Textdaten
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Autor: W. Heimburg
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Titel: Sabinens Freier
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 47–52, S. 789–795, etc.
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1893
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[789]

Sabinens Freier.

Von W. Heimburg.

Diese Sabine ist mein Pathenkind.

Eigentlich hatte ich im Sinn, die Ehre dieser Gevatterschaft abzulehnen; ja, ich war so wüthend über das elegante Papierkärtchen, welches den Lieutenant Viktor von Brenken dazu einlud, daß ich es auf den Tisch warf und sporenklirrend im Zimmer auf und ab schritt, überlegend, ob ich nicht die Czapka aufstülpen und mir einige Tage Urlaub von meinem Kommandeur holen solle, um eine dringende Reise als Grund meiner Ablehnung angeben zu können. Eine solche Zumuthung kann auch nur von einer Frau gestellt werden, die – na – die gar nicht weiß, wie weh sie einem gethan hat! Wahrhaftig, da hatte sie noch etwas an den Rand hingekritzelt, da stand – ich habe das alte Ding mit dem Goldrand noch – da stand:

„Mein lieber Viktor! Es bittet Dich in alter Freundschaft, bei meiner Kleinen Pathe zu sein, Deine Leni.“ 

Na, dann los! Aber, weiß Gott, ich hätte lieber Holz gehackt, als das alles mit angesehen. Erstlich das Gesicht des Taufvaters! Ich bin nicht unparteiisch, und wollte ich hier sein Bildniß malen, so könnte es am Ende doch zu unvortheilhaft ausfallen – aber das ist und bleibt wahr und das kann jetzt noch jeder sehen, der sein Oelbild betrachtet, daß er, der Herr Justizrath Bayer, kein Adonis war, im Gegentheil eine entfernte Aehnlichkeit mit einer Bulldogge hatte. An diesem Tage nun verzog er zwar das verdrießliche breite Gesicht zu einem verbindlichen Lächeln, aber dieses Lächeln machte keinen ganz ungezwungenen Eindruck, denn er hatte eigentlich etwas von einem kräftigen Buben in die Zeitung setzen lassen wollen, und nun war da ein Fräulein, ein so kleines zartes Geschöpfchen, daß die Großmama, bei der ich mich nach dem Ergehen ihrer Tochter und dem ihrer Enkelin pflichtschuldigst erkundigte, mir sagte: „Ach Viktor, das Kind ziehen wir nicht groß! Paß auf, es erlebt die Taufe gar nicht!“

Nun war aber doch diese Taufe da.

Der Pomp, der entfaltet wurde, hatte beinahe etwas Brutales; ich begriff Tante Klara und Cousine Leni nicht, daß sie bei ihrem [790] feinen Geschmack eine derartige Ueberladung duldeten. Freilich, wie ich dann die Leni so blaß, mit gesenktem Köpfchen neben dem Altar sitzen sah, der in dem mit gelber Seide ausgeschlagenen Salon hergestellt worden war, und wie ich dann einen Blick that nach dem, dem sie angehörte, der eine funkelnde Brillantgarnitur im Vorhemd und einen daumennagelgroßen Solitär am Zeigefinger trug und mit seiner Riesenfigur sämtliche Anwesenden überragte, da sagte ich mir: hier gilt nur ein Wille! Diese zarte kleine Frau kann nichts anderes thun als ihr Köpfchen beugen, immer wieder beugen. Selbst meine resolute Tante Klara wagte es trotz ihrer schwiegermütterlichen Stellung nicht, ihm zu widersprechen.

Es war eine sehr stattliche Gesellschaft, die sich um den Tauftisch versammelt hatte; eine große Anzahl von „Freßgevattern“ und acht Pathen, darunter der Landrath, die Frau Kommandeur, Großmama, eine Freundin Lenis, Sophie von Plessen, ich – die andern weiß ich nicht mehr zu nennen. Eine Menge Kerzen brannte an den Wänden und auf dem Glaslüster, trotz der Tageshelle, und die Nachmittagssonne wob um Lenis braunes krauses Haar eine Strahlenkrone, die ihr das Ansehen einer Madonna verlieh. Ich glaube, auch die Taufrede, die der alte Pastor Funk hielt, war schön und rührend, denn meine beiden Nachbarinnen schluchzten in ihre Taschentücher. Ich? Mir war schlecht zu Muthe, ich konnte die Augen nicht von Leni wenden, und als mir endlich die hochbelobte Frau Schmidt das weiße mit blauen Schleifen besteckte Spitzenbündel in die Arme legte und ich in ein Paar stiller, grünlichklarer Kinderaugen blickte, die ausdruckslos und doch wie staunend an den Knöpfen meiner Uniform hingen, kam mir auch so ein eigenthümliches Schlucken in die Kehle, daß ich froh war, als mir die Kleine wieder abgenommen wurde.

Leni hielt, als wir nach beendeter Ceremonie uns glückwünschend nahten, meine Hand ein wenig fester als sonst in der ihrigen, aber sie sah an mir vorüber. Und dann schrie mir der Hausherr den Namen meiner Tischnachbarin in die Ohren und ich führte Fräulein Sophie von Plessen in den Speisesaal.

Wie gesagt, es ging hoch her. Bayer war als Feinschmecker bekannt, und „Johannisberger Schloß“ mit Trüffelpüree kann man ja immerhin genießen, wenn man auch den Gastgeber am liebsten dahin wünscht, wo der Pfeffer wächst. Es wurden viele Reden gehalten. Leni und ich tranken uns ein paarmal zu, und als ihr Wohl ausgebracht wurde, stand ich auf und ging mit dem Schwarm der Gäste zu ihr hinüber. Wir sahen uns auch an beim Berühren der Gläser, und da hatte ich das Unglück, die weiße Seide ihres Kleides mit „Röderer“ zu begießen. Ich entschuldigte mich aber nicht, und sie lächelte nicht verzeihend wie sonst; in ihren Augen hatte ich etwas gesehen wie Thränen, und die galten nicht dem Kleid.

Nach Tisch – der Salon war zum Tanzsaal hergerichtet – fing der übliche Walzer an. Ich wand mich wie ein Aal durch die Menge und eroberte Leni noch mit knapper Noth.

„Du, Cousine,“ fragte ich, „wann tanzten wir zum letzten Mal zusammen?“

Und schon im Wirbel des Tanzes sagte sie: „An dem Tage, bevor ich – – ach Viktor!“

Wir standen still, sie mit erblaßtem Gesicht und fast verzerrtem Lächeln. Und dann begann sie hastig zu plaudern.

„Weißt Du auch, Vetter, warum ich die Sophie Plessen neben Dich setzte? Du mußt ans Heirathen denken, hörst Du? Du bist sechsundzwanzig Jahre, und Deine Mutter wünscht es so sehr.“ Und ehe ich noch antworten konnte, bat sie: „Laß mich noch einmal mit Dir tanzen, Viktor!“

Ich legte den Arm um sie. „Leni, ist Dir das gut? Du hustetest eben.“

„Ach ja,“ sagte sie traurig und ließ den Kopf sinken, „der Arzt hat es mir überhaupt verboten! Aber weißt Du, Viktor, hol’ mir ein Tuch, ich will einmal in die Kinderstube gehen.“

Ich holte ihr das Verlangte, irgend eine Hülle aus der Stube, wo die Damen abgelegt hatten, und dann fragte ich: „Darf ich mitkommen?“

„Ja, komm!“

Das Zimmer lag im oberen Stock und war groß und still; eine Nachtlampe erhellte es nur dämmernd. Auf den Zehen schlichen wir über den Teppich zu dem weißverhangenen Bettchen. Die alte Kinderfrau, die im Winkel in einem Lehnstuhl geschlafen hatte, verschwand, als sie uns erblickte, wohl froh, sich durch einen Schluck Bowle in der Küche stärken zu können. Leni aber hatte sich über die Wiege gebeugt und ihr schönes Gesicht lag fast auf dem winzigen Kopf des Kindes.

„Du armes kleines Ding!“ hörte ich sie flüstern. Dann sank sie auf den Stuhl neben dem Bettchen und zupfte gedankenschwer an den Spitzen der Decke.

„Sie schläft schon,“ sagte ich, mich zum Scherzen zwingend, „sonst würde ich ein Wiegenlied singen, Cousine.“ Und ich zog ein Schemelchen herzu und hockte mich zu ihren Füßen.

Sie faltete plötzlich die Hände im Schoß; ich hielt das Ende einer Schleife von ihrem Kleide zwischen den Fingern und spielte damit. Kein Laut, kein Ton hier oben, nur das leise Athmen des Kindes und das einförmige Ticken der Schwarzwälder Kuckucksuhr an der Wand. Ich konnte kein Auge von ihr verwenden; ich hatte diese Frau so unendlich geliebt, hatte bestimmt geglaubt, daß sie die Meine werden würde, und wenn das nicht, daß sie wenigstens keinem andern gehören dürfe. Aus Sorge, aus wahnsinniger Angst, sie sei zu zart, war ich ihr gegenübergestanden wie einer Heiligen, der irdische Wünsche gar nicht nahen dürfen. War sie doch die Einzige, die der Tante Klara geblieben war von fünf blühenden Töchtern; alle, alle starben sie weit drunten im Süden, wo sie gemeint hatten, ihre kranken Lungen zu kräftigen, zu heilen. Mit Leni blieb die Tante auf den Rath der Aerzte hier, da sie anscheinend gesund war, und doch kam sie uns allen vor wie eine dem Tode Geweihte. Ihre zarte, fast überirdische Schönheit hatte mir Arm und Zunge gelähmt, so daß ich sie nicht an mein Herz zog, um ihr zu sagen. „Ich liebe Dich, Leni – sei mein!“

Monatelang war ich wie im Taumel umhergewandert und umhergeritten, immer mit dem Zweifel kämpfend: darf ich sie begehren? – immer wieder mich überredend, ich dürfe ihren Frieden, ihr sonniges Mädchendasein nicht stören; immer in dem Glauben, Tante Klara werde sagen, wie sie zu ihrem Schwiegersohn gesagt hatte, als ihre zweitjüngste Tochter nach kaum einjähriger Ehe starb: „Hätte sie hier so still weiter gelebt – ich besäße sie noch!“

Nein, ich fand nicht den Muth, die Tante um dieses ihr Letztes zu bitten. Ich wußte auch nicht, ob Leni mich liebe. Bis zu dieser Stunde wußte ich es nicht. Ich war grenzenlos zurückhaltend gewesen, unser Verkehr ein geschwisterlich inniger. Nur einmal auf einem Ball – da glaubte ich etwas in ihren Augen zu lesen, das mich in den Himmel hob und dann tiefer denn je zu Boden drückte. Sie durfte wenig tanzen, aber wir hatten wenigstens zusammen den Kotillon abgesessen oder waren noch dabei, da brachte mir ihre beste Freundin, die Sophie von Plessen, einen Orden. Von besagter Sophie ging die Rede, daß sie mich nicht ungern sähe; im Kreise der Kameraden wurde ich mit ihr des öftern geneckt. Ich selbst hatte nichts bemerkt, mich nahm das Eine so völlig gefangen. Nun, wo ich im Tanz mit der großen stattlichen Blondine dahinflog, die so recht das Bild der Gesundheit war, verfolgte uns ihr Auge mit einem Ausdruck, den ich noch nie darin gesehen hatte, gespannt, ja düster, und so blickte sie uns auch entgegen.

„Was ist Dir, Leni? Bist Du nicht wohl?“ war meine Frage gewesen.

Sie versuchte zu lächeln, aber es gelang ihr nicht. Nach einer Weile sagte sie leise: „Sie ist schön, die Sophie – nicht wahr, Viktor?“

„Ich weiß es nicht, Leni,“ antwortete ich, „möglich, daß sie von vielen für schön gehalten wird – ich habe nicht darüber nachgedacht.“

Da ging so ein strahlendes Lächeln über ihr brünettes Gesichtchen, und mit einem Aufleuchten der glänzenden klaren Augen sagte sie: „Ach Viktor, einmal möchte ich mit Dir tanzen heute abend – einmal, es wird ja nicht schaden!“

Und dann tanzten wir zusammen.

In jener Nacht faßte ich den Entschluß, am anderen Tage mit Tante Klara zu reden, ihr mein gequältes Herz offen darzulegen. Am liebsten wäre ich schon in aller Morgenfrühe hingegangen, aber der Dienst verhinderte mich, und mittags hatten wir Gäste am Tische unseres Kasinos, so daß ich erst gegen Abend dazukam, das Witwenheim Tante Klaras im alten Brenkenhause aufzusuchen. Ich pflegte fast jeden Tag um diese Stunde hinzugehen; es war nicht gebräuchlich, daß mich das alte Lieschen anmeldete. Auch hellte schritt ich die breite Stiege hinauf, die ich [791] unzähligemale schon erklommen hatte in Bangen oder Hoffen, je nachdem, und trat nach kurzem Anklopfen in das große Wohnzimmer.

Die letzte Dämmerung des Februarabends erhellte noch eben nothdürftig die liebe alte Stube, aber doch noch genug, um mir mit einem einzigen Schlage zu zeigen, was mir das Schicksal angethan hatte. Da stand sie, die zarte leichte Gestalt, von dem Arm eines großen Mannes umfaßt; vor ihnen die Mutter, die beider Hände hielt. Wie die Schlußscene eines glücklich endenden Schauspiels war es anzusehen.

Ich weiß nicht mehr, wie ich die Treppe hinunter und in meine Wohnung gekommen bin. Das, das hatte ich nicht erwartet! Mir war es ja nicht unbekannt geblieben, daß der Rechtsanwalt Bayer um Helene herumschmachtete, aber in alle Ewigkeit nicht wär’ in mir der Gedanke aufgetaucht, daß dieser plumpe Geselle die Hand ausstrecken könne nach dem vergötterten Mädchen, Es waren fürchterliche Stunden, die nun folgten. Anfänglich dachte ich daran, mich versetzen zu lassen; dann kam es wie Trotz über mich – ich wollte dennoch bleiben. Und thatsächlich bekam ich es fertig, ihr mit lächelnden Lippen Glück zu wünschen inmitten einer Menge anderer Besucher, die zu gleichem Zwecke erschienen waren. Draußen aber, als ich an der Küchenthür vorüberschritt, da stand „de oll Lieschen“ und hielt mich am Aermel meines Paletots fest.

„Herr Leutnant,“ flüsterte sie, „wat uns Frölen is, de is nich schuld. Uns gnä Fru – – ach Gott, Herr Leutnant, Sei glöwen nich, wat Leni kämpft hat mit ehr lüttes Hart! Ik mein, Herr Leutnant, dit Paar stimmt nich tosamen.“

„So, so, die gnä Fru?“ sagte ich. „Nun, es wird schon gut werden, Lieschen.“ Von dem Augenblick an war meine Verehrung für Tante Klara spurlos verschwunden.

Ach, und nun! Nun wußte ich ja längst, daß sie nicht glücklich war. Nun saß sie da vor mir, und jeder Zug ihres lieben Gesichtes erzählte von inneren Kämpfen; auf den zarten Wangen aber, da brannten zwei Rosen, die nur zu deutlich sprachen – vom Vergehen, vom Scheiden!

Und sie war nicht mein gewesen, Ich hatte nicht den Muth gehabt, sie an meiner Seite sterben zu sehen, nicht den Muth gehabt, sie zu verlieren nach kurzem Glück – ich Thor! Vielleicht starb sie nicht wenn ich sie besaß! Wie kann der Tod etwas nehmen, das man so fest hält, so vergöttert? Unmöglich! Und nun – – Mein einziger Trost war noch, daß sie meine Liebe vielleicht doch nicht erwidert, daß sie nur schwesterlich an mich gedacht hatte.

„Viktor!“ sagte sie leise und riß mich aus diesen Gedanken.

„Leni!“ antwortete ich.

„Hör’, Viktor, Du mußt mir etwas versprechen –“

„Was Du willst, Leni!“

Sie neigte sich etwas herunter, so daß ihr schönes klares Antlitz dicht vor dem meinigen leuchtete. „Viktor, ich weiß, lange lebe ich nicht mehr. Nein, sprich nicht dazwischen, sei ruhig!“ Und ihre kleine Hand preßte sich auf meinen Mund, „Laß es mich doch ein einziges Mal von der Seele herunterreden, was mir keine Ruhe läßt bei Tag und Nacht seit der Stunde, in der die Kleine zum Leben erwacht ist. Sieh, ich weiß bestimmt, ich sterbe bald, und ich würde ja so leicht von hier gehen, wenn mich dies nicht hielte.“ Sie neigte den Kopf ein wenig nach dem Bettchen. „Nun weiß ich aber keinen weiter auf der Welt, Vetter, als Dich, den ich bitten könnte um eine große echte Liebesthat. Du bist immer so gut gegen mich, Viktor, sehr gut –“

Sie schwieg ein Weilchen, dann fragte sie: „Findest Du nicht, daß sie mir ähnlich sieht? Ach, und das ist so schrecklich; sie wird ein ebenso armes herzenseinsames Geschöpf werden wie ihre Mutter. Bayer wird es ihr nie verzeihen, daß sie kein Bube ist, und wenn sie erst eine Stiefmutter hat, dann wird sie ebenso ohne echten wahren Sonnenschein aufwachsen wie ich und wird sich ebenso tief danach sehnen und ebenso todesunglücklich sein wie ich.“

„Aber Leni,“ sagte ich mühsam, „wer, von dem Du Liebe geheischt, würde sie Dir versagt haben?“

Sie preßte heftig meine Hand. „Du!“ sagte sie; es klang wie ein erstickter Schrei. Dann ließ sie meine Rechte fallen und sank kraftlos zurück.

Hatte sie es wirklich gesprochen, dieses „Du“? Oder war es nur ein Seufzer gewesen, der mir geklungen hatte wie jenes Wort – eine thörichte sündhafte Einbildung?

Wir waren beide verstummt, aber mir klopfte das Herz wie wahnsinnig. Ich fühlte, dieses Schweigen durfte nicht länger dauern, dieses Beisammensein hier ebenfalls nicht, wenn ich ihr nicht zu Füßen fallen, ihr alles gestehen sollte, was ich um sie gelitten. Wie im Krampf umklammerte ich den Rand des Bettchens und fühlte, wie mir die kalten Tropfen auf der Stirne perlten.

