Weltverbesserer/Die Weltverbesserer der Gegenwart

Textdaten
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Autor: Dr. J. O. Holsch
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Titel: Die Weltverbesserer der Gegenwart
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 24, S. 882–884
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1893
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[882]

Weltverbesserer.[1]

Von Dr. J. O. Holsch.
VIII.
Die Weltverbesserer der Gegenwart.

Seitdem die Druckerschwärze so billig und das Papier so geduldig und „endlos“ geworden ist, schießen auch die Weltverbesserungsphantasien üppiger als je ins Kraut. Es gehört sozusagen Zum „guten Ton“, über die soziale Frage zu schreiben; jeder „löst“ sie in irgend einer Weise „endgültig“, selbstverständlich gewöhnlich gerade da am wenigsten, wo er allein sollte und könnte, nämlich in seiner eigenen unmittelbaren Umgebung. Und doch sind all die Tausende, ja Hunderttausende, welche gegenwärtig ihre Gedanken nach dieser Richtung wenden, nur Atome in einer großen sachgemäßen und kulturgeschichtlich hochbedeutsamen Wendung des Zeitgeistes und des modernen Menschenlebens überhaupt: die Epoche des losgelassenen und gewaltig emporgestiegenen Individualismus, die jeden auf sich selbst stellt und für sich selber sorgen läßt, geht ihrem Ende entgegen, eine neue Zeit beginnt sich zu entwickeln, eine Zeit, die, ohne sozialdemokratisch zu sein, doch in den Grundlagen ihrer Rechtsordnung sozialistische Eckpfeiler haben wird. Wir müssen es uns versagen, die Fülle der noch lebendigen papierenen Weltbeglücker auch nur zahlenmäßig zu umschreiben, wir begnügen uns, zwei der klügsten und begeistertsten Propheten kommender glücklicher und goldener Tage herauszugreifen.

Der eine dieser Männer ist drüben auf dem fruchtbaren Boden der Neuen Welt gewachsen, Edward Bellamy; er hat 1888 seinen „Rückblick aus dem Jahre 2000 auf das Jahr 1887“ („Looking Backward“) veröffentlicht, ein Buch, das seinen Weg bald in die Alte Welt gefunden hat und nunmehr wohl in einer Million von Exemplaren über die civilisierte Erde verbreitet ist. Ihm hat die „Gartenlaube“ schon früher (Jahrgang 1890, Nr. 50) ihre Aufmerksamkeit zugewendet. Der andere, Theodor Hertzka, ist ganz ein Kind der alten europäischen Kultur, ein nüchterner aber glänzender Zeitungsmann, der als Redakteur österreichischer Zeitungen die Kolonialbewegung mit Verständniß und Interesse verfolgt hatte, ehe er sein Werk „Freiland, ein soziales Zukunftsbild“ im Oktober des Jahres 1889 von Leipzig aus vom Stapel ließ.


„Nach langem Studium der Weltgeschichte und der Entwicklung unseres industriellen Systems“ – so lesen wir in Bellamys Vorrede – „kam ich zu der Ueberzeugung, daß die große Masse des amerikanischen Volkes die Gefahren, welchen wir entgegen gehen, nicht sieht. Ich wollte meine Mitmenschen warnen und ihnen ein Mittel zeigen, mit Hilfe dessen eine bessere Civilisation als die heutige geschaffen werden kann, ohne daß die Straßen mit Blut getränkt werden.“

Das „Mittel“, welches Bellamy in Gestalt eines Romanes seinen etwas starke Anregungen liebenden Zeitgenossen einflößt, ist denn auch ein recht wirkungsvolles. Julian West aus Boston, ein vornehmer Junggeselle, nimmt unmittelbar vor der Hochzeit mit seiner schönen und hochgebildeten Braut Edith Bartlett ein wenig zu viel von seinem Schlafmittel. Die Folge davon ist, daß er genau 113 Jahre 3 Monate und 11 Tage schläft, dann in dem Boston des Jahres 2000 im Hause eines sehr verständigen Arztes, des Dr. Leete, aufwacht, um nach kurzer Frist in die Frage auszubrechen: „Welche Lösung haben Sie für die Arbeiterfrage gefunden?“

