Wie es kompliziert war, bis ich in die Sommerfrische kam

Textdaten
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Autor: Hermann Harry Schmitz
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Titel: Wie es kompliziert war, bis ich in die Sommerfrische kam
Untertitel:
aus: Der Säugling und andere Tragikomödien Seite 192-203
Herausgeber:
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1911
Verlag: Ernst Rowohlt Verlag
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans auf Commons
Kurzbeschreibung:
Aus dem Zyklus:
Wenn man so reist.
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[192]
Wie es kompliziert war bis ich in die Sommerfrische kam.

Ich hatte alles, was auf der ersten Seite meines Fahrplanes stand und vor dem Gebrauch des Buches zu lesen war, genau gelesen und kam nicht zurecht, ich kam, weiß Gott, nicht zurecht.

Qualvolle Tage, durchgrübelte Nächte, völliges Zerfallensein mit mir selbst, hitzige, erbitterte Dispute mit lieben Bekannten waren vorausgegangen, bis ich endlich zu einem Entschluß gekommen war, wohin überhaupt ich in die Sommerfrische gehen sollte.

Von dreiundachtzig Bekannten waren mir dreiundachtzig verschiedene Sommerfrischen empfohlen worden. Ein jeder behauptete von seinem Favoritplatz, daß er das entzückendste Fleckchen auf der Erde sei. Man grollte mir, man haßte mich fast, man wandte sich wütend ab und brummte: „Warum fragen Sie mich denn, gehen Sie von mir aus, wohin Sie wollen,“ – wenn ich mich nicht im gleichen Augenblick enthusiasmiert für den gepriesenen Ort entschied.

„Nach Norderney müssen Sie gehen,“ sagte mir Frau Geheimrat Doddersucht, die von ihren sechs Töchtern bereits vier auf Norderney losgeworden [193] war – alles gute Partien, wirklich ausgezeichnet waren die Mädchen angekommen: „Man trifft durchweg nur gute Gesellschaft dort. Exzellenzens Mostert lernten wir vergangenes Jahr kennen, reizende Leute, ganz reizende Leute. Ach, und die Reunions sind so entzückend, wirklich nur nette, scharmante Herren mit Lebensstellungen. Ich habe für Tilly und Erna noch neue Ballkleider nachkommen lassen.“

Behüte mich Gott! Ich dankte, ich wurde vorläufig als Junggeselle mit meinen Renten allein fertig. Außerdem gehe ich nicht in die Sommerfrische, um in Marionettenbetrieben mitzuwirken.

Borkum – „Ich bin jedes Jahr sechs Wochen mit meinen Kleinen dort. So nett ist das mit dem Kinderbataillon, so herzig, und den Kleinen macht es gar so viel Spaß, so lieb können die Kinderchen mit ihren Eimerchen am Strand spielen,“ pries mir Frau Knüsterpüster, Mutter von acht unerwachsenen Kindern, dieses Nordseebad.

Ich spiele nicht gern Soldat oder mit Eimerchen im Sand, außerdem machen mich Kinder nervös.

„Nach Knocke,“ riet mir Herr Selmenkuhl, „man trifft dort immer Leute aus unserer Stadt, das ist zu nett.“

Ich fand das gar nicht so arg nett und dankte.

„Ostende, das ist was für Sie,“ suchte mich Herr Huschebold zu begeistern. Ernste Männer nannten ihn einen Windbeutel, einen Schürzenjäger. Am Stammtisch sagte man, er sei ein verdammt toller Kerl, man kniff dabei ein Auge zu und schlug sich auf die Beine. „Famose Weiber in Ostende, feiner Betrieb, tipp, topp.“ Er kiekste mich in die Seite: „Familienbad!“

[194] Ich will meine Ruhe haben, außerdem habe ich X-Beine, ich sehe im Bad gar nicht martialisch aus.

„Zoppot! Idyllisch – poetisch,“ schwärmte Goliath Bumke, „ha, die Unendlichkeit des Meeres, die Sinfonie der Wasser!“ Dabei flog mir ein verkautes Blättchen von seiner Zigarre, das ihm von ohngefähr in den Mund geraten war, an die Backe; es war eine Angewohnheit von ihm, er tat das immer. „Reisen wir zusammen, ich reise morgen,“ schlug er vor.

Auch Bumke gab ich einen Korb.