„Leni,“ sagte ich heiser und richtete mich mühsam auf, und allmählich erst erstarkte meine Stimme, „Leni, wenn’s Dir eine Beruhigung ist, so verspreche ich Dir, ich werde mich als Pathenonkel comme il faut Deinem Fräulein Tochter gegenüber aufspielen. Ich“ – jetzt versuchte ich zu lachen – „ich werde ihr Ballkleider kaufen, Reitpferde aussuchen und womöglich auch einen Mann, vorausgesetzt, daß Dir alle diese Dinge gefallen, denn ans Sterben, Leni – wie kannst Du ans Sterben denken!“

Sie sah mich noch immer starr und traurig an. „Ein gutes Wort nur will ich für sie, Viktor, wenn ihr ’mal das Herz weh thut. Du hast vielleicht dann eine liebe Frau, eine traute Häuslichkeit – laß sie davon ein wenig mitgenießen; es wird nicht viel Gutes für sie aufgehoben sein im Leben, in diesem Hause. Ach, es würde mir soviel leichter werden, das Fortgehen von ihr, wenn – –“

Sie war aufgestanden und beugte sich wieder über die Kleine, „Komm’,“ sagte sie dann, ihre Hand auf meine Schulter legend, „komm’, Viktor – ich weiß es, Du hältst Wort; wenn auch Dein Mund nichts verspricht, Dein Herz hat’s gethan. Komm’, es ist besser, wir gehen. Großes Kind,“ fügte sie dann weich hinzu und strich mir mit den lichten Fingern leicht über die nassen Augen. „Aber denke Dir, ich freue mich in dem Gedanken, daß Du mir eine Thräne nachweinen wirst, wenn ich tot bin,“

„Leni!“ flüsterte ich fassungslos und griff nach ihrer Hand. Aber sie wandte sich rasch ab und ging der Thür zu, und ich folgte ihr, zitternd wie ein Fieberkranker.

Ihr Mann kam ihr mit weinrothem Gesicht entgegen und zog ihren Arm in den seinigen. Ich konnte es nicht mit ansehen, ich konnte diese ganze übermüthige Tanzgesellschaft nicht mehr ertragen, suchte im Flur Mantel und Säbel und ging. Der graue Morgen fand mich noch in der Ulanka vor dem Schreibtisch sitzend, ich hatte mein Versetzungsgesuch geschrieben, zu gleicher Zeit mit der Bitte um Urlaub. Mein Schwager war damals Adjutant an maßgebender Stelle, und ich hatte mich privatim an meine Schwester gewandt, ihr mein ganzes Seelenleid geschildert und sie gebeten, so diskret als möglich ihren Mann zu beeinflussen, um das Ungewöhnliche für mich zu erlangen.

Am Tage nach der Taufe reiste ich ab und kehrte erst, als die Versetzung genehmigt war, zurück, um mich abzumelden. Ich war zu einem Regiment in Ostpreußen beordert.

Wie bei allen anderen Abschiedsbesuchen kam ich auch zu Bayers in Czapka und Ulanka. Als mir das Stubenmädchen erzählte, der Herr sei auf einer Geschäftsreise, glaubte ich einen Augenblick lang, es sei besser, nur eine Karte abzugeben, dann aber fand ich, daß ich ein Abschiedswort von ihr wohl noch mit hinübernehmen dürfe in die öde Zukunft, ja daß ich schließlich das Recht hätte, zum Dank für mein Opfer ihr nochmals die liebe Hand zu drücken – und so stand ich ein paar Minuten später vor ihr. Sie saß in ihrem kleinen Boudoir am Ofen in einem Sessel, das Kind auf dem Schoße.

Sie sah mich groß ab, als habe sie mich erwartet. „Du willst mir Lebewohl sagen, Viktor?“

„Jawohl, Cousinchen!“ versuchte ich zu scherzen, „Dir und dem Fräulein Sabine da. Wenn ich sie wiedersehe, wird sie hoffentlich ‚Onkel‘ sagen können.“

„O, ich denke ja wohl,“ flüsterte Leni.

Ich begann nun geflissentlich von allem möglichen zu erzählen, richtete die Grüße aus, die mir Mutter und Schwester für sie aufgetragen hatten, sprach von meiner neuen Garnison, kurz, ich schwatzte das Blaue vom Himmel herunter, nur um das entsetzliche laute Klopfen meines Herzens zu betäuben.

„Nun, dann leb’ wohl, Viktor,“ sagte sie, mich plötzlich unterbrechend, als wollte sie die Qual des Abschieds kürzen. „Du weißt, wer glücklich ist, wenn es Dir gut geht. Unmittelbar werde ich nichts von Dir hören, aber Deine Mutter und die meine, die schreiben sich ja, ich werde also immer wissen, wie Du lebst, ob Du glücklich bist – so lange ich noch – –“

Sie brach ab, Ich hatte ihre Hand ergriffen und drückte sie an meine Lippen.

„Leb’ wohl, Viktor! Ich weiß, weshalb Du gehst – ich [794] danke Dir!“ Ich wandte mich rasch um und schritt der Thüre zu, da rief sie noch einmal meinen Namen: „Viktor!“

Sie hatte das Kind auf den Sessel gelegt von dem sie sich erhoben. „Vergiß Dein Versprechen nicht!“ bat sie mit versagender Stimme und streckte mir die gefalteten Hände entgegen.

„Nie, Leni, nie!“

„So leb’ wohl, Viktor!“

Ich konnte nicht antworten. Ich sehe sie noch heute vor mir stehen. Sie trug ein helles faltiges Hauskleid, ihre leichte Gestalt hatte etwas Ueberirdisches, wie sie sich abhob von dem dunklen Hintergrund.

Und dieses eine Mal suchten sich unsere Augen so, als ob nichts dazwischen stände, was diesen Blick zur Sünde machte. Wer solchen Blick kennt, der weiß, daß er weher thut als alle anderen Schmerzen der Welt zusammen, der weiß, daß man ihn brennen fühlt, so lange man lebt, und das Gefühl, sich vorwurfsfrei benommen zu haben, ach, das ist erst dann ein Trost, wenn die ersten wahnsinnigen Schmerzen sich abgestumpft haben. In jener Minute hab’ ich es nicht als Erleichterung empfunden! Ich stürzte fort, elend wie noch nie. Ich wußte, ich sah sie nicht wieder.

Fünf Jahre später, in dem großen herrlichen Jahre 1870 war es, da erhielt ich ihre Todesnachricht. Fünf lange Jahre hatte sie gebraucht zum Sterben! Tante Klara schrieb es mir; der Brief war fast unleserlich von den Thränen, die auf das Papier gefallen waren. Drinnen lag ein kleines Briefchen.

Ich weiß noch genau, wo es war, als diese Botschaft kam; man vergißt bei großen Schmerzen und großem Glück auch nicht die kleinsten Nebendinge. In dem Salon eines Schlosses bei Paris war es, um Weihnachten. Man hatte die Möbel, die ihre ursprüngliche hellblaue Farbe kaum mehr erkennen ließen, bunt durcheinander geschoben; die Kameraden saßen bei einer Riesenbowle rauchend und spielend um den Tisch in der Mitte. Einige seidene Fenstervorhänge waren theilweise heruntergerissen; man hatte den schweren Stoff vielleicht gebraucht zum Schutz gegen die Kälte, oder er war verbrannt von den Franctireursbanden, die vor uns hier gehaust hatten. Das zarte Muster des Riesenteppichs ließ sich kaum noch unterscheiden. Am verstimmten Flügel sang ein junger Kamerad ein schwermüthiges Lied; ein Stalleimer, gefüllt mit Schnee und Eis, stand mitten in einer trüben Lache auf dem Fußboden, und die Ordonnanz hockte davor, die Champagnerflaschen drehend. Dazu der leichte Rauch von Cigaretten und Pfeifen und das Lachen und Sprechen der Herren die bemüht waren, eine seltene Konifere aus dem Park als Weihnachtsbaum aufzuputzen oder gleich mir die soeben eingegangenen Feldpostbriefe zu lesen oder gar Kisten zu öffnen.

Ich hatte selten oder vielmehr nie von Tante Klara einen Brief bekommen, so daß ich ihre Handschrift nicht kannte. Der Poststempel war sehr verwischt. Ich wandte den Brief erst eine Zeitlang nach rechts und links, bemüht, den Schreiber zu errathen; dann – es war in der Dämmerung – setzte ich mich an einen der beiden großen Kamine, in denen mächtige Holzscheite flammten, um die Zeilen zu lesen, und da entzifferte ich mühsam bei dem flackernden Schein die Worte:

„Unsere Leni ist gestern nachmittag sanft entschlafen! Mein lieber Viktor, ich bin ganz gebrochen! Sie war nicht lange zu Bett, aber seit der Geburt der kleinen Hella kränkelte sie beständig. Dann, vor ungefähr acht Tagen, war sie nicht mehr imstande, sich aufrecht zu halten. Sie starb bei völliger Klarheit über ihren Zustand und gab mir noch einen Tag vor ihrem Tode beiliegendes Briefchen mit der Bitte, es Dir zu senden, sobald sie entschlafen sei. Ich erfülle den Willen meines theuren Kindes. – Ach Viktor, ich bin namenlos unglücklich! Die beiden armen Mädchen mutterlos und – unter Verhältnissen, die entsetzlich schwer sind; ich kann es nicht hierher schreiben. Leni wäre ihnen so nöthig gewesen, so sehr!

Verzeihe, wenn ich so durcheinander schreibe! Bayer steht als Landwehroffizier in X; er hat das Schwere nicht mit angesehen. Ich wollte ihn rufen lassen, aber Leni wünschte es durchaus nicht.

Viktor, welch ein furchtbares Jahr! Ich bin so sterbensmüde, und doch, ich darf noch nicht ruhen, denn wer soll die Kinder erziehen? Denke unser in alter Treue und kehre gesund heim! Gott schütze Dich! Deine trostlose alte Tante 
     Klara von Brenken.“ 

Ich stand auf, trat in eine der tiefen Fensternischen und legte den Kopf an die Scheiben. Ausgelitten! Erlöst! Das waren die ersten Empfindungen, sie gaben mir ein Gefühl von Erleichterung. Ich hatte nie an sie denken können ohne quälende Pein. – Dir ist wohl, Leni, schlafe sanft! Nun kann keine Roheit Dich mehr verletzen, keine aufschreiende Sehnsucht Dich ruhelos umhertreiben, Du fühlst nichts mehr, Du schläfst!

Und ich konnte ruhig das kleine Briefchen öffnen, um es in dem grauen Schneelicht von draußen und dem herüberdämmernden Lampenschein zu lesen. Sie schrieb:

„Ich habe allezeit gebetet für Dich; Gott gebe Dir gesunde Heimkehr, mein lieber Viktor, und viele glückliche Jahre! Es

grüßt Dich noch einmal mit Dank für alles, was Du thun wirst,
Deine Leni.“ 

Und darunter stand von ungeschickter Kinderhand, die offenbar von der Mutter geführt worden war:

„Lieber Onkel, Mütterchen sagt, ich soll Dich immer sehr

lieb haben. Vergiß auch nicht Deine
kleine Bine.“ 

Da erst liefen mir die Thränen aus den Augen.

Hinter mir jubelten die Kameraden, sie hatten Weihnachtsgeschenke von daheim ausgepackt und freuten sich darüber, dazwischen kamen Nachrichten von einem Gefecht, das heute stattgefunden haben sollte, Vermuthungen über einen zu erwartenden Ausfall der Pariser nach unserer Seite und so weiter. Das Leben des großen Krieges, dieses einzigen Siegeszuges, der wie ein Märchentraum uns emportrug zu stolzer ungeahnter Höhe! Ich starrte hinaus in den öden verlassenen Park – er war so öde wie meine Zukunft. Wie mancher brave Junge lag da in Frankreichs Erde, der jäh einem großen Glück entrissen wurde! Mich hatte das Schicksal verschont, um mich weinte keine schluchzende Braut, keine verzweifelte Gattin, keine trostlose Mutter – sie hatte ich noch vor dem Ausmarsch begraben – wie ich keinen mehr besaß, der sich so recht freuen würde über meine Heimkehr.

„Vergiß nicht Deine kleine Bine!“ klang es da in mein Ohr.

Dieses Kind! Ach Gott, es würde mich ja nicht vermissen, es kannte mich ja gar nicht und hatte einen Vater, der – – Nein, nein! Ich will versuchen, es zu lieben, will versuchen, ihm eine Stütze zu sein, sollte es dereinst keine bessere finden und – – sollte ich heimkehren. Man war doch schließlich mitten im Leben und Sterben! Leni, arme kleine Leni, schlaf’ ruhig – ich versprach’s Dir ja! Und im Geiste sah ich ihr Grab. Gestern mochten sie sie eingesenkt haben in unsere Familiengruft zu Wardelingen.

Wir waren beide Wardelinger Kinder, sie die Tochter von meines Vaters verstorbenem Bruder. Die Brenkens stammten aus Wardelingen; das uralte Haus an der Marienkirche mit seinen vorgeschobenen Stockwerken, über dessen rundbogiger Pforte unser Wappen in halbverwittertem Sandstein prangte, das hatten unsere Voreltern bewohnt zu der Zeit, als noch die Quitzows das Land beunruhigten; damals war ein Brenken Lehensherr der Burg Wardelingen gewesen. Mein Großvater erwarb das alte Haus, kurz bevor es wegen Baufälligkeit abgebrochen werden sollte, und ließ es wiederherstellen und den verwilderten Garten in stand setzen. Bewohnt wurde es nicht von uns, bis mein Onkel starb und mein Vater es als Zuflucht der in dürftigen Verhältnissen zurückgebliebenen Tante Klara anbot, die dieses Asyl in dem kleinen märkischen Neste für sich und ihre Kinder dankbar annahm. Und ich, angelockt durch alte Familienerinnerungen, hatte nicht geruht bis ich in das Kavallerieregiment, das dort lag, eintreten durfte. Wenn ich geahnt hätte, was meiner dort wartete – und doch, ich hätte die Erinnerung daran um alles nicht missen mögen, um alles nicht!

Und nun schlief sie dort neben ihren Schwestern und den alten längst vergessenen Familienmitgliedern. Hoffentlich hatte man sie dort bestattet und nicht etwa in die Bayersche Familiengruft geschaftt! Im Tode wenigstens sollte sie heimkehren zu uns.

„Herr Premier! – Brenken!“ riefen ein paar Stimmen hinter mir, „kommen Sie doch, der Punsch wird kalt!“

„Ich danke, meine Herren! Ich habe Briefe zu schreiben,“ antwortete ich, suchte in dem Gartensaal, der mir als Quartier angewiesen war, meine Schreibmappe aus dem Koffer hervor und kritzelte zwei Briefe hin bei einem Stümpfchen Licht – den einen an ein bekanntes Blumengeschäft in Berlin mit dem Auftrag, das Herrlichste, was es eben an Blumen gebe, nach Wardelingen zu schicke, den andern an eine Spielwarenhandlung in Nürnberg mit der Weisung, die schönste Puppe, die am Ort zu haben sei, an Fräulein Sabine Bayer in Wardelingen zu senden. Auf eine Visitenkarte [795] schrieb ich dazu: „Von Deinem Onkel Viktor, der Dich immer lieb haben wird.“ Das war vorläufig alles, was ich für sie hatte, außer dem, was ich nicht in eine Kiste packen konnte, um es hinzuschicken – die tiefe innere Trauer, das innige Mitgefühl.

An Tante Klara zu schreiben wollte mir aber nicht gelingen. Ich zerriß vier bis fünf Briefe, die einen, weil sie doch allzu kalt und formell ausgefallen waren – zu einem wärmeren Ausdruck vermochte ich mich nicht zu zwingen – die anderen, weil sich bittere Vorwürfe mir in die Feder gedrängt hatten, die ich der Frau am frischen Grabe ihres letzten Kindes nicht machen wollte, obgleich ich dazu berechtigt gewesen wäre. Ich schwieg also, ich schwieg noch lange Zeit hinterher. Das Einzige, womit ich mein Versprechen an Leni erfüllte, waren die alljährlich sich wiederholenden Weihnachts- und Geburtstagsgaben für ihr Kind. So hatte sie es nicht gemeint, ich wußte es, aber ich konnte mich dennoch nicht entschließen, nach Wardelingen zu reisen. Bei dem bloßen Gedanken, die Stätte wiederzusehen, überkam mich eine Seelenstimmung, die mich elend und nervös machte und mich schlechterdings zum Aufgeben meines Vorsatzes zwang, den ich alle Jahre um Neujahr herum faßte, wenn ich ein Briefchen erhielt, das die Ueberschrift: „Lieber Onkel Viktor“ und die Unterschrift: „Deine kleine Bine“ aufwies. Ich fühlte mich dann so ungemüthlich, als sei mir eine alte längst fällige Rechnung zum so und sovielten Male vorgezeigt worden und ich stände da ohne einen Pfennig in der Tasche, weil ich all mein Geld schon ausgegeben hatte.

Mein Gott, was konnte ich diesem Kinde nutzen? Gar nichts! Da ein lediger Ulanenrittmeister, den auf der Welt höchstens noch der Sport interessiert und seine Schwadron! Und überdies, Cousine Leni hatte mir ja erst für später das Kind anempfohlen, für die Zeit, in der es bei ernsten Lebenslagen meinen Schutz gebrauchen könnte. Vorläufig war diese Bine noch ein Kind, und Kinder vermissen nichts; und das, was sie vielleicht vermißte, die Liebe der Mutter, die konnte ich ihr nicht geben.

So lernte ich denn Lenis Vermächtniß nicht persönlich kennen und lebte in der kleinen ostpreußischen Garnison mein Leben weiter, so gut es eben gehen wollte, erwarb mir den Ruf eines vollendeten Ehefeindes und ward allmählich von den Müttern erwachsener Töchter aus der Liste der Heirathskandidaten gestrichen. Thatsächlich hatte ich die wunderliche Marotte, jedes Mädchen mit Leni zu vergleichen, und damit war ihr Urtheil gefällt und meine Ruhe gewahrt, denn keine einzige hielt den Vergleich aus.