Die Antwort erhält er in der Form, daß man ihn eine Woche lang im „neuen“ Boston herumführt. Edith Leete, die wunderliebliche Jungfrau des Jahres 2000, nimmt den armen Jüngling des 19. Jahrhunderts zunächst mit in das „Warenhaus des Bezirks“, welches Muster sämtlicher Waren enthält. Das Bestellte wird samt Rechnung durch Rohrpost dem „Centralwarenlager“ gemeldet, von dort in Leetes Wohnung befördert und der Betrag auf der „Nationalcreditkarte“ der Familie Leete angeschrieben. Julian West erfährt im Laufe der Woche, daß es eine Stufenleiter von öffentlichen Arbeitspflichten und Nutzungsrechten giebt, während der Begriff des „Arbeitslohnes“ der kapitalistischen Aera nicht mehr bekannt ist, selbst der Kellner des großartig eingerichteten Speisehauses erfüllt seine Obliegenheiten mit dem Bewußtsein, einer öffentlichen Aufgabe zu dienen. Die Einzelheiten der Einrichtungen, welche im Laufe der Erlebnisse unseres Helden vorgeführt werden, sind im großen Ganzen nicht neu; sie zeigen jedoch insofern guten Geschmack, als nichts technisch geradezu Unmögliches erscheint. Mit besonderer Spannung liest man dagegen die Schilderung der Umwandlung der alten kapitalistischen Gesellschaft in diejenige des Jahres 2000.

Im Anfang des letzten Jahrhunderts – also etwa um 1900 – so hören wir, hatte der Entwicklungsprozeß mit der Konsolidation, d. h. Zusammenlegung des gesamten Nationalvermögens geendet; das Volk richtete sich ein als Handelsgesellschaft, in der alle anderen Gesellschaften aufgingen, es war der einzige Kapitalist, der einzige rechtmäßige Unternehmer, an dessen Gewinn jeder Bürger seinen Theil hatte. Die öffentliche Meinung war voll dafür herangereift und die ganze Masse des Volkes stand hinter ihr. Man erkannte, ohne gegen einzelne Glieder und Gruppen der seitherigen Gesellschaft gehässig zu sein, daß die Aufgabe des Staates nicht mehr die sogenannte Politik, sondern die Volkswirthschaft sei. Das Arbeiterproblem wurde demgemäß nach dem Muster der allgemeinen Wehrpflicht durch die geordnete Arbeitspflicht aller arbeitsfähigen Personen beider Geschlechter gelöst. Bei voller Beibehaltung der Möglichkeit, von einer Stufe zur andern zu steigen, wurde unter Wahrung der freien Berufswahl die vollkommene Gleichstellung der Mitglieder der Gesellschaft durchgeführt.

Die bewegende Kraft, welche bei dem Inslebentreten dieser neuen Arbeits- und Gesellschaftsverfassung wirksam war, das waren keineswegs die sogenannten „Arbeiterparteien“, wie uns der Dr. Leete des Jahres 2000 ausdrücklich versichern kann. „Dazu war ihr Gesichtskreis nicht weit genug.“ Erst als es zum öffentlichen Bewußtsein geworden war, daß eine Neubildung der Gesellschaftsordnung im Interesse aller Klassen sei, der Reichen wie der Armen, der Gebildeten wie der Ungebildeten, der Männer wie der Frauen – erst da war die Umwälzung möglich. „Die ‚Nationalpartei‘ war es, welche die Durchführung erstrebte und vollendete, eine Partei, die ihre Aufgabe darin erblickte, Produktion und Warenvertheilung zu nationalisieren.“0 „Sie faßte die Nation nicht auf als eine Vereinigung zu politischen Zwecken, sondern als eine einzige Familie, einen einzigen, lebensvollen, reichgegliederten Organismus, als einen mächtigen zum Himmel aufragenden Baum, dessen Blätter aus den Wurzeln Kräfte saugen und eben dahin zurückströmen lassen. Die denkbar patriotischste aller Parteien, suchte sie dem Patriotismus eine tiefere Bedeutung zu verleihen und ihn vom bloßen Gefühl zu einer vernunftgemäßen Hingabe zu erhöhen, indem sie das Geburtsland erst wahrhaft zu einem Vaterlande, den Götzen, für den man gegebenenfalls zu sterben hatte, zum Fürsorger und Ernährer machte.“