An die See mag ich überhaupt nicht, da soll man sich verloben, oder aber es sind zu viel Kinder da, oder … oder … und die X-Beine verleiden mir überhaupt, öffentlich zu baden. –

Nach Thüringen – da sind mir zu viel Berliner. In den Harz – da sind mir auch zu viel Berliner. An den Rhein – da ist es im Sommer zu heiß. Scheveningen – da ist es mir zu fein. Zandvoort – da sind nur Holländer. Nach Rügen – das ist mir zu weit, und an den Kreidefelsen macht man sich den schwarzen Anzug weiß. In die Eifel – die ist in den Ferien so überlaufen. In den Hunsrück – da weiß ich überhaupt nicht wo das ist. In die Schweiz – da geht jetzt jeder hin, außerdem hat man die Schererei mit dem fremden Geld und der Verzollung. In die bayerischen Alpen – da verstehe ich den Dialekt nicht. In den Spessart – da bin ich zu bange wegen der Räuber. Nach Triberg – da wäre ich nett verrückt.

Ich wußte nicht mehr ein noch aus. Es war entsetzlich. Die wenigen Leute auf der Straße, die Häuser, selbst die Droschkenpferde schauten mich höhnisch an und feixten. Heißer und heißer wurde [195] es in der Stadt. Ich mußte weg, ich mußte jetzt unbedingt weg. Aber um Himmels willen wohin?

Da kam mein Freund Edeward. Edeward hatte eine Schnauze, gegen die niemand ankam.

„Du fährst in den württembergischen Schwarzwald, wohlverstanden in den württembergischen,“ legte er los, „ich war in diesem Frühjahr dort, in einem famosen, kleinen Nest, hoch auf einem Bergrücken, inmitten wunderbarer Tannenwaldungen. Das ist etwas für dich. Verpflegung tadellos. Dann soll es im Sommer, wenn wir hier am Rhein bald umkommen vor Hitze, gar nicht zu heiß sein, immer wehe ein erfrischendes Lüftchen da oben. Und dann vor allen Dingen billig: drei Mark volle Pension. Denke dir, mit Nachmittagskaffee, ist das nicht erstaunlich?“

Mit Nachmittagskaffee, das war ja ganz außerordentlich, verwunderte ich mich, im übrigen schien mir die Sache zu passen. Ich war des weiteren Suchens aber auch völlig überdrüssig und klammerte mich an Edewards Vorschlag, nur um aus dem furchtbaren Dilemma herauszukommen.

„Du mußt über Karlsruhe fahren, dann Karlsruhe – Pforzheim, du findest es leicht in jedem Kursbuch,“ hatte Edeward noch gesagt und war dann gegangen.

Du findest es leicht – so eine Gemeinheit. Ich saß jetzt in der zweiten Nacht, vergraben in einem Stoß von Kursbüchern und kam nicht zurecht und kam absolut nicht zurecht. Ganz blöde war es mir im Kopf; die Zahlen tanzten mir vor den Augen.

Bis Köln – ja, das fand ich, dann fing es schon an, links- und rechtsrheinische Strecken, daraus soll jemand klug werden. Dann war am Kopf der [196] Zahlenrubrik ein W oder ein L oder ein D oder Gabel und Messer oder ein Fahrrad oder ein Stern, oder die Zahlen hörten mitten in der Kolonne ganz auf. Dann paßten die Stationsnamen nicht zu den Zahlenreihen, weil die eine Seite zu hoch oder zu niedrig geheftet war. Mainz hatte ich dann endlich gefunden, und ich freute mich schon riesig; da merkte ich, daß ich den Dampferfahrplan aufgeschlagen hatte.

Leicht zu finden – ich lachte gellend und verfluchte alle Eisenbahnen, alle Kursbücher, alle Sommerfrischen, mich selbst, Edeward und wer mir noch gerade einfiel.