Inzwischen war ich Major geworden; das Ereigniß traf so um Weihnachten herum ein. Auf dem Sylvesterball war ich mit den silbernen Fransen erschienen und mußte nun plötzlich eine bedeutend ältere Dame zu Tische führen als bisher. Nach dem Essen spielte ich, anstatt zwanglos da und dort zu plaudern, zum ersten Male Whist mit dem Kommandeur, dem Landrath und einer der allerältesten Damen der Gesellschaft, und beim Nachhausekommen sagte ich mir: man habe es mir doch recht deutlich fühlbar gemacht, daß ich jetzt ins Register der Ehrwürdigen eingetragen sei, obgleich ich schließlich doch von gestern auf heute keineswegs ein alter Herr geworden war.

Aber ich erhielt am selben Abend gleich noch zwei Beweise dafür, daß die Zeit nicht still steht. Da lagen ein paar Briefe auf meinem Schreibtisch, der eine von meiner Schwester, der andere – der mußte von der kleinen Bine sein, denn der Poststempel war „Wardelingen“, die Handschrift aber schien damenhaft niedlich, so daß ich doch wieder irre ward.

Meine Schwester schrieb mir, ein Wardelinger Kaufmann habe sich an sie gewendet mit der Frage, ob wir ihm unser altes Haus verkaufen wollten. „Wie denkst Du darüber, Viktor? Wenn Du so meinst wie ich, so lehnen wir ab, trotz des namhaften Preises. Wir haben es doch beide nicht nöthig, das alte Haus zu verschachern, in dem unsere Voreltern gesessen haben und Leni ihre Mädchenzeit verlebte. Ich denke auch immer, es sei einmal so ein stiller Winkel, in den man sich retten kann, wenn man von der übrigen Welt nichts mehr wissen mag. Ich habe manchmal das Leben im Strudel recht satt, Viktor, aber meines Mannes wegen – – kurz und gut, Bruder, wenn Du also denkst wie ich, behalten wir das alte Gerümpel, wär’s auch weiter aus keinem Grunde, als der köstlichen Gravensteiner wegen, die im Garten wachsen.“

„Na, das versteht sich!“ murmelte ich. „Uebrigens werde ich dem Manne antworten.“

Dann sah ich noch eine Nachschrift: „Tante Klara soll noch immer die Alte sein, Du weißt ja. Die zweite von Lenis Mädchen, die Hella, wird von ihrem Vater wie ein Junge erzogen. Tante Klara schrieb mir ganz trostlos darüber; Hella habe einen Pony und mehrere Hunde und stecke voll der muthwilligsten Streiche. Dieser Herr Bayer ist doch ein recht merkwürdiger Mensch – die Aelteste ist für ihn kaum vorhanden. Tante Klara sagt übriges gar nichts über Dein Pathchen.“

Nun, dieses Pathchen meldete sich ja wohl eben schriftlich bei mir? Ich öffnete auch diesen Brief.

Wirklich – hatte sie denn das selbst geschrieben? Das war ja eine Schrift wie gestochen und der ihrer Mutter so ähnlich; sogar dieselben kleinen unmotivierten Häkchen an den großen Buchstaben, dieselben U-Bogen! Mir fiel das jetzt zum ersten Male auf.

„Mein lieber Onkel Viktor,“ stand da, „recht herzlich danke ich für Deine schönen Weihnachtsgeschenke, die mir wieder eine große Freude machten; ersehe ich doch daraus, daß Du immer wieder an mich denkst, obgleich Du mich doch gar nicht kennst und mich nur lieb hast, weil Dich die gute arme Mama darum bat.

Lieber Onkel Viktor, ich würde Dir so gern auch etwas schenken, aber ich weiß nicht, was. Denn ich kenne Deine Wünsche nicht. Wenn ich Dir auch einmal eine Cigarrentasche sticken dürfte! Rauchst Du? Ich habe immer nicht den Muth gehabt, Dir etwas anzubieten, aber jetzt arbeite ich schon ganz sauber.

Und nun habe ich noch eine sehr große Bitte, lieber Onkel – schenke mir doch keine Puppe mehr; ich werde ja an Ostern konfirmiert und Hella spielt gar nicht mit Puppen und lacht mich aus, weil ich alle diese schönen Wickelkinder und Balldamen so lieb habe. Sind sie doch von Dir geschickt! Ich glaube, nun habe ich zehn Stück. – Es wäre doch sehr hübsch, wenn Du einmal kommen könntest. Die Großmama sagt, Du hättest uns gar nicht mehr lieb, aber das glaube ich nicht. Hella ist auch so neugierig, Dich zu sehen.

Vielen Dank, lieber Onkel!
Deine treue Bine.“ 

Ich lachte hell auf. Herr Gott, das hatte ich nicht bedacht, daß so ein „Gör“ wächst! Diese zehnte Puppe war mal wieder die richtige Gedankenlosigkeit von mir gewesen; als ob ein Mädel ewig mit Puppen spielte! Nein, es ist doch – – Plötzlich war ich Major und wunderte mich, und plötzlich hatte ich ein nahezu erwachsenes Pathenkind und wunderte mich nochmals!

Arme kleine Bine! Wie herzig dieser Brief war!

Ich kaufte am andern Tag eine niedliche Brosche und schickte sie ihr als Ersatz für die Puppe, die sie doch verschenken solle. Aber da antwortete sie: nein, diese letzte Puppe wolle sie gerade recht sorgsam aufheben.

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aus: Die Gartenlaube 1893, Heft 48, S. 805–808

[805] Drei Jahre vergingen, da erhielt ich Kunde vom Tode des Justizraths Bayer; er sei ganz plötzlich an einem Herzschlag gestorben. Diesmal schrieb ich an Tante Klara einige theilnehmende Worte und an mein Pathchen auch. Ein paar Wochen blieb ich ohne Nachricht, da kam ein Brief der Tante, der mich erschreckte. Sie bat mich, ihr und den beiden Kindern doch ein Obdach zu gewähren in unserem alten Hause. Bayer habe seine Tochter in den denkbar ungünstigsten Verhältnissen zurückgelassen, eigentlich seien die Kinder auf ihr, der Großmutter, geringes Witwengehalt angewiesen, ich wisse ja: dreihundert Thaler, und – wie lange lebe sie noch? Und da ich doch gewiß vorläufig keine andere Verwendung für die leerstehenden Zimmer hätte, so bitte sie mich, wieder dort einziehen zu dürfen.

Ich war gerade im Begriff, meine Koffer zu packen, um nach beendetem Manöver eine Urlaubsreise anzutreten; ich wollte mit einem alten Kameraden, dem Rittmeister von Leeden, in Berlin zusammentreffen, um von dort aus mit dem Römerzug direkt über die Alpen nach Italien zu reisen und neapolitanische Sonne zu genießen. – Wie auf einmal alles wieder lebendig vor mir steht, das alte Haus, der große Flur darin und die dunkle Treppe, über deren Geländer sich ein liebes blasses Mädchenantlitz biegt. Ich sehe diese Augen so deutlich vor mir, höre ebenso deutlich die Stimme: „Viktor, kommst Du? Ach, wie lieb von Dir!“

„Böhme!“ rief ich in das Nebenzimmer, „eine Depesche besorgen, sofort! Geh’ gleich auf den Bahnhof!“

„Befehl, Herr Major!“

„Packe vorläufig nur den Handkoffer – ich reise, anstatt morgen früh, heute abend mit dem Zehnuhrzuge. Nur den Handkoffer vorläufig!“

Böhme, mein Bursche aus dem Feldzuge, jetzt Diener bei mir, verschwand schleunigst mit dem kleinen Blatt, das meinen Reisekameraden lakonisch ersuchte, nur immer voraus zu fahren; ich hätte vor der Hand noch eine Familienangelegenheit zu ordnen, hoffte aber, in etwa fünf bis sechs Tagen nachkommen zu können. Meine Adresse sei vorläufig: Wardelingen in der Mark.

Um zehn Uhr stieg ich in ein Coupé erster Klasse des Schnellzuges, Böhme nebst dem Koffer verschwand in der dritten Klasse. Und in schwindelnder Eile ging’s der Heimath zu. Eine lange Fahrt; aber diesmal, diesmal konnte ich die unbezahlte Rechnung nicht beiseite schieben, und diesmal wurde es mir trotz der aufgegebenen Reise nicht schwer, denn der Mann, den zu sehen ich vermeiden wollte, war tot und ich konnte endlich mein Wort einlösen – Lenis Kind brauchte mich.

Am andern Nachmittag schon fuhr der Zug durch die einförmige Landschaft der Mark. O Du liebe kiefernduftige sandige Heimath, wie reizvoll bist du mir stets erschienen! Welch’ süße Schwermuth liegt über diesen einsamen Dörfern, von [806] Eichen umstanden, über den winzigen Städtchen, über die der plumpe Kirchthurm aufragt. Wie gern bin ich diese birkenumsäumten Feldwege geritten ober über die Heide dahin gesprengt, am Saume des Kiefernwaldes entlang, mit sehnsüchtig traurigen Gedanken an ein Paar klarer Mädchenaugen, die mein Hoffen waren und mein Schmerz geblieben sind.

Und da war ja schon der Stadtforst von Wardelingen mit dem Jägerhause, in dessen Gaststube wir bei Waldpartien zu tanzen pflegten; und hinter den Bäumen kam der alte schiefe Thurm der Marienkirche zum Vorschein, in dessen Schutz das Brenkenhaus stand. Wie sonst funkelte die sinkende Sonne in den Fenstern des hohen Rathhauses und wie sonst standen ein paar Menschen auf dem Bahnsteig, ein paar Bauern mit ihren Weibern und ein paar Offiziere, die einem Kameraden das Geleit gaben oder einmal nach Hannover hinüberrutschen wollten; und wie sonst der Inspektor in rother Dienstmütze – alles unverändert!

Ich kam unerwartet und beschloß, zuerst in den Gasthof zu fahren; dann besann ich mich anders. Die Wardelinger klappernden Gasthofswagen kannte ich noch von früher her zu gut, um sie nicht gern zu vermeiden; sie sahen thatsächlich noch ebenso vorsintfluthlich aus, diese alten Kasten, wie damals. Ich setzte also Böhme in den Wagen des „Deutschen Hauses“ und schlenderte an diesem dämmernden warmen Oktobernachmittag zu Fuß weiter. Es war zum Lachen – alles noch dasselbe, höchstens daß die Bahnhofanlagen, das heißt, die Sträucher und Hecken etwas gewachsen waren, sonst alles genau wie früher. Dort der kleine Teich, an dem der Weg geländerlos sich hinzieht, noch immer im Besitz seines üppigen Pflanzenwuchses unter der bräunlichklaren Fluth. Dort das „Hamburger Thor“, das aus zwei roh aufgemauerten Pfeilern besteht, zwischen denen an einer Kette die Oellaterne hängt; und da, im Schatten der halb entlaubten Bäume, die Ausspannung „Zu den sieben Linden“. Die ausgebissenen Pferdekrippen stehen noch immer vor dem Hause, und vor den torfbeladenen Leiterwagen die kräftigen Pferde, die habe ich ja auch damals schon gesehen, vielleicht auch den Bauer, der eben sein Braunbier trinkt. Und doch sind achtzehn Jahre vergangen! Ein mächtiger, ein gewaltiger Sturm ist über unser Vaterland hingebraust. Allenthalben hat es sich gereckt und gedehnt, ist es emporgeblüht, nur du, mein Wardelingen, bist noch genau so bescheiden, so schlicht, so einfältig geblieben. Wie es Gesichter giebt, die das Alter nicht zu ändern vermag, so auch du!

Mich rührte es, so die Straße entlang zu gehen und ich weiß nicht, wie es kam, daß ich den Weg nach dem alten Familienhause einschlug, obgleich ich nur auf die Personen acht hatte. Es kannte mich wohl keiner mehr, nicht einmal die alte Pastorin, die genau so wie vordem am Fenster saß, die Kaffeetasse neben sich. Ob sie noch immer so klatschte? Ich grüßte sie und sie stieß sich beinah die Nase an der Fensterscheibe ein, aber sie erkannte in dem großen Mann, der Civilkleider trug, wohl nicht mehr den Springinsfeld, über den sie sich baß zu ärgern pflegte, wenn er klappernden Säbels unter ihren Parterrefenstern dahinschritt, just wenn sie nach Tische auf ihrem Sofa ein kleines Nickerchen machen wollte.

Nein, nein, ich war allen fremd in dem Lande meiner Jugend, ich war alt geworden! Und dennoch, auf einmal höre ich hinter mir meinen Namen rufen: „Herr Leutnant, wollt’ sagen Herr Rittmeister – Herr Oberst – entschuldigen Sei doch man – nein, wie ich mich freue – Sei sind’s doch?“ Und athemlos kam ein altes Weiblein hinter mir her, das mir eben erst begegnet war. Und das war „oll Dört“; die alte Mutter Buschen, die als Kastellanin im Erdgeschoß unseres Hauses ein Stübchen hatte.

„Un nich die Spur hebben Sei sich verännert!“ schreit sie, „un noch eben so sehen Sei ut, blot en beten vülliger.“ Und sie steigert sich nach und nach in ihren Lobeserhebungen und meint, ich sei setzt „veel staatscher“, und dabei geht sie neben mir und redet so laut, daß alle Leute uns nachstarren.

Auf einmal wurde sie stille, ich hatte nach Tante Klara gefragt.

„Ja, Du leeve Gott, Herr Leutnant – wull seggen, Herr General – oder wat sünd Sei denn eigentlich? Da is man slecht von to vertellen, de oll gnä Fru werd dat wol selbsten beter seggen. Sehn Sei,“ fuhr sie fort, „wat de Herr Justizrath was, de hat ja allens, sin Geld und allens verloren. De Lüd seggen ja, hei hat grausam spekuleert. Aber ik weit nich, Herr General, oder wat sünd Sei denn eigentlich?“

„Major, Frau Busch, Major!“

„Herr Major, von mir wissen Sei nichts, nich wohr? Ik will de gnä Fru nich weih dauhn, un wenn se nu wedder in uns Hus intreckt – – de Lüd seggen ja, sei will wedder – in wi sollen da tosammen wohnen, denn möt dat Freeden sin – ik hef nicks seggt!“

„Na, liebe Frau Busch, morgen komme ich und sehe mir das Haus an. Guten Abend!“

„O Herr, es ist allens propper. Sei können stantepeh mitgahn,“ rief sie. „Und bi Bayers, da is hüt Auktschon wesen, da iß doch man ungemüthlich.“

„Dank’ schön! Morgen komm’ ich, Mutter Buschen. Gute Nacht!“

Ich schritt meinen Weg eilig weiter und bog nach kurzer Zeit in die Gasse ein, in der das stattliche Bayersche Haus lag. Richtig, da waren ja noch die Spuren der Versteigerung! Vor der Thür stand allerhand Hausgeräth, und Leute waren beschäftigt, dasselbe fortzuschaffen oder einzupacken. Das Hofthor stand angelweit offen, und eben zogen zwei Männer einen eleganten Landauer heraus, Ich trat auf die Hausdiele und spähte nach einem dienstbaren Geist, der mich bei Tante Klara anmelden sollte. Aber da war niemand als ein Mann mit Lederschurzfell, der eine große Anzahl Weinflaschen auf einen Handwagen lud.

„Wissen Sie nicht,“ fragte ich, „wo das Stubenmädchen oder die Köchin zu finden ist?“

„Die finden Sie nicht, Herr, die sind seit gestern abgelohnt; die Herrschaft hält nun keine mehr. Wenn Sie aber die alte gnädige Frau sprechen wollen, so – ich glaube, sie ist vor einer Stunde die Treppe da hinaufgegangen.“

Ich stieg bangen Herzens die Stufen empor, aber oben blieb ich stehen und beobachtete eine Scene, die sich auf dem Vorplatz abspielte und wahrhaft originell war, In der leichten Dämmerung stand die schlanke Gestalt eines jungen Mädchens, fast noch eines Kindes, in knappem tiefschwarzen Trauerkleide. Sie hatte mir den Rücken zugewendet und beobachtete zwei Dachshunde die beschäftigt waren, ihr Mahl mit ziemlichem Heißhunger und in nicht ganz vollendeter Uebereinstimmung einzunehmen, denn gelegentlich bissen sie nach einander und knurrten sich an.

„Donnerwetter!“ rief plötzlich eine jugendfrische Stimme, „Du kriegst die großartigsten Keile, wenn Du Deinem Bruder das Beste wegfrißt!“ und die junge Dame knallte mit einer ledernen Hundepeitsche über die beiden Kerlchen so kunstgerecht hinweg, daß nicht einmal das glänzend schwarze Fell der drolligen Geschöpfe gestreift wurde, die sich übrigens aus dieser Drohung durchaus nichts zu machen schienen, sondern weiter schlangen.

Nun kniete das Mädchen nieder, und jetzt fiel das Licht aus dem großen Fenster auf blondes knabenmäßig verschnittenes Haar.

„Aha, das wird Fräulein Hella sein,“ dachte ich, „eine recht vielversprechende junge Dame!“

Und jetzt begann sie, die Teckel streichelnd, mit ihnen zu reden, so weich und kosend, wie man es zu einem Kinde thut. „Nein, nein, ihr sollt nicht hungern, lieber hungere ich! Und fortgeben thu’ ich euch auch nicht, wie die böse alte Dame will; dann geh’ ich eben auch mit fort. Nein, nein, ihr sollt nicht schlecht behandelt werden, lieber vergifte ich euch und mich dazu. So – freßt nur – freßt! Donnerwetter, sieh’ ’mal, da ist ja noch ein schönes Stückchen Fleisch – friß, mein Thierchen!“

In diesem Augenblick hatte ich aber wohl eine Bewegung gemacht, die Hunde ersahen mich und fuhren wie rufend auf mich los.

„Donnerwetter!“ schrie das Mädchen, „Parapluie – seid ihr toll? Hierher – zurück!“ Und sie knallte wieder mit der Peitsche dazwischen, daß man vor diesem Getöse und dem Kläffen der Herren Köter sein eigenes Wort nicht hörte. Dann aber ward’s plötzlich still, und aus einem ganz verweinten Gesichtchen schaute mich ein Paar trotziger blauer Kinderaugen nicht eben freundlich an.

„Mein Herr – die Herren vom Gericht sind, soviel ich weiß, unten im Bureau,“ sagte sie kurz.