Das Zukunftsbild, welches Bellamy hier in der Form der Rückschau entwickelt, ist eine Utopie, wie so viele andere, die wir in den früheren Kapiteln kennenlernten; aber sie hat stellenweise etwas bestechend Wahrscheinliches, und wenn auch bei dem Verfasser der Wunsch der Vater des Gedankens gewesen ist, so war es keineswegs jenes Wünschen und Hoffen, das nach den Sternen schlägt, sondern ein solches, welches aus den Ansätzen und Richtungslinien der Gegenwart mit Ernst und Scharfsinn die Fortsetzungen zu ermitteln sucht. Der beispiellose Erfolg, den dieser Roman errungen hat und der wesentlich auch daher rührt, daß auch die oberen Klassen, diejenigen, die an Reichthum und Bildung obenauf stehen, sich daran begeistert haben – dieser Erfolg ist eine Art von innerem Beweis für die Möglichkeit, daß die Sonne des Jahres 2000 wenn auch nicht auf die von Bellamy geschilderten, so doch vielleicht auf andere Zustände herableuchten wird, als diejenigen der Gegenwart sind. Aber freilich, vorläufig – und damit kehren wir zu Julian West zurück – war das erste [883] Erwachen Wests nur ein achttägiger Traum – erst sein zweites Erwachen giebt ihn der Wirklichkeit thatsächlich zurück; und da liest er in der Morgenzeitung des 31. Mai 1887 – wir könnten ebenso gut das Datum des 31. Dezember 1893 hersetzen – von Hungersnoth unter den Arbeitslosen Londons, von Ausständen da und dort etc. Wenn er in der „Gesellschaft“, die ihn erzeugt und großgezogen hat, mit den Grundsätzen Dr. Leetes wirklich hervortritt, dann wird er als taktloser Schwärmer vor die Thür gesetzt, und er steht als einzige fühlende Brust inmitten der Larven des ausgeheuden neunzehnten Jahrhunderts, einsam und verlassen, Thränen überströmen seine Wangen, wenn er des Wunderlandes und der Uebermenschen gedenkt, die er im Traume geschaut.

*      *      *

Nicht so sentimental wie Julian West ist Dr. Karl Strahl, der unternehmende Held, der zur Gründung von „Freiland“ auffordert. Dr. Strahl, d. h. Theodor Hertzka, schließt keinen Kompromiß mit der alten Kultur, er reißt sich vielmehr von ihr vollständig los und fordert muthige Männer und noch muthigere Frauen dazu auf, unter dem Aequator, auf dem fruchtbaren Hochplateau des Keniagebirges, ein neues Gemeinwesen zu gründen, 1200 bis 2200 Meter über dem Meeresspiegel und ebenso hoch über dem Meeresspiegel der europäischen „niederen“ Kultur. Hertzka hat seinem Zukunftsbild „Freiland“, in dem er die Geschichte seiner Kolonie vorweg schildert, noch eine „Reise nach Freiland“ folgen lassen; hier führt er den Leser nach Freiland, als ob es schon bestände; die Vorführung aller Einrichtungen, die hier als vorhanden ausgemalt werden, soll ausgesprochenermaßen in dem Leser „den Entschluß erwecken, das Seinige zu möglichst rascher und großartiger Verwirklichung dieses Gemeinwesens der Freiheit und Gerechtigkeit beizutragen“.

Hertzka ist ein Freund ganz bestimmter Zahlen, mit denen er den wißbegierigen Leser reichlich bewirthet. Schon nach einem Jahre findet man auf der fruchtbaren Keniaplatte 95 000 Menschen, worunter 27000 eigentliche Arbeiter, die in 218 „Assoziationen“ oder Erwerbsgesellschaften vereinigt ihre Thätigkeit entfalten. Die Assoziation, verbunden mit unumschränkter Freizügigkeit und bedingungslosem Zwang öffentlicher Rechnungslegung, ist der Kernpunkt der Hertzkaschen Freilandgemeinschaft. Hertzka wird nicht müde, die Vortheile dieser freien Verbindungen zu wirthschaftlichen Zwecken zu schildern, und er giebt in seiner neuesten Schrift ein Muster für die Satzungen einer derartigen „freiländischen Erwerbsgesellschaft“. „Der Beitritt,“ so lautet § 1, „steht jedermann frei, gleichviel, ob er zugleich Mitglied anderer Gesellschaften ist oder nicht; auch kann jedermann die Gesellschaft jederzeit verlassen. Ueber die Verwendung der Mitglieder entscheidet die Direktion.“ § 2. „Jedes Mitglied hat Anspruch auf einen seiner Arbeitsleistung entsprechenden Antheil am Nettoertrage der Gesellschaft.“ Das Kapital, welches diese freien Vereinigungen nöthig haben, sowie den Boden schießt der Staat d. h. die Gesamtheit ein, in der Weise, daß die Vereinigungen wie die Einzelnen Nutzungs-, Bau-, Transport-, Wohnrechte etc. erhalten. Diese Zuwendungen werden alle nach Mehrheitsbeschlüssen von der allgemeinen Steuer bestritten, die 35 Prozent vom Bruttobuchertrag der Arbeit ausmacht. Zwölf Fachcentralstellen entscheiben die wichtigsten Fragen der Erwerbsgesellschaften; Präsidium, Versorgungswesen, Unterricht, Kunst und Wissenschaft, Statistik, Straßen- und Verkehrswesen, Post und Telegraph, Auswärtiges, Lagerhaus, Centralbank, gemeinnützige Unternehmungen, Gesundheitspflege und Justiz.

