Wendische Sagen, Märchen und abergläubische Gebräuche/Kapitel IX

VIII. Till Eulenspiegel Wendische Sagen, Märchen und abergläubische Gebräuche (1880) von Edmund Veckenstedt
IX. Wenden- und Schildbürgerstreiche
X. Die Pšezpolnica
[101]
IX.
Wenden- und Schildbürgerstreiche.

1.

Als die Wenden in die Lausitz kamen, waren sie noch sehr dumm; sie kannten z. B. die Pferde noch nicht. Nun geschah es einmal, dass man auf einem Kahne ein Pferd nach Leipe brachte. Da glaubten die Bauern, es sei ein grosser Hirsch und fürchteten sich sehr vor demselben.

Branitz.     
2.

Bevor die Wenden auf ihrer Wanderung die Gegend, in welcher sie jetzt leben, erreicht hatten, sind sie noch nicht so klug gewesen wie jetzt; davon haben sie manche Beweise gegeben. So kamen sie einst an einen Bach; an demselben stand eine Weide, welche ihre Zweige weit über das Wasser beugte. Da sagten sie: „Die Weide will trinken, kann aber das Wasser nicht erreichen; wir wollen ihr helfen.“ Sofort machten sie sich an die Arbeit und drückten so gewaltig gegen die Weide, dass der Stamm brach und die Weide mitsammt den Wenden in das Wasser stürzte.

Sylow.     
3.

Als die Wenden zuerst in diese Gegend gekommen sind, waren sie noch ein wenig dumm: deshalb ist ihnen mancherlei begegnet, was nicht in der Ordnung war. So beschlossen sie einst, eine Kirche zu bauen. Sie brachten auch den Bau fertig bis auf die Fenster; die hatten sie vergessen. Zufällig hatten sie oben im Dache eine Oeffnung gelassen. Nun geschah es, dass ein Vogel, als sie in der Kirche waren, [102] durch die Oeffnung hereingeflogen kam; da riefen sie in ihrer Freude: „Das ist der Glaser, der wird uns Fenster machen.“ Der Vogel flog wieder aus der Dachöffnung hinaus; die Wenden aber beschlossen, ihm zu folgen. Das geschah. Da sahen sie denn, wie er im Walde sich auf einen Baum setzte und dann in ein Loch desselben schlüpfte. Nun wollten sie durchaus ihren Glaser haben und so blieb ihnen nichts weiter übrig, als denselben zu holen. Deshalb, da sie noch keine Leiter kannten, stellte sich einer von ihnen auf den andern, bis der oberste in das Loch sehen konnte. Der aber sah so tief in das Loch hinein, dass er mit dem Kopfe nicht wieder heraus konnte. So kamen sie nicht nur zu keinem Glaser, sondern der Wende selbst blieb oben in dem Loch des Baumes stecken, wo er umgekommen ist.

Sylow.     
4.

Die Schildbürger hatten sich eine Kirche gebaut, dabei aber die Fenster vergessen. Um ihre Kirche hell zu machen, suchten sie das Sonnenlicht in Säcken aufzufangen, dasselbe in die Kirche zu tragen und dann aus den Säcken herauszuschütteln. Das gelang ihnen nicht. Plötzlich, als sie noch bei der Arbeit waren, sahen sie, wie ein Baumspecht an einem Dachsparren herumpickte; bald hatte der Specht ein Loch durch die Sparren gearbeitet, durch welches das Licht in die Kirche eindrang. Darüber freuten sich die Schildbürger sehr. Sie wollten nun den Vogel zwingen, mehr Löcher zu machen, damit noch mehr Licht in die Kirche eindringe; deshalb holten sie eine lange Leiter herbei, setzten dieselbe an die Kirche an und wollten den Specht fangen. Der aber flog in den Wald. Die Schildbürger folgten ihm mit ihrer Leiter. Sie trugen aber die Leiter in der Quere. Da konnten sie nicht in den Wald; deshalb schlugen sie die Bäume nieder, welche ihnen im Wege waren, so dass es ihnen endlich gelang, mit der Leiter in den Wald einzudringen. Der Specht hatte seine Zuflucht zu einem Baume genommen, welcher auf einem Berge stand. Da die Leiter nicht bis zur vollen Höhe, wo der Specht sass, langte, so beschlossen sie, [103] den Baum umzuhauen, damit der Specht, wenn der Baum umstürzte, herunterfiele. Es gelang ihnen zwar, den Baum umzuhauen, der Specht aber flog davon.