„Verzeihen Sie, Fräulein Bayer – Fräulein Hella Bayer, nicht wahr?“ antwortete ich. „Ich habe nicht die Absicht, die Herren vom Gericht zu sprechen, ich möchte zu Ihrer Frau Großmutter. Gestatten Sie aber zuerst, daß ich mich als Ihren Onkel vorstelle – Onkel Viktor Brenken.“

Ein Aufschrei des Entzückens, und im nächsten Augenblick hatten mich zwei schlanke Arme umfaßt und eine vom Weinen heiße Wange sich an die meinige geschmiegt. „Onkel – Du? [807] Gottlob! Das ist famos – das ist furchtbar schneidig von Dir, daß Du gekommen bist, Du Goldonkelchen! Ach Gott, das ist einzig, das ist –“

Und nun gar ein, zwei Küsse, und ebenso wahnsinnig in der Freude bezeigten sich die Teckel, die unablässig an mir in die Höhe sprangen und Freudentöne ausstießen.

„Herr des Himmels, Hella, laß mich doch zu Athem kommen – beruhige die Teckel, ich habe einen ganz neuen Civilanzug an!“

„Donnerwetter! Parapluie!“ schrie Fräulein Hella, und nun wurde mir klar, daß die zwei krummbeinigen Gesellen so schneidig getauft waren.

„Du hast Dir ja ein paar recht anmuthige Namen für die beiden Strolche ausgesucht,“ sagte ich zwischen Aerger und Lachen, „muß einen netten Effekt geben, wenn Du auf der Straße so nach ihnen rufst.“

„Da rufe ich nicht, Onkel, da pfeife ich, siehst Du – so!“ Und sie legte den gekrümmten Zeigefinger zwischen die Lippen, und ein kunstgerechter Straßenjungenpfiff gellte mir in die Ohren.

Ich starrte förmlich entsetzt dieses Wunder der väterlichen Erziehung an. So ein verd– Unsinn, aus einem Mädel einen halben Jungen machen zu wollen! Das giebt dann solch angenehme Zerrbilder.

„Na, da führ’ mich ’mal zu Deiner Großmutter!“ sagte ich.

„Ja, Onkel, aber – aber ich muß Dich vorher noch um etwas bitten – lieber, lieber Onkel!“ Und sie hob die gefalteten Hände zu dem kleinen, in verhaltenem Weinen zuckenden Mund empor. „Sage doch Großmama, daß ich meine Teckel behalten will – ich bitte Dich, lieber, lieber Onkel! Den ‚Hans‘ haben sie mir heute schon verkauft und den – hat – der Gärtner Kuhne, und da muß er nun“ – das alles unter heftigem Schluchzen – „den Kartoffel- und Gemüsewagen ziehen, und wenn er nicht will, weil er es nicht gelernt hat, so wird er Prügel bekommen, und das ist doch so schrecklich! Wenn sie mir aber nun auch die beiden da fortnehmen, dann – ach, lieber Onkel!“ Und wieder schmiegte sie ihr thränenüberströmtes Gesicht an das meinige.

„Na, sei nur gut,“ tröstete ich, von diesem kindlichen Schmerz gerührt, „Du wirst sie schon behalten dürfen! Aber nun führ’ mich endlich zur Großmama und zu Deiner Schwester!“

„Großmama liegt aber im Bett,“ meinte sie zögernd, „sie war recht leidend heute; und Bine – ich weiß nicht, wo Bine ist. Vorhin sah ich sie fortgehen. Am Ende ist’s doch besser, Du kommst morgen früh wieder; morgen sind wir nämlich noch hier im Hause; übermorgen“ – sie zuckte verächtlich die Schultern – „müssen wir es geräumt haben. Es ist immer möglich, daß Bine gegangen ist, ein Unterkommen für uns zu suchen. Die Frau Oberst hat uns ja ihr Fremdenzimmer angeboten, bis Antwort von Dir da wäre, aber die Möbel, weißt Du –“

„Mein liebes Kind, Großmama hätte doch wahrhaftig nicht auf meine Antwort zu warten brauchen,“ sagte ich erregt, „das Haus steht zu Eurer Verfügung! Theile ihr das augenblicklich mit; ich selbst werde sofort zur alten Busch gehen und ihr das Nähere sagen.“ Ich wandte mich auf dem Fleck um und schritt die Treppe hinunter. „Adieu!“ rief ich zurück, „grüß’ die Damen – auf Wiedersehen morgen, ich komme mit dem frühesten!“

Sie ließ es sich nicht nehmen, mir die Treppe hinunter das Geleite zu geben, samt den Hunden, und mich noch einmal in der noch immer weit geöffneten Hausthür an mein Versprechen zu erinnern, für die Lieblinge zu bitten bei der „Großalten“, wie sie sich liebevoll und burschikos zugleich ausdrückte.

„Seid Ihr hier nun ganz allein im Hause?“ fragte ich.

„Die Hunde sind ja da,“ antwortete sie, „und dann, weißt Du, Onkel,“ sie lachte hart auf, „zu stehlen ist hier nischt mehr.“

„Das mag ja sein,“ gab ich zu, „aber –“

„Na, und außerdem hat uns Lieutenant von Felsenberg seinen Burschen aufgedrängt, der irgendwo in einem der untern Zimmer schlafen wird.“

„So, so! Das ist sehr vernünftig von diesem Lieutenant – wie heißt er doch?“

„Felsenberg, Onkel. Ja, sehr aufmerksam in der That! Ich wundere mich nur, daß er sich nicht selbst, eingewickelt in seinen Mantel, wie zu alten Zeiten auf die Schwelle unserer Stube legt, Aber nun gute Nacht, lieber Onkel! Kommt her, ihr Racker, sagt adieu, auf Wiedersehen!“

Ich winkte dem enfant terrible noch einmal mit der Hand und schritt durch die jetzt vom Mondschein erhellten Gassen der Wasserstraße zu, in der das Brenkenhaus lag. Hinter den Fenstern war allenthalben Licht, nur unser altes Haus, das ich nach wenigen Minuten raschen Gehens erreichte, lag dunkel und verlassen da. Im Mondlicht unterschied ich aber doch deutlich das verwitterte steinerne Wappen über der rundbogigen Thür und den wunderlichen schmiedeeisernen Klopfer, der die Jahreszahl 1615 trug und mit dem ich, als Tante Klara und Leni noch hier wohnten, so oft das Zeichen gegeben hatte, daß ich Einlaß begehre. Eben wollte ich ihn heben, da merkte ich, daß die Thür nur angelehnt war, und nun trat ich ein. Die Klingel schrillte laut über den großen Flur. Ich wartete ein Weilchen in völliger Dunkelheit – niemand kam. „Oll Mutter Buschen“ mochte noch nicht zurückgekehrt sein – aber wie kam es dann, daß die Thür offen war? Schlief vielleicht die Alte in ihrer Stube?

Allmählich war das Dunkel lichter vor meinen Augen geworden, und ich sah nun, daß gegenüber die Gartenthüre offen stand und daß die Mondstrahlen, welche hereinlugten, genügend Licht schufen, um den alten trauten Raum in allen Einzelheiten erkennen zu lassen. Und in dieser spukhaften Stille, in diesem Dämmern war es mir plötzlich, als seien viele Jahre weggelöscht aus meiner Erinnerung, als sei ich wieder der junge frische Offizier, als sei ich wie einst in der goldenen Zeit hier eingetreten, um sehnsüchtig und klopfenden Herzens hinauszueilen – zu ihr.

Wie wunderlich traumhaft das über mich kam! Selbst den Geruch, den Geruch von Gravensteiner Aepfeln glaubte ich zu spüren, der damals aus der Kellerthür zu quellen pflegte. Vielleicht war das alles und das ganze öde trockene Leben dazwischen ist nur ein Traum gewesen, der nie zur Wahrheit werden kann – ein Traum, daß sie einem andern gehörte, ein Traum, daß sie tot ist! Sie lebte noch, sie mußte ja noch leben und sie würde mein sein!

Und dort oben an der Treppe taucht jetzt ein schwacher Lichtschimmer auf und wirft die Umrisse des Geländers in großen schwarzen Schatten an die Wand, und nun schreitet eine schlanke dunkle Gestalt die Treppe herunter, sorgsam das Licht mit der feinen durchsichtigen Hand schützend, und die Strahlen dieses Lichtes fallen hell auf ein süßes, ach so vertrautes Mädchenantlitz. Das sind ja die grünlichklaren Augen das ist das braune schlichte Haar, das sind die feinen Brauen und der rothe Mund. Wie ein holder sinnverwirrender Spuk kam sie daher. Und mit demselben Klange, der mein Herz einst wie jetzt rasend pochen machte, fragte sie: „Sind Sie da, Frau Busch?“

Wie sie mich erblickte, da erschrak sie, daß ihr das Licht aus der Hand fiel und verlöschte, und ich hörte, wie sie die Treppe wieder hinaufeilte.

„Leni!“ rief ich mit halberstickter Stimme.

Die leichten Schritte hielten inne. „Wer – wer sind Sie?“

„Ich bin’s ja, Viktor!“ sagte ich ebenso klanglos.

Da lief sie die Stufen herunter und ein Freudenschrei zitterte zu mir herüber. „Onkel Viktor – Du? Du bist es wirklich? Ach, lieber Onkel, wie gut von Dir, daß Du gekommen bist!“

Und ich fühlte, wie ihre zitternden Hände die meinen ergriffen, und fühlte, wie die kühlen frischen Mädchenlippen sich darauf drückten. „Laß doch, Leni!“ sagte ich.

„Sabine, Onkel – Bine heiß’ ich! Warte; gleich will ich Licht holen. Mutter Buschen ist freilich nicht da und – ach Onkel, ich wußte nicht wohin mit den paar Sachen, die uns geblieben waren und da wollte ich mich bei der alten Frau erkundigen, ob Du ihr vielleicht eine Anweisung geschrieben habest oder ob sie glaube, daß wir es auch ohne Deine Antwort wagen dürften, die paar Möbel hierherzubringen. Ich fand sie nicht, die Alte, da aber die Hausthür offen stand, so nahm ich ein Lichtstümpfchen vom Fensterbrett und schlich hinauf, um mir den Flur oben anzusehen, ob dort vielleicht Platz sei. Ach Onkel,“ unterbrach sie sich, „ich kann die Streichhölzer nicht finden, hast Du vielleicht?“

Nein, ich hatte keine; und so schritten wir zu der Gartenthür hinüber, als müßten wir uns wenigstens beim Mondlicht ins Gesicht schauen. Leni – Leni war es Zug für Zug in erschütternder, fast unbegreiflicher Aehnlichkeit!

Ich starrte in das blasse Gesichtchen, bis mir die heißen Tropfen in die Augen traten. Sie sah mich ihrerseits an mit einem forschenden und verwunderten Ausdruck, wie ihn Kinder haben, die zum ersten Male Dinge erblicken, mit denen ihre junge Phantasie stets aufs angelegentlichste beschäftigt gewesen ist.

[808]Du bist Onkel Viktor?“ sagte sie endlich wie staunend, „ich habe mich immer sehr darauf gefreut Dich einmal zu sehen, aber – aber ich hatte Dich mir immer ganz anders vorgestellt, Onkel.“

„Wie denn?“ fragte ich befangen, als sei ich ein junger Fant, und hatte nicht den Muth, die kleine Hand zu fassen, die sich mir entgegenstreckte.

Trotz der schwachen Beleuchtung sah ich eine Purpurröthe über ihr Gesicht fliegen. „Ich weiß nicht,“ stotterte sie, „ganz anders – Du siehst ja beinah noch ebenso aus wie auf der alten Photographie, welche Mama in ihrem Nähtischchen hatte. Den Nähtisch habe ich geerbt, das Bildchen liegt noch darin – ich will es Dir zeigen, wenn Du kommst. Onkel, warst Du schon bei der Großmama?“

„Ja, aber gesprochen hab’ ich sie nicht. Morgen komme ich, und dann helfe ich Euch umziehen, Leni!“

„Bine, Bine! Sehe ich denn Mama wirklich so ähnlich?“

Ich antwortete nicht und in diesem Augenblick kam der alte Drache dieses Hauses von dem nachbarlichen Schwatz zurück und erschrak nicht wenig, als da zwei Leute im Mondschein standen, ganz so, als wären sie hier zu Hause.

„Herr Gott doch,“ rief sie, „und ich hab’ doch man zugeschlossen!“

„Nein, es war offen, Frau Busch,“ antwortete das junge Mädchen.

„Du leiwe Tid, man wird vergeßlich, Herr General, oder wat sünd Sei doch glik?“

„Ja, ja, Mutter Busch, und deshalb ist’s gut, daß hier noch mehr Leute wohnen. Morgen kommt Frau von Brenken mit ihren beiden Enkelinnen; da stehen Sie nur ’mal ein Stündchen früher auf und öffnen Sie alle Fenster, damit –“

„Herr,“ unterbrach mich die Alte ganz beleidigt, „da oben is alle Dag open west, da is ’ne Luft, die is für Prinzessinnen nich zu slecht und keine Spur von Staub.“

Und als ich mit dem Mädchen schon die Stufen der Hausthürtreppe zur Straße hinunterschritt, zeterte ihre Stimme noch hinter uns her: „Un allens is wie neu, un auf dem Fußboden können Sei Speck snieden, so propper is da. Goode Nacht, Herr Major, oder wat sünd Sei doch glik?“

Ich ging neben Leni, es war wie ein Märchen. Ich gab mir auch keine Mühe, meine nach rückwärts schweifende Phantasie wieder in die Gegenwart zu versetzen. Sie sprach mit der weichen, etwas verschleierten Stimme, ich weiß nicht mehr, was. Ich lauschte nicht den Worten, nur diesem lieben vertrauten Tonfall und als wir endlich in ihrem Hause standen, da zog ich ihre Hand an die Lippen, respektvoll, als sei sie eine kleine Königin; ja, da küßte ich Leni die Hand – und es war doch mein Pathenkind, dem ich noch vor drei Jahren Puppen geschickt hatte. Und verwirrt wie ein Sekundaner hörte ich ihr reizend verlegenes: „Aber Onkel, das darfst Du nicht thun!“

Ich zögerte und hielt die kleine Hand mit meinen beiden fest. „Gute Nacht, Leni!“

Sie duldete das „Leni“, ohne mich zu verbessern. „Gute Nacht, Onkel, auf Wiedersehen! Ach, Onkel, Du wirst morgen viel Trauriges hören!“

Und dann stand plötzlich wie aus der Erde gewachsen ein riesenhafter Ulan vor uns und meldete in streng militärischer Haltung: „Herr Lieutenant von Felsenberg schickt mich zur Wache!“

„Gute Nacht!“ sagte sie noch einmal zu mir, und zu dem Mann: „Kommen Sie mit hinein!“

Dann war ich allein, in der wunderlichste Stimmung, die ich je gehabt. O diese Wardelinger Luft, der grelle Mondschein und – Herr Gott, diese Aehnlichkeit, diese wunderbare Aehnlichkeit!

Ich fand nur wie im Traume den Weg zum „Deutschen Hause“. Der Wirth begrüßte mich schon in der Thür aufs höflichste. „Wünschen der Herr Major zu speisen? Der Herr Major werden die Beefsteaks noch ebenso delikat finden wie vor zwanzig Jahren. Erinnern sich der Herr Major vielleicht noch meiner, des damaligen Oberkellners Jean? Nicht wahr, den Jean, den kennen Herr Major noch? Habe dann die kleine Emilie geheirathet. Der Herr Major erinnern sich doch noch der kleinen Emilie, die das Kochen hier lernte? Wünschen Herr Major vielleicht im Offizierspeisezimmer zu essen? Einige der Herren sind noch da, der Herr Rittmeister von Schlieben, Herr Lieutenant Randow und Herr von Felsenberg.“

Hol’ ihn der Teufel – schon wieder dieser Felsenberg! Muß er überall dabei sein? dachte ich.

In diesem Augenblick that sich die Thür des Speisesaals auf und ein junger Mensch, schön wie ein Bild in der kleidsamen Uniform, schritt säbelklirrend der Hausthür zu.

„Untertänigsten guten Abend, Herr von Felsenberg!“ rief mein diensteifriger Wirth, sich verbeugend.

Ich sah dem hübschen Jungen nach, bis er in der Dunkelheit verschwand. So, so – das ist der Felsenberg! dachte ich. Hm!

„Ich will auf meinem Zimmer speisen,“ sagte ich dann. Droben aber konnte ich doch nicht mit dem gewohnten Appetit essen. Die Uebermüdung natürlich!

Auf Schlaf hoffend, suchte ich mein Lager auf – umsonst. Der verwünschte Mondschein! Diese Wardelinger Luft! Fort, sobald ich morgen mit der „Großalten“ gesprochen hatte! Auf nach dem Süden! Dieser ganze Erinnerungstraum taugte nichts, war nur dazu angethan, einen sonst leidlich vernünftigen Menschen verdreht zu machen. Gegen morgen schlummerte ich endlich ein.

*               *
*

Es war allerdings viel Trauriges, was ich am anderen Morgen von Tante Klara zu hören bekam.

Hella nebst ihrem Gefolge „Donnerwetter“ und „Parapluie“ that mir die Ehre an, mich gegen zehn Uhr im Gasthof aufzusuchen, um mich zu benachrichtigen, daß Großmama meiner warte.

„Sie war schon um Neun heute früh ,aufgezäumt‘“ sagte das unartige Mädel – „das dauert jetzt schon immer ein bißchen lange, Onkel Viktor, sie hat also um sieben Uhr angefangen, sich zu putzen; ich glaube, sie will durchaus eine Eroberung an Dir machen.“

„Aber Hella, Du bist ein entsetzliches Mädchen!“

„Warum denn?“ Die blauen Augen, die wieder geweint haben mochten, sahen ganz erstaunt zu mir herüber.

„Weil Du in Ausdrücken sprichst wie sie eine wohlerzogene junge Dame nicht gebraucht, noch dazu von ihrer Großmutter.“

Sie zuckte die Achseln. „Ich bin auch gar nicht auf die junge Dame dressiert, Onkel! Wohlerzogenheit ist Ansichtssache. Papa fand jedenfalls meine Erziehung äußerst angemessen. Er hat mir ja auch noch täglich vom Wachtmeister Schmückert Stunde geben lassen.“

„Stunde geben lassen? Reiten natürlich?“

„Reiten und – Gehen. Ich habe richtig exerzieren müssen. Papa sagte immer, er wolle ein gesundes Mädel aus mir machen, nicht so ein quackeliges Ding, wie Mama gewesen sein soll. Er sagte, da hätte er genug darunter gelitten. Lieber weniger feine Manieren, aber gesunde Nerven.“

„Ich habe ja nichts gegen den Sport, liebes Kind, aber – die Redeweise! So, nun komm’, wir wollen die alte Dame nicht warten lassen.“

Der Unband pfiff den Hunden und wir machten uns auf den Weg nach dem Bayerschen Hause. Als wir über den Rathhausplatz gingen, wo gerade Wochenmarkt abgehalten wurde, stürzte Hella plötzlich auf einen kleinen braunen Pony los, der vor ein Leiterwägelchen gespannt, sich das Leben und Treiben um ihn herum mit noch nicht abgestumpftem Interesse ansah, denn das Spiel seiner Ohren war äußerst lebhaft, auch schien ihm das Stillestehen sauer zu werden.