Die „Freiländer“ Hertzkas sind also – wie dies auch ausdrücklich ausgesprochen wird – keine Kommunisten, sie gehen nicht von der Ansicht aus, daß alle Menschen schlechthin gleich seien, aber sie halten alle Menschen für gleichberechtigt, und unter dieser Berechtigung ist vor allem zu verstehen „das allen gleichmäßig zu sichernde Recht, zu leben“. Der Grundsatz der sogenannten „bürgerlichen“ Welt, daß sich durch das freie Spiel der wirthschaftlichen Kräfte (auf jener Grundlage) die möglichste Harmonie aller wirthschaftlichen Interessen ganz von selber einstelle, ist eine der wichtigsten Voraussetzungen Hertzkas, eine Voraussetzung, deren Nothwendigkeit er die besondere Streitschrift „Sozialdemokratie und Sozialliberalismus“ – so bezeichnet er seinen Standpunkt – gewidmet hat. Indem so auf der einen Seite Boden und Kapital dem einzelnen Menschen auf Freiland stets zu freier Verfügung stehen, auf der anderen Seite die volle Entfaltung seiner Arbeitskraft durch die mitstrebenden und mitarbeitenden Genossen in jedem Augenblick gefördert wie kontrolliert zu werden vermag, ist „Freiland die endliche Bewahrheitung alles dessen, was die Kulturwelt sich bisher selber vorgelogen hat“.

Es ist von hohem Interesse, den Wortlaut des „Freiländischen Grundgesetzes“ kennenzulernen, welches nur aus folgenden fünf Artikeln besteht:

1. Jeder Bewohner Freilands hat das gleiche unveräußerliche Anrecht auf den gesamten Boden und auf die von der Gesamtheit beigestellten Produktionsmittel.

2. Frauen, Kinder, Greise und Arbeitsunfähige haben Anspruch auf auskömmlichen, der Höhe des allgemeinen Reichthums billig entsprechenden Unterhalt.

3. Niemand kann, sofern er nicht in die Rechtssphäre eines anderen greift, in der Bethätigung seines freien, individuellen Willens gehindert werden.

4. Die öffentlichen Angelegenheiten werden nach den Entschließungen aller mehr als zwanzigjährigen Bewohner Freilands ohne Unterschied des Geschlechts verwaltet, die sämtlich in allen das gemeine Wesen betreffenden Angelegenheiten das gleiche aktive und passive Stimm- und Wahlrecht besitzen.

5. Die beschließende sowohl als die ausübende Gewalt ist nach Geschäftszweigen getheilt, und zwar in der Weise, daß die Gesamtheit der Stimmberechtigten für die hauptsächlichen öffentlichen Geschäftszweige gesonderte Vertreter wählt, die gesondert ihre Beschlüsse fassen und das Gebahren der den fraglichen Geschäftszweigen vorstehenden Verwaltungsorgane überwachen.

Die Anschaulichkeit, mit welcher Hertzka in seiner zweiten Schrift die Vorgänge des wirklichen Lebens schildert, die sich seiner Ansicht nach auf diesem Grundgesetz aufbauen lassen müssen, hat etwas Einschmeichelndes; insbesondere bezeichnet er es als seine ausdrückliche Absicht, durch die Einwände des nach Freiland verschlagenen Professors der „bürgerlich-westeuropäischen“ Nationalökonomie, „Tenax“, absichtlich alle seine bis jetzt ihm bekannten Kritiker in einer Person vorführen und widerlegen zu wollen. Nachdem alles aufs genaueste geschildert ist, vom Stiefelputzen im Gasthof bis zu den vertraulichsten Vergnügungen der neuländischen Familien, von der Rentenversicherung bis zu den Gründungsvorgängen beim Inslebentreten neuer Erwerbsgesellschaften – erklärt Tenax, daß er mit der Vergangenheit nunmehr fertig sei; nach einer öffentlichen Verhandlung, bei der er eine nicht gerade hervorragende wissenschaftliche Rolle gespielt hat, ruft er aus: „Meine ganze Zukunft gehört der Verbreitung jener Ideen, die ich hier in mich aufgenommen!“ Spricht’s und lehrt von Stunde an nur noch „freiländische Nationalökonomie“.