Dann hatte ich Mainz nun wirklich, fand auch Karlsruhe irgendwo ganz hinten, verblätterte dann die Seite mit Mainz wieder, wußte nicht mehr, ob ich links- oder rechtsrheinisch nachgesehen hatte, verlor dann auch noch Karlsruhe wieder und fand zum Schluß überhaupt gar nichts mehr. Die dicken Tränen standen mir in den Augen. Dann raffte ich mich auf und griff zu einem Kursbuch, speziell für Süddeutschland. Da war wieder Köln und Mainz nicht zu finden. Ich ging vorsichtig von Karlsruhe aus, alles klappte bis ein Pfeil in eine Nebenrubrik zeigte, und alles war wieder verloren. Ich schrieb ganze Zahlenkolonnen ab, ich blätterte wie im Wahnwitz, griff immer zu neuen Kursbüchern, steckte meine sämtlichen zehn Finger als Lesezeichen in die Bücher, stierte mit weit aus dem Kopf stielförmig hervortretenden Augen in das Zahlenchaos und murmelte mechanisch: „Köln, Bonn, Remagen, Bingerbrück, Mainz, Mainz, Mainz…"

Ich dachte ernstlich an Selbstmord.

[197] Am dritten Tage fand ich den Anschlußzug von Mainz nach Karlsruhe. Von Karlsruhe weiter nach Pforzheim, das bekümmerte mich vorläufig nicht, wenn ich nur schon mal in Karlsruhe war. Wie ein Besessener sprang ich auf, kletterte vor Übermut und Freude auf den Kleiderschrank, stellte mir eine brennende Kerze auf den Kopf und sang patriotische Lieder, bis ich völlig außer Atem war.

7,20 am nächsten Morgen würde ich fahren. 7,20, eine traute Zahl. Das war meine Zahl, ich war ganz stolz; 7,20, wie das klang, welche Phonetik.

Den ganzen Tag über war ich in einer fieberhaften Tätigkeit. Ich kaufte mir schon ein Billett bis Karlsruhe, um am anderen Morgen freie Hand zu haben, stampfte meinen Kram in den großen Koffer und eine herzige Handtasche, sang Reiselieder, gebärdete mich überhaupt, wie ein junges Füllen.

Punkt sechs Uhr am anderen Morgen ließ ich mich wecken.

Fünf Minuten nach sieben war ich am Bahnhof.

Meinen großen Koffer gab ich bis Karlsruhe auf. Die gelbe Leinenhaut meines Rohrplattenkoffers schauderte, als ein herkulischer, bärtiger, wildfremder Mann mit übelriechendem Leim eine Nummer aufklebte. Ich mußte an einem kleinen Fensterchen drei Mark achtzig bezahlen und bekam dafür ein dünnes Papier; dieses so wichtige Dokument nicht zu verlieren, war jetzt meine einzige Sorge.

Ich hatte noch eine dick angeschwollene Handtasche zu tragen, einen Regenkragen, einen Paletot, einen Schirm und einen Stock, mit einer Kordel zusammengebunden; der Stock rutschte immer heraus oder stellte sich quer. Dann hatte ich noch bei mir eine photographische [198] Kamera, eine Düte mit Schinkenbroten und drei weich gekochten Eiern für unterwegs; meinen Fahrplan für Süddeutschland und einen Packen Reiselektüre hielt ich krampfhaft gegen mich gepreßt.

Ich kam an die Sperre. Wo habe ich mein Billett? Billetts habe ich immer in der linken Westentasche. Da ist es nicht. Oder rechts ,– auch nicht. Ich erbleichte – oder in der Innentasche des Rockes – oder in einer der Seitentaschen oder im Paletot. „Durchgehen, durchgehen, nicht die Passage versperren,“ schrien hinter mir Ungeduldige. Der Mann mit der Zange hielt die Hand gezückt. Ich fand das Billett nicht. Ich stellte meinen ganzen Kram ab und ließ die Hände blitzschnell in allen Taschen herumsausen – zog andere Papiere mit heraus, die zu Boden fielen, bückte mich danach, mein Hut fiel ab, meine Brieftasche rutschte mir aus der Tasche. Der Angstschweiß trat mir auf die Stirn: mein Billett war weg. „Sehen Sie doch einmal ganz ruhig nach, Sie werden es schon finden,“ meinte der Bahnsteigschaffner gütig. Das nützte auch nichts, das Billett war und blieb verschwunden. Ich mußte 7,20 weg, ich mußte unbedingt weg, dann schon lieber ein neues Billett.