„Hans, mein lieber goldener Hans!“ hörte ich das Mädchen rufen, und im nächsten Augenblick hatte sie das Thier um den Hals gefaßt und weinte die bittersten Thrähnen in die krause Mähne, während sie mit der einen Hand in die Kleidertasche fuhr und dem Pony Zucker hinhielt. Die dicke Gemüsefrau, jedenfalls die neue Eigenthümerin, stemmte die Arme in die Seite und lächelt. „Aber, gnä’ Fräulein, gnä’ Fräulein, dem geht doch nichts ab! Wie kann man nur so einem Thier nachweinen, das ist ’ne große Sünd’!“

Aber als ob sie nichts hören wollte, riß Hella sich schnell wieder los und kam herüber. Und dann ging sie stumm neben mir her, immer leise schluchzend.

Und wenige Minuten später saß ich neben Tante Klara. Sie war mir mühsam bis an die Thür entgegengeschritten; nun mußte ich sie stützen, so zitterte sie in bitterlichem Weinen.

„Ach, ich danke Dir, Viktor, daß Du gekommen bist, ich danke Dir! Ich bin am Rande meiner Kräfte angelangt; es war zu viel. dies alles.“

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aus: Die Gartenlaube 1893, Heft 49, S. 821–824

[821] Endlich kam Tante Klara zum Erzählen. Mein Gott – thatsächlich war für die beiden Mädchen nichts gerettet, aber auch gar nichts. Alles in Spekulationen verloren – „und als Bayer dem Nichts gegenüberstand, da starb er – verstehst Du mich, Viktor? In der Kreuzzeitung war etwas von Herzschlag zu lesen – also Herzschlag. Na ja! Was man hier so munkelt, weiß ich nicht; der Wahrheit wird’s wohl nahe genug kommen. Die Kinder aber, die wissen nichts; nur das wissen sie freilich, daß ihr Vater sie als Bettlerinnen zurückgelassen hat. Nun hast Du mir ja eine Zuflucht angeboten, wir werden ein Dach über dem Kopfe haben, vor dem äußersten Hunger schützt meine Pension – aber dann, Viktor, wie dann weiter? Was soll nur werden aus den armen Geschöpfen? Die eine ganz verdreht erzogen, ein halber Junge, die Bine wie eine Mimose, und beide wie die Prinzessinnen, denn wir haben ja alle gedacht, sie würden dereinst reiche Erbinnen sein – Viktor, sage selbst, kann man Schwereres erleben auf seine alten Tage?“

Ich sah in das alte furchtbar vergrämte Gesicht der einst so stattlichen lebensfrohen Frau. Hier standen sie deutlich eingeschrieben, die letzten achtzehn Jahren mit den Sorgen, dem Kummer. die sie über dieses Haus gebracht hatten. Arme Tante! Das „Aufzäumen“ hat Dir nichts geholfen, die schwarze Perücke macht Dich nur älter, die weiße Puderschicht nur greisenhafter.

„Du siehst mich so starr an, Viktor, sagte sie. „Ach, nicht wahr, Sorgen machen alt? Wenn Du wüßtest. Aber Du, mein Junge, Du siehst gut aus, Du bist ja auch noch jung – wie alt bist Du denn?“

„Zweiundvierzig, Tante.“

„Ja, ja. ein junger Mann, ein Mann in den besten Jahren. Warum nur hast Du nicht geheirathet?“ Und ohne eine Antwort abzuwarten, sah sie plötzlich starr vor sich hin, als versenkte sie sich mit ganzer Seele in irgend einen Plan. „Viktor, Du sahst doch die Mädel schon?“ sagte sie endlich nach langer Pause.

„Ja, Tante!“

„Und findest Du nicht, daß Bine meiner armen Leni recht ähnlich ist?“

„Sehr ähnlich, Tante; ich war ganz überrascht.“

[822] „Nicht wahr?“ flüsterte sie, und abermals zeigte ihr Gesicht den nachdenklichen Zug, wie wenn jemand sich müht, eine schwierige Rechenaufgabe im Kopfe zu lösen. Sie saß mäuschenstill da, in einen alten indischen Shawl gewickelt, den sie schon vor zwanzig Jahren getragen hatte, Ich erkannte ihn wieder; Leni und ich hatten uns einst überzeugt, daß sie dieses Kleidungsstück in verzweifelten Stimmungen umzunehmen pflegte.

Sie mochte meine beobachtenden Blicke bemerkt haben, die über sie hinglitten. „Ja,“ sagte sie, „wenn man achtzehn solche Jahre hinter sich hat, Viktor“ – und nun begann sie eigentlich erst ihr Herz ganz auszuschütten. „Er trank, Viktor; er spielte, er war roh, er war – ach, welche schlechte Eigenschaft besaß er nicht! Und wie hat Leni gelitten!“

Ich stand auf, bis ins Herz getroffen bei dieser Wendung. „Tante, ich bitte Dich, erzähle mir nichts davon – es ist geschehen, es ist nicht mehr zu ändern.“

„Nicht mehr zu ändern,“ wiederholte sie scharf „aber es wäre zu ändern gewesen, wenn – –“ Ihre Augen sahen vorwurfsvoll und zugleich kreuzunglücklich auf mich.

„Wenn Du ihr nicht zugeredet hättest, Bayer zu nehmen,“ wollte ich ergänzen, verschluckte es aber. Sie schien diese Thatsache vollständig vergessen zu haben.

„Na, Du hast rechst, es ist vorüber,“ sprach sie weiter, „auch Sabine kann er nicht mehr quälen. Ach, wie hat es das Kind schlecht gehabt von dem Augenblick an, wo Leni ihre Augen schloß! Schon als kleines Würmchen war sie ihm überall zuviel, und nun gar zuletzt, als die Geldnoth ihm zu schaffen machte, als er den ganzen Tag mit weingeröthetem Kopfe umherlief! Das arme Ding, soviel Athemzüge, soviel Thränen! Und die andere, die sein Abgott war, die half noch, das Maß unseres Elends voll zu machen, denn aus der Angst um den Wildfang kam man nicht heraus, und je toller sie es trieb, um so mehr lobte sie der Vater. Ich denke noch immer daran, wie wir sie entdeckten oben im Glockenthurm der Marienkirche in den Schallfenstern stehend, um ein Dohlennest auszunehmen. Wochenlang habe ich nachts davon geträumt, daß sie herunter gestürzt sei, und bin mit einem Schrei emporgefahren. Ach Gott, Viktor, und schließlich, als er tot war – wie da die Gläubiger gekommen sind, was wir da hören mußten, die Kinder und ich! Wie sie den Vater entschuldigen wollten, die armen Dinger, wenn ihn die Leute einen Betrüger nannten! Ich kann ja sagen, die alten Bekannten, die uns in der letzten Zeit fast ganz verlassen hatten, die sind zurückgekehrt, mich und die Kinder zu trösten; aber was nützte der Trost, damit war uns nicht geholfen. Alles wurde versiegelt, alles verkauft. Diese paar alten Möbel, die meinigen, mit denen ich, als ich nach Lenis Tode hierher zog, meine Zimmer einrichtete, sind das Einzige, was wir mitnehmen in das Brenkenhaus, und wenn Du nicht wärst, Viktor –“

Sie brach abermals in Thränen aus, die sie mit dem stark nach Patchouli duftenden Taschentuch zu trocknen bemüht war. Und dabei sah ich ihre alten mageren zitternden Hände und sah, daß ihr Stolz fehlte, ihr Brillantring, von dem sie sich selbst in ihren dürftigsten Witwentagen nicht getrennt hatte.

„Lieber Viktor,“ setzte sie endlich hinzu, „Gott hat mir im Leben viel Schweres geschickt, aber dies ist doch das Schlimmste, und wenn ich denke, es hätte alles so ganz anders sein können – Und glaube mir, Leni wäre nicht so rasch gestorben, in glücklichen Verhältnissen lebte sie heute noch!“ Und sie nickte mir zu mit denselben vorwurfsvollen Augen wie vorhin.

„Ja, ja!“ stieß ich hervor. „Aber wann willst Du denn einziehen, Tante? Ich bleibe natürlich solange hier, bis Du eingerichtet bist.“

„Heute noch, Viktor; es wird ja bald geschehen sein, Sabine arbeitet drüben schon seit aller Morgenfrühe. Du glaubst nicht, was für ein gutes Geschöpf dieses Mädchen ist, ganz wie ihre Mutter, Viktor, ganz so. Nicht wahr, wenn man sie sieht, vergißt man die Jahre, man denkt, es ist wieder wie damals, als Leni noch ein Mädchen war und in der getäfelten Stube im Brenkenhause uns den Thee einschenkte? Wie freute sich das Kind immer auf Dein Kommen, Viktor; ihr jubelndes ‚Guten Tag, Vetter!‘ wenn Du in die Stube tratest, das hör’ ich immer noch. Und Du kamst oft, Viktor!“

„Wozu denn das alles?“ dachte ich, peinlich berührt.

„Ich wünsche nur eines,“ fuhr sie unbarmherzig mit ihrer eintönigen blechernen Stimme fort, „daß sie sich gut verheirathen möchte, die Bine.“

„Nun?“ fragte ich und griff nach dem Wochenblättchen, das auf der Sofalehne lag. Dabei war mir auf einmal ganz wunderlich zu Muth und es wurde mir schwer, die Worte gleichgültig zu sprechen – „nun, hat sie etwa schon einen Freier? Bei ihrer Schönheit wär’s kein Wunder.“

„Einen Freier?“ fragte Tante Klara zurück, „Hm!“ Ihre Augen senkten sich und sie zupfte am Taschentuch, dann blitzte es hinter den gehobenen Lidern auf. „Ja freilich,“ sagte sie rasch, „sie hat einen Freier, Viktor, warum soll ich es Dir nicht erzählen? Den Radowitz auf Oetzen!“

„Ist denn da ein Sohn? Wohl ein Verwandter von Rudolf Radowitz?“ Und wie die Frage selbst beantwortend, setzte ich hinzu: „Aber der Rudolf Radowitz ist ja gar nicht verheirathet gewesen, lebt wohl auch nicht mehr?“

„Doch, mein Junge! Der Rudolf Radowitz ist’s selbst.“

Na, Gott sei Dank, Tante, Deinen Humor hast Du noch!“ bemerkte ich.

„Wahrhaftig, Viktor, es ist mein Ernst!“ betheuerte sie.

„Aber Tante, der alte Saufaus – er muß ja an die Sechzig sein – und ein achtzehnjähriges Mädchen!“

„Ja, es ist aber so!“ erwiderte sie mit einem tiefen Seufzer.

„Ich bitte Dich um alles in der Welt,“ fuhr ich auf „das ist ja – das ist –“

„Mein goldener Junge,“ sagte Tante Klara wehmüthig, „sie ist ein armes, ein ganz armes Mädchen, und arme Mädchen dürfen nicht – hm“ – sie hustete heftig – „dürfen nicht – ach, der schreckliche Husten!“

„Was dürfen sie denn nicht?“ fragte ich ungeduldig.

„Nicht wählerisch sein!“ hauchte sie.

„Und Du glaubst, daß das Mädchen fähig wäre, einen – einen solchen – es ist einfach unmöglich, Tante Klara!“

„Ich habe kein Wort mit ihr darüber gesprochen, Viktor, ich mische mich nie in solche Sachen, das muß man nicht. Die Jugend will ihre Erfahrungen selbst machen; je mehr man redet, desto eigensinniger ist so ein achtzehnjähriger Kopf. Wie oft habe ich damals, als der Bayer sich als Freier zeigte, zu der Leni gesagt: ,Leni, entscheide Dich nicht so rasch, warte noch, vielleicht ist er der Rechte doch nicht, aber – na, sie hatte tausend Gründe dagegen, und –“

„Lüg’ du und der Deibel!“ dachte ich, und der Zorn stieg mir in den Kopf.

„Ach Gott, und Bine ist gerade so wie ihre Mutter,“ fuhr sie fort, „redet sich vielleicht gar ein, sie thut uns allen eine Güte, wenn sie den reichen Radowitz nimmt, und – lieber Himmel, es wär’ ja auch so, wir sind eben auf so etwas angewiesen, Viktor! Es ist hart, ist prosaisch – ach ja, aber das Leben, das unbarmherzige Leben!“ Sie nickte mit ihrem wunderlichen Greisengesicht unter der jugendlichen Spitzenhaube noch einmal zu mir herüber: „Ja, ja, das Leben, Viktor!“

„Ich muß mich nun empfehlen, Tante,“ sagte ich, mich mühsam beherrschend, „will den Herren vom Regiment ’mal ‚Guten Tag!‘ sagen, muß mich auch entschuldigen, daß ich so in Civil dahergekommen bin und ohne Meldeanzug. Auf Wiedersehen heute nachmittag im Brenkenhause!“

„Viktor,“ flötete sie, „es thut mir so leid, Dich nicht auf einen Löffel Suppe hier behalten zu können, aber so mitten im Umzug –“

„Bitte, bitte, Tante, mir – ist aller Appetit vergangen,“ wollte ich sagen, hätte es auch dreist behaupten können. Ich nahm einen Anlauf, ihr die Hand zu küssen, aus alter Gewohnheit, aber auf halbem Wege ließ ich sie wieder sinken. „Leb’ wohl!“ murmelte ich, und draußen gab ich ihr, leise vor mich hinscheltend, ein paar sehr despektierliche Namen. Na, sie hatte ja schon die Tochter auf dem Gewissen, warum denn nicht auch noch die Enkelin! Hol’ der Teufel alle alten Weiber, die aufs Ehestiften aus sind! Uebrigens, da war ja der Augenblick gekommen, wo Lenis Kind meiner Hilfe bedurfte! Arme kleine süße Bine! Was mache ich nur mit Dir, wie helfe ich Dir?

In meinen Gedanken war ich rasch vorwärts geschritten, immer vorwärts, zum Thore hinaus. Da, an dem stillen langsamen Flüßchen, das beschaulich durch die Wiesen schlich, zog [823] sich dicht an der Stadtmauer ein Feldweg hin; den schlug ich ein. Ich war ihn früher tausendmal gegangen, denn der Garten des Brenkenhauses ward von dieser alten Mauer begrenzt, und ein Pförtchen führte heraus über den Weg zum Fluß hinab, wo man das Wasser zum Begießen der Gemüsebeete und Blumen schöpfte und wo der alte morsche Kahn lag, den wir, Leni und ich, so oft zum Spazierenfahren benutzt hatten oder als Brücke, um auf die Wiesen zu gelangen, denn der Kahn war gerade so lang wie das Flüßchen breit, und wenn wir ihn quer drehten, gab er die schönste Brücke.

Ich betrachtete die hohe Mauer, in deren Fugen Gras und Hauslaub wuchsen, und dachte dabei an ganz anderes. Dieser unglaubliche Plan mit dem Radowitz! Ich starrte auf die alte Thür, neben der ein Ebereschenbaum stand mit purpurrothen Fruchtbüscheln – ob etwa Bayer den Radowitz angepumpt hatte? Ueber den Wiesen braute der Nebel, durchsichtig weiß und silberschimmernd in den blassen Strahlen der Herbstsonne, so zart und duftig wie ein Brautschleier.

Donnerwetter, der Radowitz! War es denn nur möglich? Dieser – na, jetzt mußte er ja ein Mummelgreis sein, war aber damals schon kein Jüngling mehr, so ungefähr in dem Alter, in dem ich mich jetzt befand, und damals schon hatte er eine rothe Nase, die der Güte seines Burgunders ein so beredtes Zeugniß ausstellte, freilich auch seinem Durste. Und damals schon war es eine bekannte Thatsache, daß der alte Kutscher, wenn er seinen Herrn in die Stadt gefahren hatte, jedesmal fragte: „Herr Baron, wer ist heute dran? Ich glaube, Sie waren es das vorige Mal, Herr Baron!“ Und wenn der Mann recht hatte, so trank Herr von Radowitz nur zwei Flaschen Sekt oder Burgunder, um nüchtern zu bleiben und auf dem Heimweg die Pferde lenken zu können, weil der Kutscher diesmal das Recht hatte, einen über den Durst zu trinken. Das nächste Mal durfte dafür der Herr sich bezechen und Christoph blieb nüchtern. Sie hatten diesen schönen Pakt einst miteinander geschlossen, als sie, beide angeheitert, um ein Haar verunglückt wären samt den neuen ungarischen Juckern, die den Weg von Wardelingen nach Oetzen noch nicht kannten und sich die schwankende Leitung vom Bock aus nicht anders zu erklären wußten denn als eine Aufforderung, ein bißchen durchzugehen. Und der wollte Bine heirathen!

Ja, im übrigen ein Ehrenmann, der Rudolf Radowitz, aber wie kam er auf den hirnverbrannten Gedanken, heirathen zu wollen, und gar dieses Kind?

Ich war vor dem altbekannten Pförtchen stehen geblieben, zog, in tiefe Gedanken versunken, die beiden Brenkenhausschlüssel heraus, die ich vorsorglich und trotz aller Eile vor der Abreise eingesteckt hatte, und schloß auf. Dann blieb ich noch einmal stehen und schaute mir die hohe Mauer an. Könnte auch nicht schaden, wenn die mal ein wenig mit Cement verputzt würde; natürlich, ich war zu lange nicht hier gewesen, und andere Menschen kümmerte es nicht, ob – – Dann blieb mein Auge an dem braun und purpurroth schimmernden Gerank der alten Laube hängen, die über diese Mauer hinwegschaute und auf einem künstlich geschaffenen Hügel im Garten errichtet war, nur einen Blick ins Land zu verstatten. Und da stand wie in einem Rahmen von Purpursammet die Leni, oder vielmehr ihr schönes Töchterlein, und schaute, die Hand an die Stirn gelegt, mit träumerischen Augen in die Ferne. Reizend sah sie aus in dem schwarzen Trauerkleid und der rothen Umgebung. Sie mußte eben erst hergekommen sein und mich noch gar nicht erblickt haben.