Es ist eine Reihe von Angriffen, witzigen und unwitzigen, gegen das „Ostafrikanaan“ des „Karl Strahl“ und gegen seine glückliche Hauptstadt „Edenthal“ aufgetaucht; mit Unrecht würde man aber die Originalität des Verfassers bestreiten oder seine Begeisterung bezweifeln. Man darf im Gegentheil glauben, daß es ihm Ernst ist, wenn er am Schluß seiner ersten Schrift sagt: „Nicht die wesenlose Schöpfung einer ausschweifenden Phantasie ist dies Buch, sondern das Ergebniß ernsten, nüchternen Nachdenkens. Alles, was ich als thatsächlich geschehen erzähle, es könnte geschehen, wenn sich Menschen fänden, die, erfüllt gleich mir von der Unhaltbarkeit der bestehenden Zustände, sich zu dem Entschluß aufrafften, zu handeln, statt zu klagen; die Hochlande im äquatorialen Afrika entsprechen durchaus dem im Vorstehenden entworfenen Bilde. Wer dies bezweifelt, der kontrolliere meine Erzählung durch die Reiseberichte Speekes, Grants, Livingstones, Bakers, Stanleys, Emin Paschas, Thomsons, Johnsons, Fischers, kurz aller derer, welche jene paradiesischen Gegenden besucht haben. Um ‚Freiland‘, so wie ich es darstelle, zur Thatsache werden zu lassen, bedarf es in jeder Hinsicht bloß einer genügenden Anzahl thatkräftiger Menschen. Werden sich solche finden? Wird diesen Blättern die Kraft innewohnen, mir die Genossen und Helfer zuzuführen, die zur Durchführung des großen Werkes erforderlich sind?“

In der That: der Anfang zur Durchführung des Werkes ist längst gemacht. Dutzende von Lokalgesellschaften in allen Theilen der Erde haben sich im Lauf der letzten vier Jahre gebildet und besitzen in der Zeitschrift „Freiland“, die in Wien erscheint, ein „Organ der Freilandvereine“. Aus den paar tausend Anhängern ist eine internationale Gesellschaft gebildet worden, die seit Frühjahr 1891 durch das „Freiländische Aktionskomitee“ [884] zusammengehalten wird. Schon hat die Gesellschaft an der Mündung des Tana, der so oft in der Schilderung Hertzkas erwähnt ist, eine bedeutende Landschenkung erhalten, ganz erhebliche Summen sind zum Theil von bedeutenderen Geldleuten gezeichnet; am 8. Mai 1893 konnte Hertzka zu Berlin im Architektenhause vor der Berliner Freiland-Ortsgruppe den Zeitpunkt für die erste Exkursion nach dem Hochlande des Keniagebirges ankündigen, und vor einigen Wochen ging durch die öffentlichen Blätter die Mittheilung, daß im Februar nächsten Jahres die erste Freiland- Expedition mit zweihundert Theilnehmern von Hamburg aus in See gehen werde.

Damit sind wir bei der unmittelbaren Gegenwart angelangt. Wird das Unternehmen des Freiländischen Aktionskomitees erfolgreich sein? Und wenn ja, wird es möglich sein, auf der im Vorhergehenden geschilderten Grundlage wirklich diejenigen Gemeinschaften von Menschen heranzubilden, welche dem Geiste des Organisators vorschweben? Sollte wirklich gerade derjenige Erdtheil, der den Namen des „schwarzen“, des „dunklen“ führt, dazu berufen sein, der Alten Welt das Wichtigste zu geben, was überhaupt der Menschheit gegeben werden kann, eine neue und höhere Gesellschaftsordnung?

