regelnden Bestimmungen in der bayerischen Verfassungsurkunde erklärt Scheurl aus dem geschichtlichen Hergang der Dinge. „Als die (kirchlichen) Einrichtungen getroffen wurden, um die es sich handelt, d. h. wie Hommel nachweist, im Jahre 1808, war der Rheinkreis noch nicht bei Bayern. Man hatte also eine große Anzahl rein lutherischer Gemeinden und eine sehr kleine Anzahl reformierter Gemeinden vor sich. Man fand es nun für bequemer, die reformierten Gemeinden mit jenen unter dasselbe Kirchenregiment zu stellen, sie nicht zu einer selbstständigen Kirche zu formieren. Man formierte eine lutherische Landeskirche, der man die reformierten Gemeinden in Beziehung auf das Kirchenregiment, von dem man nur einen ganz äußerlichen Begriff hatte, einverleibte. Dasselbe that man, als der Rheinkreis hinzukam, mit den dortigen reformierten Gemeinden.“ Freilich hätte nun – meint Scheurl – ausgesprochen werden müssen, daß dieses gemischte Kirchenregiment über die protestantische Gesamtgemeinde in allen konfessionellen Beziehungen eine itio in partes zu befolgen habe. „Allein man war eben konfessionell indifferent und deshalb, ohne eine unierende Absicht, unterließ man solche Bestimmungen. Man dachte nicht daran, was zum gehörigen Auseinanderhalten derselben in Beziehung auf das Innerliche nötig sei. So erklärt es sich nun, wie man im Jahre 1818 in der Verfassungsurkunde doch wieder von drei Kirchengesellschaften sprechen konnte. Man that dies bona fide; denn man hatte mit der Bildung einer protestantischen Gemeinde nur eine lutherische Kirche organisieren und dieser die reformierte Kirchengesellschaft d. h. den Inbegriff der reformierten Gemeinden als eine| nicht selbstständig organisierte Kirchengesellschaft einfügen wollen. Der durchgehende Charakter aller Einrichtungen ist der, daß sie im allgemeinen auf eine lutherische Landeskirche – nur eben ohne alle konfessionelle Schärfe – berechnet sind, und dabei für die eigentümlichen Verhältnisse der reformierten Kirchengesellschaft eine höchst notdürftige Rücksicht beobachtet wird... Es war ein verworrener und auf konfessioneller Gleichgültigkeit beruhender Zustand, aber es war keine rechtsförmliche Aufhebung des Rechts der lutherischen Kirche, es war keine Union im geschichtlichen Sinne des Worts. Denn was ist Union? Ich denke doch ganz einfach: Aufhebung der gegenseitigen Ausschließung von der Abendmahlsgemeinschaft. Eine Landeskirche ist dann, aber auch nur dann eine unierte, wenn sie den Grundsatz als allgemeingültigen aufstellt: es kann das abweichende lutherische oder reformierte Bekenntnis für sich nicht von der (gegenseitigen) Abendmahlsgemeinschaft ausschließen. Daß man oft von Seiten der Kirchenbehörden so gehandelt hat, als wenn dieser Grundsatz in Bayern bestünde (z. B. indem man die Bildung unierter Lokalgemeinden zuließ), liegt leider am Tage; aber aufgestellt oder durchgeführt ist der Grundsatz nie.
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 Insofern behaupte ich fortwährend: unsere Landeskirche ist auch bei der gegenwärtigen Verfassung keine unierte; sie ist eine lutherische mit reformierten Bestandteilen. Dagegen stimme ich ganz damit überein, daß bei dem jetzt geweckten konfessionellen Bewußtsein eine Fortdauer dieser äußerlichen Vereinigung mit Reformierten und Unierten nicht mehr zulässig ist. Hierüber ist die Entscheidung abzuwarten, welche die in Kürze zu erhoffende Neugestaltung unsrer kirchlichen Verfassung bringen wird. Wenn diese nicht bestimmte Garantieen für das konfessionelle Auseinanderhalten der verschiedenen Religionsparteien und eine Bestätigung des Grundsatzes bringt, daß das reformierte Bekenntnis ein Grund der Ausschließung von der lutherischen Abendmahlsgemeinschaft ist, so sehe ich allerdings| auch nicht ein, wie man ohne Verleugnung des Bekenntnisses in der Landeskirche bleiben kann. Erreichen wir aber, daß unsere Landeskirche eine Verfassung erhält, wodurch entschieden das lutherische Bekenntnis im Gegensatz zum reformierten als Gemeindebekenntnis der Kirche anerkannt wird, so bin ich dann fortwährend entschieden der Meinung, daß die Durchführung des lutherischen Bekenntnisses in der Praxis mit Geduld – ich sage nicht in Unthätigkeit – abgewartet werden muß und ohne Verleugnung des Bekenntnisses abgewartet werden kann. Denn das Bekenntnis der Gesamtheit der Kirchenglieder als Gesamtheit, nicht das der gegenwärtigen Mehrzahl der Gemeindeglieder oder Lehrer ist (für den konfessionellen Charakter einer Landeskirche) entscheidend. Das consentire de doctrina etc. (A. Conf. Art. VII.) ist als faktischer Zustand der Uebereinstimmung aller gleichzeitig lebenden Lehrer einer Kirche das maximum der unitas et veritas ecclesiae, oder vielmehr eine seltene Gnadengabe. Dagegen als Gemeindebekenntnis, als dauernd geltendes Bekenntnis der moralischen Person der Kirche ist es das minimum, aber auch satis. Daß der faktische Zustand diesem Rechtszustand gleich komme, ist die fortwährend anzustrebende, in voller Wahrheit vor dem Ende der Tage nie zu erreichende Aufgabe.“

 So weit v. Scheurl. Seine Ausführungen scheinen auf Löhe doch in gewissem Maße gewirkt zu haben. Wenigstens schreibt er am 21. Februar 1851 an Baron v. Maltzan, es habe sich bei einer Besprechung mit den Professoren in Erlangen folgende Fassung der Gegensätze herausgestellt:

 Hommel behauptet: die bayerische Landeskirche ist uniert.

 Thomasius u. conss: sie ist lutherisch.

 Löhe u. conss: sie ist lutherisch, wenn sie die konfessionswidrigen Verfassungsverhältnisse und sonstigen Mißbräuche zu beseitigen vermag.





  1. Anm. Freilich ohne sie mit diesem Namen zu bezeichnen. § 9 von Tit. IV der Verfassungs-Urkunde spricht von den „in dem Königreich bestehenden drei (später vier) christlichen Kirchengesellschaften“ und § 24 der II. Beilage zur Verfassungs-Urkunde erkennt „die in dem Königreich bestehenden drei christlichen Glaubenskonfessionen als öffentliche Kirchengesellschaften“ an. In dem „Edikt über die inneren Angelegenheiten der protestantischen Gesamtgemeinde in dem Königreiche“ wird § 2 und 4 protestantisches und reformiertes Glaubensbekenntnis einander entgegengesetzt, woraus wohl mit Recht gefolgert wird, daß hier „protestantisch“ in geschichtlichem Sinn genommen werden muß, wonach es ursprünglich die Lutheraner d. h. die Anhänger der deutschen Reformation mit Ausschluß der Reformierten bezeichnet.


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