„Morgen!“ rief ich. „Interessante Aussicht, Bine – was?“

Sie erschrak und erglühte; als sie mich erkannte, nickte sie freundlich und verschwand. In den Garten tretend, sah ich sie die morschen Holzstufen des Hügels heruntereilen. Sie hatte Füßchen wie – wie die Leni sie gehabt, so schmal, so zierlich.

„Lieber Onkel“ rief sie, „ich hatte Dich gar nicht gesehen!“

„Glaub’ ich schon, Binchen; Du gucktest ja so angelegentlich in den Nebel hinaus, als könntest Du ihn durch und durch schauen; der Schloßthurm von Oetzen war aber wohl doch nicht zu erkennen?“

Sie sah mich groß an mit einem eigenthümlich forschenden Blick, als wollte sie fragen: wer hat Dir denn das schon verrathen? Aber sie antwortete nicht. Sie trug über ihrem Trauerkleidchen eine weiße Schürze – denn sie habe Gardinen aufgesteckt – und oben an der Krepprüsche einen kleinen Ebereschenzweig mit einigen der dunkelrothen Beeren, die sonderbar aus dem düstern Schwarz hervorleuchteten.

Schweigend schritt sie neben mir durch den Mittelweg des Gartens, und ich wußte auch nichts zu sagen. Es ging mir am hellen Tage wie gestern abend beim Mondschein: die ganze Vergangenheit wurde mir lebendig an der Seite meines schönen Pathenkindes.

Mit Gewalt riß ich die Augen von ihr los und bemühte mich, meine Aufmerksamkeit dem Garten zu schenken.

„Ja, sieh nur ’mal, Onkel,“ begann sie freundlich, „wie vernachlässigt hier alles ist! Die Wege grün von Unkraut, die Buchseinfassung nicht beschnitten und auf den Rabatten die unglücklichen verkommenen Stachel- und Johannisbeersträucher! Thut Dir so etwas nicht auch weh? Ich kann es gar nicht sehen. Schau nur die Obstbäume an – ein Wunder, daß sie noch getragen haben! Ich darf hier doch ein bißchen Ordnung schaffen, nicht wahr? Und das ist mir ein lieber Gedanke, daß ich wenigstens an den Bäumen Dir ein wenig Deine große Güte vergelten kann.“

„Aber, liebes Kind, Du –“

„Sag’ nur nichts, Onkel, es ist so; und denke Dir, ich bin sogar noch obendrein schrecklich unbescheiden. Darf ich Dich um etwas bitten?“

„Natürlich, Leni – bitte nur, bitte!“

„Aber Du mußt ehrlich sagen, wenn Du es nicht gern erlaubst!“ Sie bog das erröthende Gesicht vor und sah mich ernsthaft, treuherzig an, so ganz wie Leni einst.

„Ich erlaube Dir alles, Leni,“ murmelte ich.

„Bine, Onkel, Bine! Aber wenn Du mir das erlaubst, um was ich Dich bitten will, erlaube ich Dir auch etwas, dann darfst Du ,Leni‘ zu mir sagen, und ich will immer darauf hören. Ich könnte ja doch auch eigentlich wie Mama heißen,“ setzte sie nachdenklich hinzu, „warum nur nicht, Onkel?“

Ich schluckte ein paarmal. „Na, so wünsche nur!“ sagte ich dann.

„Also, Onkel, wenn Du mir jetzt antwortest, da sagst Du entweder ‚Ja Leni!‘ oder ‚Nein, Bine!‘ – aber nicht böse sein, lieber Onkel!“ Sie erfaßte meine Hand und über ihre thränenschimmernden Augen senkten sich die dunklen Wimpern.

„Die Buschen hat mir nämlich vorhin die Stube gezeigt, in der Mama als junges Mädchen gewohnt hat, und da wollte ich Dich fragen, ob – die Buschen sagt freilich, das erlaubtest Du nicht – bist Du böse, Onkel? Ach, Du siehst auf einmal ganz blaß aus! Nein, nein, ich will’s auch gar nicht, Onkel, es war auch so unbescheiden, nur daran zu denken, daß ich dort gern gewohnt hätte – ach, Onkel!“

Ich hatte mich hinunter gebeugt und befreite ein paar verkrüppelte Astern von welken Blättern; ich mochte mich etwas hastig zu dieser Arbeit entschlossen haben. Sie stand regungslos hinter mir und ich hörte ihre letzten flehenden Worte nur wie einen Hauch.

„Himmeldonnerwetter, nimm Dich zusammen!“ schimpfte ich innerlich auf mich, und laut sagte ich, so ruhig ich kannte: „Zieh’ hinein Leni, zieh’ nur hinein!“

„Ja? O, ich danke Dir viel, vielmal, Onkel!“

Als ich sie ansah, rannen ihr ein paar Thränen über die Wangen, aber sie lächelte. „Komm’ doch ’mal mit hinauf in die Stube, Onkel Viktor!“ bat sie.

„Später, Leni, später!“ wehrte ich hastig. Um die Welt hätte ich nicht mit ihr zusammen da eintreten können, in das Zimmer, das, so lange ich lebte, nicht wieder hatte bewohnt werden sollen; das ich Tante Klara nach Lenis Hochzeit einfach fortnahm unter dem Vorwand, Bücher dort hineinstellen zu wollen, die mir in meinem Junggesellenheim zuviel Platz versperrten, in Wahrheit aber, weil – weg damit!

„Onkel, ich will das Stübchen halten wie ein Heiligthum,“ fuhr das Mädchen fort. „Ach, Du kannst Dir ja nicht denken, wie lieb ich jede Erinnerung an Mama habe! Siehst Du, ich kann mich noch genau besinnen, wie sie mich geküßt hat, so lieb und weich, und wie es dann so schrecklich wurde, als sie plötzlich nicht mehr da war, und wie ich geschrien habe, als mir Großmama das kleine blauseidene Kissen, das Mama sich immer unter den Kopf schob, wenn sie ruhen wollte, fortnahm – weil es ansteckend sei. Es war mir immer, wenn ich mein Gesicht darauf preßte, als fühlte ich das ihrige neben mir. Ich bin wohl recht [824] thöricht, Onkel? Nein? Das denkst Du nicht? Ich freue mich so sehr, droben zu schlafen! Die Buschen sagt, es sei dasselbe Bett, in dem Mama als junges Mädchen schlief, so ein altmodisches Himmelbett mit gedrehten Säulen, Ist das wahr, Onkel? Und dann stelle ich mir das Nähtischchen hinein und meine Bilder, und die alte Kommode ist auch noch da – ach, ich danke Dir, Onkel!“

Sie drückte mir die Hand und ich bückte mich abermals nach irgend etwas, aus Angst, sie könnte mir die frischen Lippen zum Kuß bieten; ich hätte ihr keinen Onkelkuß geben können. Und, gottlob, dann kam Mutter Buschen und rief, daß da ein paar Ulanen seien, die Möbel brächten, und das Fräulein möge kommen, um zu bestimmen, wohin sie gestellt werden sollten.

Sie lief eilends dem Hause zu. An der Thür wandte sie sich noch einmal um. „Aber Onkel, heute abend mußt Du Thee bei uns trinken, um Sieben, dann ist alles so in Ordnung, als ob wir schon hundert Jahre hier wohnten.“

Sie wartete meine Antwort nicht ab, und ich folgte ihr, um durch das Haus auf die Straße zu gelangen, Im Vorübergehen sagte ich Mutter Buschen, daß das Zimmer, in dem die alten Bücherkisten ständen, von dem gnädigen Fräulein bewohnt werden würde und daß daher die Kisten auf den Boden gebracht werden sollten.

„Herr Du mein Leven!“ rief die Alte, „nee, und ich sag’ noch zu ihr, bilden Sei sich man bloß das nich ein, gnä Fräulein, daß er Sei die Stube giebt! Da könnt’ der Kaiser selber kommen! Hat erst im vorigen Jahre geschrieben, als ich ihm gemeldet hab’, daß der olle Ofen so wackeln thät, in die Stube soll gar nichts gemacht werden – nee! Und nu? Na, mir kann’s recht sind, Herr General – Herr Major, wollt ich sagen.“

Ich machte, daß ich aus dem Hause kam, suchte den mir von früher bekannten Kommandeur auf, fand ihn glücklicherweise nicht zu Hause, und schließlich aß ich wohl oder übel an der Offizierstafel. Es speisten nur vier Herren da, ein unverheiratheter Rittmeister und drei Lieutenants. Ich erfuhr auch, daß alles, was abkömmlich war, bei Radowitz zum Diner sei. Es wurde eine ziemlich langweilige Geschichte. Die Herren genierten sich vor mir, sich aus vollem Herzen über die Vorgesetzten auszusprechen, und ich war verstimmt, schauderhaft verstimmt; ich ärgerte mich über die Fliege an der Wand, über das blöde Gesicht des kleinen Kellners, über einen winzigen Zweig dunkelrother Ebereschen, den der Herr Lieutenant von Felsenberg zwischen den Fingern drehte und bald behutsam, als sei er von Glas, neben seinen Teller legte, bald unter seine Nase brachte, als röchen die rothen Dinger wie Rosen. Dabei sprach er kaum ein Wort, sondern heftete nur, wenn er glaubte, ich sei mit meinem Essen beschäftigt, einen forschenden fragenden Blick auf mich, der ich ihm gegenüber saß. Ich nahm ihn auch ein paarmal aufs Korn. Bildhübsch war er, aber er hatte etwas Zigeunerhaftes in seinem Gesicht – mochten es nun die dunklen Augen sein, der kecke schwarze Schnurrbart, die bräunliche Gesichtsfarbe oder die blitzenden Zähne – beneidenswerthe Zähne!

Ich redete ihn schließlich an, fragte, ob das Regiment beim letzten Rennen betheiligt gewesen und wie die diesjährigen Remonten ausgefallen seien, und erhielt sehr höflichen Bescheid, wobei er mich immer in dritter Person anredete: „Befehlen der Herr Major“ u. s. w.

„Ist wohl Jagd heute auf Oetzen?“ fragte ich dann.

„Nein, nur Diner, großes Diner – wird spät werden, bis die Herren zurückkommen, geht da immer ein bißchen lustig zu.“

„Waren wohl dienstlich verhindert, mitzuthun, Herr Lieutenant?“ forschte ich.

Er sah mich mit seinen dunklen Augen an, in denen ein unendlich verächtlicher Ausdruck aufblitzte, „Ich hatte nicht die Ehre, eingeladen zu sein,“ lautete die ironische Auskunft, und er roch an dem Ebereschenzweig.

Der Rittmeister lachte. „Kennen Sie den Rudolf Radowitz, Herr Major? Der gemüthlichste Kerl unter der Sonne, hat aber eine Abneigung gegen den liebenswürdigsten und schneidigsten Kameraden, der je eine Ulanka trug.“

„Gegenseitigkeit!“ sagte der schöne Zigeuner kurz, aber er konnte nicht hindern, daß ihm eine jähe Röthe ins Gesicht flog. Dann zog er die Uhr, warf einen Blick darauf, ließ Butter und Käse auf seinem Teller unbenutzt liegen, machte ein paar sporenklirrende Verbeugungen und verließ das Zimmer.

„Kennen Sie den Radowitz, Herr Major?“ fragte der Rittmeister nochmals. „Natürlich, Sie müssen ihn ja kennen! Hat einen förmlichen Haß auf Felsenberg, geht so weit, daß er dem armen Jungen die Pferdepreise in die Höhe treibt, obgleich er weiß, daß dessen Zulage kaum für die waschledernen Handschuhe reicht; kauft ihm sogar die Gäule vor der Nase fort, wenn er merkt, daß Felsenberg sich darum bemüht, weil er sie just haben muß, und das alles, weil – na, so geben Sie zum Kuckuck doch her!“ herrschte er die Ordonnanz an, die schon eine Weile mit dem Parolebuch hinter ihm stand. Und dann vergaß er über dem Regimentsbefehl, was er noch sagen wollte, und begann mörderlich zu schimpfen über irgend etwas, das er da gelesen hatte und das nach seinen Ansichten höchst unzweckmäßig war.

Und ich, ich saß da, rührte in meinem Mokka und hatte nicht den Muth, zu fragen, warum der dicke Rudolf Radowitz und der schöne Felsenberg sich haßten und einander das Leben schwer machten. Schließlich saß ich ganz allein da und dachte darüber nach, bis mich die Wirthin aus meinen Träumen aufjagte mit der Frage, ob ich mich ihrer noch erinnere.

Ich hatte allerdings Mühe, in der kleinen dicken Madame das niedliche schnippische Mädchen von ehedem wiederzuerkennen. Aber natürlich that ich doch so, und da niemand mehr im Zimmer war und um diese Zeit auch keiner der Kameraden zu kommen pflegte, so hielt sie sich für verpflichtet, mich zu unterhalten, und nahm natürlich an, daß mich Stadtneuigkeiten am meisten interessieren würden. Sie begann unter einem tiefen Seufzer, es sei doch früher viel schöner gewesen und viel lustiger, und das Offizierscorps viel flotter, und doch seien augenblicklich lauter schwer reiche Herren beim Regiment. Der einzige, von dem man sagen könne, daß er keine Mittel habe, sei Herr von Felsenberg, und der, nun der sei eine Seele von einem Menschen, und sie, die Wirthin, habe immer nur den einen Wunsch, daß ihr eigener Bengel einmal ebenso werde wie der, so solid, so brav und so ein guter Sohn. „Keine Karte rührt der an, Herr Major sag’ ich Ihnen! Sehen Sie ’mal, Herr Major, er hat seine alte Mutter noch, und zu Weihnachten vorigen Jahres hat er mich gefragt, ob ich ihm wohl behilflich sein möchte, eine Gans einzukaufen – eine gemästete, wissen Sie – die wollte er der alten Frau hinschicken. Na, Herr Major, andere wollen immer bloß haben von den Eltern und hätten für das Geld lieber ihren Sekt getrunken –“

Ich konnte nicht einmal lächeln über den Gänsebraten und den guten Sohn, der seiner Mutter damit eine Weihnachtsfreude machte, und als nun die ehemalige kleine Emilie plötzlich ganz unvermittelt fragte, wie es denn den Bayerschen Damen gehe, sah ich sie nur starr an und ließ wie ein Opferlamm ihren Redestrom über mich dahinfließen.

Am meisten leid sei es doch allen Menschen um das schöne Fräulein Sabine. „Nein, Herr Major, wie so’n Engel ist die doch! Der Herr Major hätte sie nur sehen sollen auf ihrem ersten Ball im vorigen Winter, da droben im Saal, der übrigens jetzt Parkett hat und einen Kronleuchter mit dreißig Lampen. Ganz in Weiß ist sie gewesen, selbst das Kränzchen im braunen Haar von weißen Blüthen. Wissen Sie Herr von Brenken, die alte gnädige Frau hat sich immer auf die Toilette verstanden; wenn man nur an die selige Mama von Fräulein Sabine denkt – wie ein Püppchen war sie immer angezogen. Ich war also, wie früher auch, ein bißchen hinaufgegangen, um zuzuschauen, und da habe ich gesehen, wie sie alle ganz weg waren von Fräulein Bine Bayer, und am meisten der alte Radowitz. Es war zum Schieflachen, wie er herumgekugelt ist um sie; als wenn unser Küfer ein Weinfaß dreht, accurat so, habe ich zu Jean gesagt. Aber weil der Herr von Radowitz doch nicht tanzt und weil die jungen Herren das Fräulein beinahe zerreißen wollten, da hat er sich zu der Frau Großmama gesetzt und hat ihr Süßholz geraspelt und dabei immer auf das Fräulein geschielt.“

„Na, guten Tag, Frau Emilie!“ schnitt ich ihr die Rede ab, „ich will nur ’mal ein bißchen Nachmittagsruhe halten. Möglicherweise reise ich noch mit dem Nachtzuge weiter; ich will nämlich nach Italien.“

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aus: Die Gartenlaube 1893, Heft 50, S. 838–840

[838] Ich stieg die Treppe des „Deutschen Hauses“ empor und suchte meine Stube auf; da lag auf dem Sofatisch ein Brief von meinem Reisekameraden. Ich nahm ihn, setzte mich auf das Sofa und riß den Umschlag auf, aber zu lesen begann ich noch nicht. Hinter meiner Stirn trieben sich die Gedanken im bunten Wirbel umher und machten es mir unmöglich, meine Aufmerksamkeit anderen Dingen zuzuwenden.

Ich sah immer nur den Radowitz vor mir, groß und breit, und neben ihm Tante Klara im schönsten Einverständniß und ich hörte sie dann sagen mit ihrer spitzen Stimme: „Bedenke doch, Viktor, das Kind ist arm, ganz arm, und Oetzen ist doch schließlich ein recht anständiger Unterschlupf! Ach, all das andere Gethue ist ja Nebensache, Sentimentalität!“

„Hol’ Euch ein Donnerwetter!“ fluchte ich, „daraus wird nichts! Ich bin auch noch da!“ Und mit dieser halblauten Verwünschung riß ich den Brief aus dem Umschlag.

„Lieber Brenken,“ las ich, „was machen Sie denn? Betrügen mich und sich um die schönsten Stunden, lassen mich allein die Reise über den Gotthard machen und wollen nachkommen? Familienangelegenheiten? Ich habe Sie meintag nicht von solchen Sachen sprechen hören. Ihre Frau Schwester, die ich in der Behrenstraße traf, behauptet, nichts von solchen Dingen zu wissen; ich schwieg gleich still, weil man ja nicht ahnen kann, was Sie eigentlich vorhaben, und murmelte nur etwas von einem Pferdekauf.

Sie wollen sich doch nicht etwa verloben? Brenken!

Ich bitte Sie, kommen Sie doch recht eilig nach. Ich würde Sie gern in Berlin erwartet haben, aber so reisefertig hat man keine Ruhe mehr, daher gebe ich diese Zeilen bereits in Luzern zur Post. Um Mitternacht heute bin ich in Genua; ich werde am Ufer des Meeres sitzen und sehnsüchtig Ihrer harren. Avanti!