Da sie nun des Spechtes nicht habhaft werden konnten, so trösteten sie sich mit den vielen Bäumen, welche sie gefällt hatten. Um sie nach Hause zu schaffen, begannen sie, dieselben aus dem Walde heimzutragen. Sie waren mit ihrer Arbeit fast zu Ende. Als sie den letzten Baum, welchen sie auf dem Berge gefällt hatten, davonschleppen wollten, fassten sie die Sache nicht richtig an, der Baum entglitt ihren Händen und rollte den Berg hinab. Da merkten sie erst, wie man die Bäume den Berg hinab zu schaffen habe. Sofort machten sie sich an das Werk, schleppten die Bäume wieder auf den Berg hinauf und kollerten sie dann den Berg hinunter.

Branitz.     
5.

Die Schildbürger gingen einst in die Haide, um Vögel zu fangen. Da flog aus einem Loche ein Vogel heraus; ein Schildbürger steckte die Hand hinein, um zu sehen, ob noch mehr Vögel darin seien. Als er in dem Loche nach den Vögeln herumfühlen wollte, musste er die Hand öffnen; da er nun die Finger nicht wieder zusammen hielt, so konnte er die Hand aus dem Loche nicht herausziehen. Nun war grosse Noth unter den Schildbürgern, welche unter dem Baume standen und auf die Vögel warteten, die der Mann aus dem Loche herausnehmen sollte. Endlich kam man auf den Einfall, man wolle eine Leiter holen, dieselbe in das Loch stecken, dann könne die Hand daran empor klettern. Als sie nun aber mit der Leiter zur Haide kamen, trugen sie dieselbe in der Quere, so dass sie nicht vorwärts konnten. Somit blieb ihnen nichts übrig, als dass sie das Hinderniss beseitigten, also die Bäume fällten, um vorwärts zu kommen. Das thaten sie denn auch, gebrauchten aber sieben Jahre dazu, bevor sie zu dem Mann kamen, dessen Hand in dem Loch steckte. Dieser war aber längst gestorben und verfault, als sie endlich mit der Leiter glücklich ankamen.

Branitz.     
[104]
6.

Die Schildbürger wollten einmal eine Leiter in die Haide tragen, kamen aber damit nicht zu Stande, denn sie trugen dieselbe der Quere nach. Als sie nun berathschlagten, wie sie mit der Leiter in die Haide vordringen könnten, sahen sie eine Elster über sich hinfliegen, welche einen Zacken in ihr Nest tragen wollte. Die Elster trug den Zacken quer im Schnabel, als sie aber zur Haide kam, bog sie denselben so zur Seite, dass sie geschickt durch die Zweige der Bäume hindurchzuschlüpfen vermochte. Da merkten die Schildbürger, wie sie die Leiter in die Haide zu tragen hätten, und einer sagte zum andern: „Der Vogel ist klüger als wir.“

Branitz.     
7.

Die Schildbürger wollten einmal einen tiefen Brunnen graben, wussten aber nicht, wo sie mit der vielen Erde hin sollten, welche sie aus dem Loche herauswerfen würden. Als sie nun darüber beriethen, kam Jemand dazu, dem sie ihre Noth klagten. Der rieth ihnen, sie sollten für den Brunnen ein so tiefes Loch graben, dass gleich die ganze ausgeworfene Erde mit hinein ginge.

Branitz.     



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