Es ist sehr schwer, diese Fragen ruhig und sachlich zu beantworten. Warum sollte nicht dem Oesterreicher Hertzka in Afrika möglich sein, was dem Württemberger Rapp einsteus in Amerika gelang? Warum sollte es undenkbar sein, daß ein paar Hunderte oder ein paar Tausende mit zäher Ausdauer und vollem Bewußtsein der civilisatorischen Tragweite ihres Versuches auf das Hochplateau des Kenia wandern, um dort der athemlos harrenden Menschheit das Beispiel eines Gemeinwesens vorzuleben, das die bisherigen an wirthschaftlichen Erfolgen, an irdischem Wohlbehagen und an vernunftgemäßen Einrichtungen übertrifft?

Man wird ja wohl allen diesen Versuchen gegenüber zweifelsüchtig sein können, ja müssen, aber man wird nicht ohne weiteres sagen dürfen, daß es eine unbedingte Utopie ist, welcher die Anhänger der Freilandbewegung sich verschreiben und verschrieben haben. Es kommt alles auf die Eigenschaften der Menschen an, die sich betheiligen. Werden die Freiländer und Freiländerinnen die Ausdauer und die Begeisterung haben, um allen Schwierigkeiten, allen Mühseligkeiten und unerwarteten Gefahren, die sich der Verwirklichung der glückverheißenden Assoziationen entgegenstemmen, in ruhiger Ueberlegenheit die Spitze zu bieten? Wird es möglich sein, die jahrhundertealten Vorurtheile und wirklich verschiedenartigen Eigenschaften der verschiedenen Völker und Rassen zu überwinden? Die Hoffnung jedenfalls ist dafür vorhanden, und wer möchte sich anmaßen, sie zu zerstören?

Es wird gesagt werden können, daß unter den verschiedenen Täuschungen und Wahnvorstellungen, die in so breitem Umfange auch in der modernen Zeit noch ihre Herrschaft ausüben, die Hoffnung zweifelsohne nicht die schlechteste und aussichtsloseste ist, es möchte gelingen, auf der Keniaplatte ein unternehmendes Völklein körperlich und geistig normaler und strebsamer Europäer festzusetzen; nur werden auch im besten Fall die Dinge im Raume bedenklich träger sich gestalten als in der beweglichen Phantasie des Leiters der Freilandbewegung. Auch muß jeder, der mit demselben in die Ferne zieht, sich darüber klar sein, daß er sich einer Unternehmung anschließt, deren Ausgang im höchsten Grade unsicher ist.

Aber wenn nun auch wirklich durch ein Zusammentreffen günstiger Umstände dieser Versuch in kleinerem Maßstab gelänge – wäre damit der Beweis geführt, daß diese neue Gesellschaftsordnung sich allgemein bewähren würde? Diese Frage wird wohl unbedingt mit „Nein“ zu beantworten sein, wenn das Gelingen auch jeden Menschenfreund mit hoher Befriedigung erfüllen müßte.

*      *      *

Wir schließen hier unsere Betrachtungen über die „Weltverbesserer“. Geniale Denker wie Plato, Thomas Morus und Fichte, schwärmerische Sonderlinge wie Fourier, begabte Praktiker wie Owen und Rapp, eifrige Agitatoren wie Marx, phantasievolle Dichter wie Bellamy und unternehmende Köpfe wie Hertzka sind an unserem Geiste vorübergezogen. Und was war oder ist für alle diese Männer der Endpunkt ihres Denkens, Strebens oder Träumens? Eine ideale Verfassung der menschlichen Gesellschaft, ein vollkommenes Dasein! Dem Glauben an die Erreichbarkeit dieses Ideals sind die Gebilde ihres Geistes entsprungen, und das fordert unsere Achtung, auch wo diese Gebilde vor dem prüfenden Verstande nicht Stich halten, wo sie als „Utopien“ sich erweisen. Wohl ist es ein „Ziel, aufs innigste zu wünschen“, daß die Menschheit fortschreite zu immer höheren Entwicklungsstufen. Aber an einem Punkte werden alle Wünsche eine Grenze finden: das Menschengeschlecht ist und bleibt unvollkommen, und es wird seine Unvollkommenheit mit hineinnehmen auch in die denkbar besten Schöpfungen menschlicher Staatskunst. „Es irrt der Mensch, so lang er strebt“ – das ist eine Wahrheit, die uns bescheiden machen muß, auch wenn wir mit dem Dichter des Glaubens sind:

Es ist kein leerer, schmeichelnder Wahn,
Erzeugt im Gehirne des Thoren.
Im Herzen kündet es laut sich an:
Zu was Besserm sind wir geboren;
Und was die innere Stimme spricht,
Das täuscht die hoffende Seele nicht.



  1. Vergl. Nr. 44 dieses Jahrgangs.