Brenken, der Himmel schütze Sie vor Thorheiten!
Ihr Leeden.“ 

Der ist verrückt! sagte ich, und in meinem Kopf wurde es plötzlich sehr, sehr ruhig. Nach einem Weilchen stand ich auf und machte mich ans Schreiben:

 „Lieber Leeden!
Ich meine, in Genua wird’s schon ein paar Tage allein auszuhalten sein; ich kann hier erst übermorgen abreisen, denn ich – hoffentlich ist es Ihnen nicht unangenehm – gedenke mein Pathenkind, eine junge Nichte von achtzehn Jahren, mitzubringen. Sie wird nicht stören, die Kleine; sie ist allerliebst. Sie muß sofort abreisen – na, das erzähle ich Ihnen, es sind das eben die Familienangelegenheiten. Bestellen Sie ein paar nette Zimmer im Gasthof! Ich telegraphiere, wann Sie uns empfangen können. Immer Ihr Brenken.“ 

Natürlich, sagte ich, während ich die Adresse schrieb, so wird’s gehen. Wofür ist man denn Onkel? Und schließlich kann ich mich doch nicht hierher setzen wie eine Gouvernante, um sie vor dem Radowitz zu schützen. Unterwegs werde ich ihr das in aller Ruhe klar machen; sie darf sich nicht Hals über Kopf in eine Ehe stürzen, nur um der Frau Großmama ein sorgenloses Dasein zu ermöglichen; sie muß dem ehestiftenden Einfluß dieser alten Dame unbedingt entzogen werden, auf längere Zeit und gründlich. Nach der Rückkehr aus Italien werde ich sie zu meiner Schwester bringen, und dort wird’s ja an Gelegenheit, eine Partie zu machen, nicht fehlen, wenn denn durchaus geheirathet werden soll.

Ich wunderte mich, während ich den Ueberzieher anzog, daß mir dieser Gedanke nicht schon früher gekommen war. Nein, mein bester Leeden, sagte ich und klopfte auf den Brief, den ich in meine Brusttasche gesteckt hatte, den Spaß mache ich Dir nicht, mich als Bräutigam vorzustellen! Da hinter den Ohren sitzen bereits einige graue Haare, na – Du sollst in mir den Onkel comme il fault kennenlernen. Etwas pedantisch vielleicht, etwas strenge, besonders gegen etwaige Freier – na – hm!

Ich ging hastig fort; ich wollte auf der Stelle mit Tante Klara sprechen. Ueberdies, es mußte ja schon spät sein, es war bereits ganz dämmerig geworden.

Aber nein, es war erst halb sechs Uhr, und um Sieben sollte ich kommen. Ich schlenderte mit meinem Brief nach der Post, ging dann nach einem kleinen Blumenladen und kaufte einen Kranz für Lenis Grab, und schließlich wanderte ich hinaus auf den Friedhof und legte das Gewinde der Epheublätter auf die Steinplatte, unter der sie schlief. Ja, ja, Leni. ich sorge für sie, dachte ich dabei, ich wache über sie, denn sie ist mein Kind, meine Tochter, sie soll nicht verkauft werden wie Du!

Es war wirklich Ruhe über mich gekommen, als ich das Brenkenhaus betrat. Dieser weiche Taumel, in dem mein Herz seit gestern schwamm, war verschwunden, mich hatte nur die Allgewalt der Erinnerungen gepackt und – diese Aehnlichkeit.

Gott sei Dank, Tante Klara saß allein in der Sofaecke! Weiter niemand da als die beiden Dachshunde auf der Ofenbank. In der Mitte des Zimmers stand schon der Tisch gedeckt auf der nämlichen Stelle wie früher, alles sehr zierlich und nett – eine Schüssel kalten Aufschnitts, grüne Petersilie darum, eine andere mit Salat; Tassen, Schinkenbrötchen – allerliebst! Es war auch ein wenig geheizt, und in der Ofenröhre summte der Messingkessel mit dem Theewasser.

Ich zog einen Stuhl zu Tante Klara hinüber und sagte vergnügt: „Hör’, Tante, ich habe ein Attentat auf Euch vor!“

Sie sah mich wehleidig lächelnd an. „Mein lieber Viktor, was denn?“

„Ich bin nämlich im Begriff, nach Italien zu reisen, Tante, und –“

„Du Glücklicher!“ seufzte sie.

„Und möchte mein Pathchen mitnehmen.“

Tante Klara setzte sich in die Sofaecke zurück, strich über ihr Shawltuch und räusperte sich; aus der Fensternische aber flog ein herzliches lautes Mädchenlachen herüber und Hella erschien hinter den weißen Musselinvorhängen.

„Du, Onkel, das ist eine Kateridee!“ rief sie, „zum Totlachen!“ Und in der That schien sie die Absicht zu haben, das letztere wahr zu machen, denn sie konnte sich kaum beruhigen.

Ich warf ihr einen wenig freundlichen Blick zu und wandte mich all die Tante. Aber diese flötete: „Ach, Viktor, dazu – nimm es mir nicht übel – Du bist zwar schon Stabsoffizier, aber dazu – dazu bist Du doch noch zu jung.“

Ich wollte auffahren, da trat sie herein, ein Körbchen mit Obst tragend, und in diesem Augenblick überkam mich ein unglaublich niederschmetterndes Gefühl, und das, was ich eben gewollt und so natürlich gefunden hatte, erschien mir selbst geradezu unmöglich. Nein, nein, schrie es in mir, sie ist weder Nichte noch Pathenkind, sie ist Leni, Leni, die Liebe meiner Jugend, der Traum meines Lebens – Leni, wie rette ich Dich, wie helfe ich Dir?

Bine hatte indes ihres Amtes als Wirthin gewaltet, so zierlich, so reizend, so ganz, wie ich es schon kannte von früher. Sie goß mir Thee ein, schnitt mir Brot und fragte, ob ich es hier nicht schon ganz gemüthlich fände. Und das liebe vertraute Gesicht lächelte mir zu und die rothen Lippen baten um Entschuldigung, daß nur ein so einfaches Essen aufgetragen sei. Dann blickten die klaren Augen die alte Dame an und senkten sich gleich darauf wie beschämt.

„Hör’ ’mal, Bine,“ begann das enfant terrible in meine Verwirrung hinein, „Onkel Viktor will Dich mitnehmen nach Italien.“

Sie lachte herzlich und unbefangen wie über einen köstlichen Spaß. Ich bückte mich nach meiner Serviette.

„Möchtest Du nicht, Binchen?“ fragte sehr langsam Tante Klara. Und ohne die Antwort abzuwarten, begann sie von dem Wunderlande zu sprechen und entwarf wahrhaft glühende Schilderungen, so daß selbst Hella ihre Teckel zu füttern vergaß, die, rechts und links von ihr sitzend, jeden Bissen zählten, der an ihnen vorüberging, und mit offenem Munde lauschte. Ich aber besann mich vergeblich, ob Tante Klara jemals dort gewesen sei; als ich sie endlich danach fragte, antwortete sie kurz: „Ja natürlich, wir waren doch auf der Hochzeitsreise da.“

Ich starrte sie an; so weit ich mich erinnerte, war diese [839] Reise nicht weiter gegangen als von Magdeburg, wo sie getraut worden war, bis nach Uelzen, wo ihr Mann damals stand. Ich schwieg aber; Tante Klara glaubte vielleicht, diese Reise wirklich gemacht zu haben. Warum ihre schönen Träume stören in Gegenwart der Enkelinnen!

Und die älteste Enkelin saß da und ihre lieben Augen blickten träumerisch in den dunklen Winkel des Zimmers, als sähe sie dort das wogende blaue Meer und die grüne Orangenwildniß, hinter der sich die kleine weiße Villa versteckte, in welcher die Großmama die süßeste Zeit ihres Lebens verträumt haben wollte.

„Und abends ruderte er mich beim Mondenschein aufs Meer hinaus, während aus dem Vesuv die rothen Flammen sprühten,“ schloß die Tante mit einem Seufzer, „es war wundervoll!“

Bines Gesicht war ganz rosig angehaucht, „Wie schön muß es gewesen sein, Großmama! Warum hat Mama nicht auch ihre Hochzeitsreise nach Italien gemacht?“ fragte sie leise.

Die alte Dame antwortete nicht, und Hella fiel ein, für ihren Theil müsse sie danken. Die Italiener seien geborene Thierquäler, und wenn sie auf Reisen gehe, so sei es nach Afrika – zu irgend einem Beduinenstamme, wo die Männer die Pferde so liebten wie ihre Frauen oder noch mehr. „Uebrigens habe ich gedacht,“ setzte sie hinzu, „es gebe Hasenbraten, Bine? Der alte ‚Knopp‘, der Radowitz, hat doch einen Lampe geschickt heute früh?“

„Hella!“ tadelte Tante Klara mit einem Blick zum Himmel empor.

„Na, er ist ja ganz ulkig, der Radowitz,“ plapperte sie weiter. „Wo ein anderer einen Blumenstrauß schickt, da schickt er einen Braten, und das ist ganz gescheit und den Umständen angemessen, nicht wahr, ihr Teckel? Onkel, hast Du Großmama auseinandergesetzt, daß die Hunde hier bleiben müssen, schon wegen der wilden Karnickel im Garten?“

„Ich bespreche nachher mit Deiner Großmama alles Nöthige – Du erlaubst doch, Tante? Vielleicht bald, wenn es Dir paßt?“

„Bine, räume den Tisch ab!“ befahl die alte Dame. „Hella!“ rief sie dann erregt „ich verbitte mir, daß die Hunde von unseren Tellern fressen!“

„Na, so appetitlich wie der Radowitz sind sie auch noch!“ antwortete das unartige Kind.

Es war wirklich unhöflich von mir, aber ich lachte laut auf.

„Du bist ihren Ungezogenheiten gegenüber ebenso nachsichtig wie ihr Vater,“ erklärte die Tante ärgerlich, mit einem Seitenblick auf Sabine, die eben der Thür zuschritt. „Schäme Dich, Hella, geh’ hinaus mit den Hunden – sofort!“

„Sehr gern, Großmama! Kommt – die Katz’ ist da!“ Mit einem wahren Höllenlärm verschwand das kecke Mädel und ihr bellendes Gefolge.

„Meine liebe Tante Klara,“ begann ich, als endlich auch Sabine sich leise mit den letzten Tellern entfernt hatte, „nun noch einiges über Deine Lage!“ Und ich machte ihr einige Vorschläge zu deren Verbesserung.

„Unmöglich, Viktor, das darf ich nicht annehmen!“ wehrte sie ab.

„Tante, Du hast um meine Hilfe gebeten und mußt sie Dir gefallen lassen, also erlaube, daß ich bestimme!“

Sie seufzte, und als ich endlich durch verschiedene Kunstgriffe ihr und den Mädchen ein einigermaßen erträgliches Dasein zu schaffen geglaubt hatte, seufzte sie abermals und brach dann in Thränen aus.

„Du bist ein guter Mensch, Viktor“ schluchzte sie, „was hast Du für ein goldenes Herz, wie glücklich hättest Du eine Familie gemacht! Ich werde es Dir ewig danken!“

„Nun aber verlange ich eine Gegenleistung, Tante.“

„Herr Gott Viktor, um alles in der Welt! Nein, wie Du so dasitzest und den Schnurrbart drehst – Du siehst aus wie ein Sekondelieutenant! Verlange nur das nicht, daß das Kind mit Dir nach Italien reisen soll, ich kann das nicht erlauben –“

„Beruhige Dich,“ sagte ich kühl, „Hella hatte recht – es war eine Kateridee!“

Sie sah mich an wie enttäuscht.

„Ich verlange nur von Dir, Tante, daß Du Herrn von Radowitz nicht etwa auch solche Komplimente sagst wie eben mir; er möchte es am Ende glauben und – ich würde ehrlich betrübt sein, wolltest Du eine Sache unterstützen, die den Keim des Verderbens bereits in sich trägt, Ich möchte das Kind nicht auch so unglücklich sehen wie einst – Du verstehst mich wohl?“

Sie wußte nicht, was sie antworten sollte, und fing von neuem an zu schluchzen. „Die Verhältnisse, Viktor, die 0 unglückseligen Verhältnisse! Wir können Dir doch nicht ewig zur Last sein, wenn ich auch vor der Hand, so während des Trauerjahres, Deine Güte annehme; aber dann –“

„Gut, so versprich mir wenigstens, während dieses Trauerjahres keinerlei Versuche zu machen, Sabine Bayer in eine Baronin Radowitz zu verwandeln!“

„Ach, Viktor, mein theurer alter Junge, wie gern! Hier meine Hand! Ach Gott, sie ist ja auch so jung, so reizend, so viel zu schade für – für – verlaß Dich auf mich, ich wache über sie, ich –“

„Gut, Tante! Und nun – Ihr werdet müde sein, ich will Euch verlassen, ich habe auch noch meine Rechnung im Gasthof zu bezahlen, denn ich reise heute nacht mit dem Zwölfuhrzuge.“

„Schon? O Gott, und ich glaubte, Dich einige Tage hier zu haben; Du hättest so schön hier wohnen können, Viktor. Wir würden alles gethan haben, Dir das Leben im Hause gemüthlich zu machen.“

„Schade, Tante,“ sagte ich kühl, „ich habe eine Verabredung.“

„Viktor, vielleicht besuchst Du uns zu Weihnachten?“

„Das wird nicht möglich sein, Tante; ich habe zwei Monate Urlaub – bedenke, ich komme erst kurz vor dem Feste zurück!“

„Nein, nein, mein Junge, ich nehme den Korb nicht an. Vielleicht zu meinem Geburtstag im April?“

„Wollen sehen, Tante. Leb’ wohl! Wo sind die Mädchen? – Na, laß nur ich werde schon rufen draußen!“ Diesmal, obgleich widerstrebend, küßte ich ihr die Hand, und sie drückte das Taschentuch vor die Augen.

Auf dem großen Hausflur draußen brannte wie zu jenen Zeiten, als Tante Klara noch mit Leni hier wohnte, eine kleine Oellampe auf einem Eckbrettchen und erhellte kaum nothdürftig den großen Raum. Niemand hier. In der Mitte des Vorsaals schützte ein altersbraunes Geländer von drei Seiten die Treppenanlage; linker Hand die letzte Thür war die zu Lenis Stube. Ich schritt hinüber und pochte an. Als sie noch hier wohnte. hatte ich es nie gewagt, ob ich gleich mit Herzklopfen das braune Getäfel der Thür anzuschauen pflegte. Heute war ich der Onkel, der Pathe, der kam, dem Kinde – ihrem Kinde – den der Mutter gelobten Schutz angedeihen zu lassen. Als nun aber eine klare Stimme „herein!“ rief, da überfiel mich das alte Herzklopfen, nur stärker und kopfverwirrender noch als damals.

„Wahrhaftig, Du bist ein ganz thörichter Kerl!“ raunte eine Stimme in mir. „Lauf’ davon oder – nimm Dich zusammen! Achtung, Brenken, reiß Dich los!“

„Ach, Onkel Viktor, willst Du schon gehen – abreisen?“ Sie hatte die Thür aufgemacht und stand vor mir. „Komm’ doch herein,“ bat sie und zog mich über die Schwelle mit dem süßen Vertrauen eines Kindes, das einem erwachsenen Menschen seine Herrlichkeiten zeigen will. „Sieh eben bin ich fertig geworden mit Einräumen, nur noch ein paar Bilder habe ich aufzuhängen. Onkel!“ bat sie, „es ist eigentlich ganz schrecklich unbescheiden – schlag’ mir den Nagel ein für Mamas Bild, hier hast Du Hammer und Nägel – bitte, bitte!“

Sie hatte mir beides in die Hand gegeben. „Wo soll es denn hängen?“ murmelte ich und riß meine Augen von ihr los.

„Hier, Onkel, in der Fensternische über dem Nähtischchen – ich leuchte Dir!“

Ich setzte den Nagel in der angegebenen Höhe an die Wand, hob den Hammer und – schlug mich unbarmherzig auf die Finger; natürlich, mir flimmerte es ja in allen Farben vor den Augen – ich sah eben nichts, nichts als sie.

„Onkel, um Gotteswillen!“ rief sie, und im Nu stand die Lampe auf dem Tisch und sie hatte meine Hand ergriffen. Ich fühlte, wie die ihrige zittert. „Mein Gott, wie kindisch, das von Dir zu verlangen!“ schalt sie sich. Nun tauchte sie ein Taschentuch in kühles Wasser und wand es um die schmerzenden Finger, und ich fühlte doch kaum das Brennen der kleinen Verletzung. Dann lief sie hinaus – sie hatte etwas von Arnika gesprochen – und ich saß auf dem altmodischen kleinen Diwan, auf dem Leni einst gesessen hatte, und starrte zu dem uralten Bett hinüber und zu der Kommode, dem Spiegel, an dem eine [840] kleine Schleife befestigt war, wie man sie beim Kotillon bekommt, roth und blau – die Regimentsfarben!

Wieder packten sie mich, die alten Schmerzen, und dazu gesellte sich ein neues berauschendes Hoffen.

Ich sprang empor. „Brenken, der Himmel schütze Sie vor Thorheiten!“ Die Worte, die ich vorhin gelesen hatte, tönten mir ins Ohr. Festen Schrittes verließ ich die Stube und nahm mir in der Nähe des Lämpchens Hut und Ueberzieher. Drunten im Hausflur traf ich Bine, sie kam aus dem Zimmer der alten Mutter Buschen, mit einem Fläschchen in der Hand.

„Es hat so lange gedauert!“ sagte sie, „aber oll Mutter Buschen ist schon ein bißchen umständlich, sie hat Tropfen für Tropfen aus einer der großen Flaschen gegossen in der noch die Arnikablüthen umherschwimmen. Du willst fort? Bitte, Onkel, nimm es mit, Dein Diener kann Dir ja leicht den Finger verbinden!“

„Leb’ wohl, Leni,“ sagte ich, das Fläschchen mechanisch in die Tasche meines Ueberziehers steckend, „leb’ wohl, und auf Wiedersehen!“

„Leb’ wohl, lieber Onkel!“ Ihre schlanken Arme hoben sich und legten sich um meinen Hals, und in dem dürftigen Schein des Lichtes sah ich ihr Gesicht vor mir, dicht vor mir die lieben, von schwarzen Wimpern umrahmten Augen, diese rothen, kindlich schön geformten Lippen. – Ach, sie wußte nicht, was sie heraufbeschwor in diesem Augenblick! „Grüße Italien, Onkel, und hab’ Dank für alle Deine Güte, Du lieber, lieber –“

Das „Onkel“ erstickte in dem Kuß, den meine Lippen leidenschaftlich auf die ihrigen preßten, Ich ließ sie hastig, fast erschreckt frei; einen Augenblick sah ich noch ihr rosiges halb verlegenes, halb staunendes Gesicht, dann stürmte ich hinaus.