Ich stürzte zum Schalter. Am Schalter stand ein Mann, der nach Stallupönen wollte und sich auseinandersetzen ließ, auf welcher der vielen Routen er am besten dahin käme. Er war schwerhörig und verstand den Beamten nicht. Ich tanzte von einem Bein auf das andere. Ich stieß und drängte den Mann mit den Ellenbogen und rief in das Fensterchen: „Karlsruhe, schnell, schnell!“ „Nach der Reihe, einer nach dem anderen, nicht vordrängen, Sie [199] kommen auch noch daran,“ verwies mich der Beamte milde. Der Mann, der nach Stallupönen wollte, schimpfte, legte sich dann extra breit vor das Fensterchen und ließ sich seinen Reiseweg weiter explizieren. 7,17 zeigte die Uhr. Noch drei Minuten. Ich zitterte vor Aufregung. Daran sollte also die Reise scheitern! Endlich, endlich war der Mann erledigt. Ich schrie in das Fensterchen: „Karlsruhe, schnell, schnell!“ Der Beamte war weggegangen. 7,18 Uhr, noch zwei Minuten. „Karlsruhe, zweiter, geben Sie mir doch ein Billett nach Karlsruhe!“ brüllte ich jetzt in das Fensterchen. Der Beamte kam langsam in den Kartenraum zurück, guckte mich wütend an und begann in seinem Fahrkartenschrank zu suchen. Dann legte er das Billett auf das Drehbrett: „Geld, Geld!“ fuhr er mich an. Ich hatte noch kein Geld ausgepackt. Ich kramte in den Taschen herum, versuchte mit dem Gold und Silber, welches ich bei mir führte, zu bezahlen. Es reichte nicht, ich mußte einen Hundertmarkschein wechseln lassen. Das hielt wieder auf.

Auf 7,20 Uhr schnappte der Zeiger, als ich mit meinem Billett zur Sperre stürzte. Schnell die Handtasche und die übrigen Sachen, die friedlich verstreut auf dem Boden meiner harrten. Ich raste durch den Bahnhofsgang, rannte eine alte Frau um, hinter mir her wurde geschimpft, eilte die Treppe hinauf und erreichte den Bahnsteig, als gerade der Zug langsam die Halle verließ. In einigen gewaltigen Sätzen hatte ich den letzten Wagen erreicht – ein Wagen vierter Klasse. – „Zurückbleiben, wollen Sie wohl zurückbleiben,“ schallte es hinter mir energisch. Ich lief noch ein Stückchen neben dem Zug her, dann gelang es mir, den Handgriff zu packen, ich schwang mich [200] auf die Plattform. Mein Stock und Schirm kamen mir zwischen die Beine. Ich kam zu Fall und stieß mir furchtbar das Schienbein an der Plattform. Mein pralles Köfferchen flog in hohem Bogen durch die Luft und platzte auf dem Steinboden des Perrons. Meine treuen Socken, meine Zahnbürste, mein Kamm, meine Seife, meine Pantoffel, mein Nachthemd und mancherlei diskrete Bekleidungsstücke verstreuten sich auf dem Boden und waren den profanen Blicken hämischer Menschen preisgegeben. Mein schöner, gelber Paletot war an einem Haken des Waggons hängen geblieben und schleppte über die fettigen Gleise. Meinen Regenkragen hatte ich schon auf der Treppe verloren, gleichzeitig mit dem Fahrplan und den Zeitungen. Die Kamera war mir bei dem Zusammenstoß mit der alten Frau aus der Hand geflogen. Mein Schirm und Stock hingen zerbrochen am Trittbrett. Ich lag auf dem Bauch auf der Plattform mit zerschundenem Schienbein, zerrissener Hose, ohne Hut, nur die Tüte mit den Schinkenbroten hielt ich noch krampfhaft in der Hand. Mit den Eiern schien etwas vor sich gegangen zu sein, es lief mir ein gelbes, nasses Etwas über die Finger. Egal, egal, ging auch alles zum Teufel, ich hatte meinen Zug erreicht.

Ich erhob mich ächzend aus meiner unwürdigen Lage. – Was war das? Der Zug fuhr langsamer, immer langsamer, stand dann ganz still und fuhr wieder zu meinem größten Entsetzen in den Bahnhof zurück: er hatte nur rangiert.

Viele energische Hände nahmen mich in Empfang. Man zog mich von der Plattform und schleppte mich in das Bureau des Stationsvorstehers. Mein Bein [201] tat mir scheußlich weh, ich konnte kaum gehen. Meine neue Hose hing in Fetzen herunter. Sehr mitgenommen sah ich aus. Alle Leute lachten, stießen meine schöne Sachen, die auf dem Perron herumlagen, mit Füßen und machten häßliche Witze.

„Nein, so was! Nein, so was ist mir nun doch noch nicht vorgekommen,“ keuchte wütend neben mir ein Mann mit einer roten Mütze, „das muß exemplarisch bestraft werden, exxxx… x… exemplarisch!!“

Mir war ganz unklar, warum dieser Mann so wütend war; ich hatte doch das kaputte Schienbein, mein Köfferchen war geplatzt, meine Socken, meine Zahnbürste, meine Seife und so weiter lagen auf dem Boden herum, mein Paletot war verdorben – –

Ganz willenlos, völlig gebrochen ließ ich mich in ein unfreundliches Zimmer mit hohen, langweiligen Pulten schieben.

Ganz apathisch antwortete ich auf die seltsamsten Fragen. Dann mußte ich ein Formular unterschreiben und zum Schluß vierzig Mark bezahlen.

Ein Mann, auch in Uniform, hatte Mitleid mit mir. „Wohin wollen Sie denn eigentlich?“ erkundigte er sich teilnehmend.

„Nach Karlsruhe mit dem Zug 7,20 Uhr,“ schluchzte ich verzweifelt.

„7,20 – 7,20 – – – da fährt aber kein Zug nach Karlsruhe. Da müssen Sie sich irren.“

„In meinem Fahrplan steht dieser Zug,“ jammerte ich weiter.

„7,20 – warten Sie mal,“ der freundliche Mann nahm ein Kursbuch zur Hand, „richtig, 7,20 fährt ein Zug, das ist aber abends. Sie haben den Strich übersehen.“

[202] Ich suchte unter dem Feixen der Menge meine Sachen zusammen, schlich in den Wartesaal und begab mich daran, mich in schweren Dingen furchtbar zu betrinken. Vorher hatte ich den Portier mit heiligen Eiden und fünf Mark verpflichtet, mich, könne kommen, was da wolle, in den Zug 7,20 Uhr abends nach Karlsruhe zu schaffen.

Viele Rotweinflaschen, leere Kognakflaschen, das war meine letzte Vision, dann weiß ich nicht mehr, was mit mir geschehen ist.

Die Sonne schien mir ins Gesicht, als ich wach wurde mit einem furchtbaren Brummschädel, einem entsetzlichen Sodbrennen, eingehüllt in eine dicke Kognakatmosphäre. Ich befand mich in einem fahrenden Zug.

„Billjät vorwiese, bittäh,“ hörte ich jemand sagen. Ein Schaffner in einer fremden Uniform stand vor mir.

Verstört zog ich aus der linken Westentasche meine Fahrkarte.

„Sie hätten in Karlsruhe aussteigen müssen, wir sind bereits in Basel,“ sagte mir der Mann kopfschüttelnd.

Schon fuhr auch der Zug in den Hauptbahnhof Basel ein.

Wieder längere, kostspielige Erörterungen auf dem Stationsbureau.

Dann folgte eine schreckliche Zeit. Ein gräßlicher Fluch heftete sich an meine Fersen: unstet und flüchtig. Nie, aber auch nie saß ich im rechten Zug. Immer schlief ich ein und versäumte, wo es nötig war, aus- oder umsteigen.

Ich war während dieser irren Fahrt in Genua, Zürich, München, Leipzig, Breslau, Kattowitz, Wien, [203] Berlin, Hamburg, Königsberg gewesen, hatte vier Tage im Polizeigewahrsam, einen Tag auf dem schwedischen Konsulat, zwei Nächte im Gasthaus zur Heimat, eine Nacht in einer Wanderer-Arbeitsstelle, drei Tage in einem Trinkerasyl, zwei volle Tage in einer Irrenanstalt, zwei Nächte im Obdach der inneren Mission und die übrige Zeit auf der Eisenbahn und in Wartesälen und Bahnhofstoiletten zugebracht.

Vier Wochen dauerte diese entsetzliche Kreuz- und Querhatz. Ich war der völligen Verblödung nahe.

Nur dem Umstand, daß ich aus Versehen endlich in den richtigen Zug stieg und durch festes Einschlafen verhindert war, doch irgendwo wieder in einen falschen Zug umzusteigen, hatte ich es zu verdanken, daß ich endlich eines Tages doch die von Edeward gepriesene Sommerfrische erreichte.