Gottlob, herbe kalte Luft für meine heiße Stirn, Luft für meine gepreßte Brust – ich konnte frei athmen. Ich schritt in der dem Gasthof entgegengesetzten Richtung davon und nach einer Stunde eiligen Gehens fand ich mich doch wieder vor dem alten Hause. Nirgends mehr Licht, obgleich es kaum neun Uhr war; aber ihr Zimmer lag ja nach dem Garten zu, und – –

„Guten Abend, Onkel! Freut mich, daß ich Dir noch Lebewohl sagen kann,“ tönte eine frische Stimme an mein Ohr.

Unangenehm überrascht fuhr ich herum – natürlich Hella, im Gefolge von „Donnerwetter“ und „Parapluie“.

„Um alles in der Welt, wie kommst Du denn heute abend noch auf die Gasse?“

„Ich war beim Wachtmeister, wegen des Ausreitens,“ sagte sie.

„So?“

„Ja! Du hast mir doch zehn Mark geschenkt, Onkel, und die Gärtnerfrau borgt mir den ‚Hans‘ für fünfzig Pfennig die Stunde.“

„Aha!“

„Du gehst wirklich heute nacht, Onkel?“

„Ja, um zwölf Uhr.“

„Und vorläufig allein!“ kicherte sie. „Nein, Onkel, bist Du ein drolliger kleiner Mensch, daß Du so gar nichts merkst!“

Was wollte sie denn? Aergerlich wandte ich mich um; sollte diese kleine Kröte die Manöver der Frau Großmama richtig durchschaut haben? „Ich merke nie etwas, Hella,“ sagte ich trocken. „Aber nun gute Nacht! Schlafe schön!“

„Na, warte doch ’mal, Onkel, ich muß mich doch bei Dir revanchieren, Du hast mir ja die Teckel gerettet! Darf ich?“ Sie nahm meinen Arm und pfiff den Hunden. „Ich werde Dich nach Hause begleiten, Onkelchen, komm’, und unterwegs erzähle ich Dir etwas und zuletzt gebe ich Dir noch einen guten Rath, mein lieber kleiner Onkel. Also hör’ zu!“

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aus: Die Gartenlaube 1893, Heft 51, S. 857–860

[857] Hella ging einige Schritte schweigend neben mir her, dann begann sie: „Was fürchtest Du denn, Onkel? Das alte Kamel, der Radowitz, ist ja gar nicht gefährlich; Du kannst ganz ruhig abreisen, denn den hat Bine längst abfallen lassen – aber gründlich! Zum Totlachen war es. Ich bin nämlich dabei gewesen. Der weiß genau, wie er mit Bine dran ist, und wenn er jetzt noch manchmal ’nen Hasenbraten schickt, so ist das nur so ein Gethue, damit die Leute nicht gleich merken, daß er seinen Korb schon nach Hause getragen hat.“

„So, so! Weiß das Großmama?“

„Nein! Ist auch gar nicht nöthig, daß sie es erfährt. Sie quält Bine so schon genug, und wenn ihr obendrein so eine Spielpuppe für ihre Gedanken fehlen würde, dann wäre sie ganz grimmiger Laune und kein Auskommen mehr mit ihr. Jetzt, seit Du aufgetaucht bist, na da hat sie ja zwei solcher Püppchen.“

„Hella!“

„Na, Onkel, thu’ man nicht so! Oder solltest Du wirklich nichts – – dann erhalte Dir Gott Deine Harmlosigkeit! Ich kann Dir nur sagen, Du wirst jetzt ebenso als Butzemann gebraucht gegen Radowitz, wie der Radowitz als Butzemann Dir gegenüber. Aber sei ruhig, Onkel, Du bist im Vortheil!“

„Hör’ ’mal, Du verrücktes Mädel, was schwatzt Du denn da zusammen?“ schalt ich. „Du machst Dir einen ganzen Roman in Deinem thörichten Kopf zurecht. Geh’ nach Hause, leg’ Dich ins Bett und schlafe, und morgen früh nimm ein Buch vor die Nase und lerne Deine englischen Vokabeln, Du naseweiseste Kreatur, die je bei nachtschlafender Zeit über das Wardelinger Pflaster gegangen ist!“

„Goldonkel,“ lachte sie, „ich kann doch nichts dafür, daß ich nicht auf den Kopf gefallen bin! Wenn Du solche Augen machst gegen die Bine und so ein netter Kerl bist – –“

„Hella!“

[858] „Nein wirklich, Onkel, sei mir gut; Du hast die meisten Chancen, auf Ehre! Und nun gute Nacht – leb’ wohl, reise glücklich! Der Radowitz ist nur eine Spatzenscheuche – gute Nacht!“

Sie war schon ein Ende fort. „Gute Nacht, Onkel!“ rief sie knixend herüber, „der ist ungefährlich, und andere Leute erst recht – Du lieber Gott! He, ihr Gesellen!“ Dann der bekannte Pfiff.

„Hella,“ rief ich, „so warte doch!“ Aber sie war fortgestürmt, und ich stand allein auf der einsamen dunklen Gasse.

„Andere Leute?“ wiederholte ich, „Also noch einer? Das konnte nur das müßte – der mit dem Ebereschenzweig? Unsinn! Lieber Gott, ein armer, ganz armer Junge und sie!“ Wie kam ich nur auf den? Lächerlich! Da malte mir meine aufgeregte Phantasie etwas vor!

Ueber Hals und Kopf ließ ich von Böhme einpacken und verschmähte sogar den klappernden Gasthofwagen nicht, um nur so rasch als möglich dem Wardelinger Zauber zu entfliehen. Andere Luft, das Wort eines vernünftigen Menschen, der meinen armen Kopf zurechtrücken könnte. Hunderte von Meilen zwischen ihr und mir, die Fremde mit ihren Wundern, andere Umgebung! Hinaus so rasch als möglich!

Ich athmete auf, als ich im Bahnwagen saß und der Zug dahin raste. Silberweiß lag der Mondschein über der Gegend, und hinter dem dunklen Walde verschwanden eben die Kirchthürme von Wardelingen.

Gott sei Dank! Nun mußte ja Frieden und Ruhe wieder über mich kommen! Und ganz mechanisch nahm ich meine Paßkarte aus der Tasche: „Alter: zweiundvierzig Jahre. Stand: Major.“


Ich saß mit Leeden auf der Terrasse des Hotels Viktoria in Sorrent. Wir sprachen kein Wort; er war nie für vieles Reden gewesen und ich – ich sprach eigentlich nur noch mit mir selber. Drunten wogte das Meer in tiefer herrlicher Bläue; die Inseln schwammen in zartgrauem Nebel, und in violettem Duft erhob sich zu dem stahlblauen Himmel der Vesuv, am Saume seines Kleides mit hellschimmernden, von der Abendsonne beleuchteten Punkten wie mit Edelgestein besät – Portici, Torre dell’ Annunziata. Unter den Orangenbäumen unseres Hotelgartens spazierten die unvermeidlichen Engländer, und jungvermählte deutsche Ehepaare saßen in den Lauben umher und sahen und hörten nichts von den Wundern der Natur. Uns alle aber umwogte der berauschende Orangenduft des Südens, dieser Duft, der mich immer traurig machte seit dem Tage, an dem ich die Ehre hatte, als Lenis Brautführer ihren Strauß halten zu dürfen.

Ich hatte Ruhe und Frieden nicht gefunden. Ueberall, überall folgte sie mir, Sabines liebe leichte Mädchengestalt, überall blickten mir diese Augen entgegen, aus den Bildern der Museen, aus den Gesichtern der schönen Italienerinnen. Ich liebte mein Pathenkind, Lenis Kind, und mein Herz und mein Verstand lagen im erbitterten Kampfe miteinander seit jenem Abend, da sie mir mit den Zügen meiner Jugendliebe entgegengetreten war, und ich fühlte mit wahrer Todesangst, daß der Verstand unterlag.

„Toller Kerl! Einfach verrückt!“ murmelte Leeden, als ich aufstand und erklärte, ich wolle noch einen Brief schreiben, ohne daran zu denken, daß ich diese Komödie jeden Tag einmal aufzuführen pflegte und doch niemals einen Brief absandte. Ich ging trotzdem in meine Stube, aber ich machte heute gar nicht einmal den Versuch, zu schreiben; ich hätte den Brief doch wieder zerrissen wie die anderen alle. Mochte immerhin die Tischglocke läuten; ich hatte keinerlei Lust, diese bunt zusammengewürfelte Gesellschaft schwatzen zu hören. Ich hatte Heimweh, krankhaftes Heimweh nach der kleinen häßlichen Stadt im Norden, die jetzt im Novembernebel lag.

Nach Tische kam Leeden. Es war dunkel in meinem Zimmer, nur der große brennende Holzklotz im Kamin verbreitete einen röthlich flackernden Schimmer.

„Aber, Brenken,“ sagte er vorwurfsvoll und sanft, „so kann’s doch nicht weiter gehen!“ Er zündete seine Cigarette an dem Holzfeuer an und setzte sich mir gegenüber an das Fenster.

„Nein, so, kann’s nicht weiter gehen,“ gab ich kleinlaut zu, „ich fühle, ich halte es nicht mehr lange aus.“

„Na, da reden Sie wenigstens ’mal über Ihren Kummer! Lieber Gott, Sie kennen mich nun schon drei Ewigkeiten – was ist’s denn nur eigentlich?“

Es war ja bald gesagt: daß ich die Leni geliebt als junger Kerl, daß ich ihr nachgetrauert bis jetzt und daß mir da auf einmal ihre Tochter, die sie mir selbst ans Herz gelegt, entgegentrat und daß die alte Liebe wieder lebendig geworden ist, so furchtbar lebendig und – na, mit einem Worte – –

Er hatte mich mit keiner Silbe unterbrochen, und als ich endete mit dem Schlußsatze: „Sehen Sie, Leeden, ich weiß nicht, ob es recht ist, die Hand nach diesem Kinde auszustrecken, weiß nicht, ob ich noch fähig bin, ein so junges Ding glücklich zu machen. Denn so hat’s meine Cousine wohl nicht gemeint, als sie mich bat, ihrem Kinde ein Schutz zu sein.“

„Wissen Sie, Brenken,“ sagte er da einfach und zündete eine neue Cigarette an, „ich habe keine Tochter, aber ich habe eine junge Schwester, die ich über alles liebe. Und wenn Sie heute kämen, Brenken, und sagten: ‚Leeden, geben Sie mir die kleine Leonie zur Frau!‘ ich faßte das Mädel an der Hand und brächte sie Ihnen, nota bene, wenn auch sie es wollte. Ich für meinen Theil wüßte keinen, dem ich lieber ein theures Wesen anvertraute als Ihnen.“

„Na, na, Leeden,“ wehrte ich ganz gerührt seinem Lobe. Aber er hatte mir die Hände auf die Schulter gelegt.

„Sie wissen ja, Brenken, Redensarten mache ich nicht, und es ist lächerlich, wenn Sie vom Alter reden oder dergleichen. Ich will Ihnen einen Rath geben: quälen Sie sich nicht länger, schreiben Sie ihr – je eher je besser – warten Sie ihre Antwort in Italien ab, in Rom oder Pisa, und wenn ein Ja kommt, so lassen Sie Venedig im Stich und reisen nach Deutschland zurück. Dieser Liebesdusel, diese Zweifel – das ist ja rein, um den Menschen elend zu machen!“

„Und wenn sie Nein sagt, Leeden?“

„Ach, nur keine Witze! Was wird sie Nein sagen! Ich bitte Sie, Brenken, so einem armen jungen bedrückten Herzen muß es ja sein, als gehe die Sonne überhaupt erst auf, wenn sich eine Hand wie die Ihrige nach ihm ausstreckt! Seien Sie kein Hasenfuß Brenken, schreiben Sie ihr, oder schreiben Sie der famosen Großmama! Weiß Gott, ich bin keiner von denen, die den Leuten zum Heirathen zureden – aber hier, wie Sie mir das alles erzählt haben – schreiben Sie, schreiben Sie, Brenken!“

„Ich will schreiben,“ sagte ich entschlossen.

„Gut! Wir machen nachher noch einen Spaziergang und tragen den Brief zur Post. Fassen Sie sich kurz und thun Sie nicht, als ob man Ihnen eine unverdiente überschwängliche Gnade erweise, wenn man Sie erhört!“

„Wieso denn?“ fragte ich, mit meinen Gedanken schon in Wardelingen, und zündete die Lichter auf dem Kamin an.

„Darin versehen es eben die meisten,“ erklärte er, als ob er täglich solche Erfahrungen machte, „und hinterher wundert sich dann so ein kleines Mädchen, wenn man im Drange des alltäglichen Lebens ’mal vergißt, ihr pflichtschuldigst die Füßchen zu küssen, die herabgestiegen sind, um neben uns zu wandeln. Ich denke, das Geben und Nehmen wäre gegenseitig bei so einer Geschichte. Alle Wetter, ja, das denke ich! Und nun schreiben Sie, Brenken, schreiben Sie!“

Er ging und ich schrieb.

Ich hatte an Bine einen Brief begonnen, aber die Feder stockte auf dem glatten Papier, es war mir nicht möglich, ihn zu vollenden. Es kam mir, trotz Leedens Ermuthigung, wahnsinnig unbescheiden vor, ihr Herz für mich zu fordern.

Als er nach einer geschlagenen Stunde wieder hereintrat, hatte ich an Tante Klara geschrieben, vier Seiten, Gott weiß was alles; von Leni, von Bine, von mir und meiner Sehnsucht, von der alten nie vergessenen Liebe – und da ich es überlas, riß ich das Papier mitten durch und warf es verzweifelt in den Ofen. Was brauchte die alte Frau zu wissen von Lenis und meinem Geschick, von unserem Kämpfen und Entsagen! Nur einer durfte ich davon sprechen, nur ihr.

Leeden sah mich mitleidig ein, als ich mich muthlos wieder an den Tisch setzte und mir die Stirn mit dem Taschentuch abtrocknete. „’s ist eine heikle Sache.“ bemerkte er trocken; „aber immer noch besser, als wenn man unmittelbar solchen Augen gegenüber anfängt, zu stammeln. Ich gehe draußen noch ein paarmal auf und ab – machen Sie es doch ja recht kurz! Nichts klingt schneidiger als so ein paar Sätze im Telegrammstil, ‚Liebe Sabine – ich liebe Dich. Mein Herz, meinen Namen, alles, [859] was ich besitze, lege ich Dir zu Füßen und bitte um Antwort, aber bald!‘ So ungefähr würd’ ich’s machen.“

„Ja, ja, so ungefähr – Sie haben recht, Leeden.“

Er nickte mir mit seinem ernsten treuen Gesichte zu und ging. Und wahrhaftig, ich schrieb so ähnlich – kurz, sachlich, knapp.

„Ich liebe Dich, kleine liebe Sabine! Sage mir, ob Du mich wieder liebst, so sehr, daß Du meine geliebte Frau werden könntest! Mein Lebtag will ich Dir zugethan sein mit treuer inniger Dankbarkeit.“

So ungefähr, ein bißchen mehr vielleicht. Antwort erbat ich nach Pisa, Grand Hotel, wo wir über acht Tage eintreffen würden.

Meine Knie zitterten, als ich, das fertige Schreiben in der Hand, die Stufen zum Garten hinabstieg. Es war mittlerweile ganz dunkel geworden; aber die Luft war südlich mild und voll Orangenduft. Leeden spazierte allein auf und ab, und seine an die Dunkelheit gewöhnten Augen ersahen den Brief in meiner Hand. Er nahm ihn mir einfach fort und übergab ihn dem Portier, der wie hingezaubert hinter ihm auftauchte. „Gleich zur Post!“

Der Mann verschwand mit Windeseile, mir aber klopfte das Herz bis in die Kehle herauf.

„Jetzt sollten Sie etwas essen,“ sagte Leeden. „Für Menschen, die aus Freiersfüßen gehen, müssen andere ein wenig sorgen, sie verhungern sonst. Kommen Sie, wir stoßen an auf glückliche Erfüllung Ihrer Hoffnungen!“

Er nahm mich am Arm und zog mich in den Speisesaal, suchte ein paar Gerichte für mich aus und bestellte Wein. Wie eine Mutter für ihr krankes Kind sorgte er für mich, und bei Gott, ich hatte es nöthig während der acht Tage, die nun folgten. Diese Stimmungen zu beschreiben – ich werde mich hüten; von Italien sah ich aber eigentlich nichts.

„Verliebte Menschen sollten zu Hause bleiben und ihre vier Wände anseufzen,“ sagte Leeden verzweifelt, wenn er mich ohne Erfolg auf irgend etwas Schönes aufmerksam gemacht hatte, „ich wollte, diese Reise wäre überstanden.“

„Ich auch!“ gab ich ehrlich zu und dachte an die lieben Mädchenaugen und wie sie sehnsüchtig aufgeleuchtet hatten, als Tante Klara von Italien sprach. Was half mir alle Herrlichkeit, wenn dies Leuchten sie nicht verschönerte! Auf Capri entdeckte ich aber doch etwas, das mich fesselte – eine kleine Villa, ganz versteckt hinter hohen Mauern. Palmenüberschattet das Dach, und üppige Rebengewinde schmückten Altan und Thür.

„Was haben Sie denn an dem alten Gerümpel zu sehen?“ fragte Leeden, der endlich ungeduldig wurde, als ich wie angewurzelt verharrte.

„Nichts!“ antwortete ich, und im stillen nahm ich mir vor, dieses Idyll für einige Zeit zu miethen, dann, wann ich wiederkehren würde, nicht allein – –

In Neapel kaufte ich allerlei Plunder zusammen aus Lava, Schildkrot, Korallen, in Rom verstieg ich mich sogar in einen Juwelierladen und erstand um hohen Preis eine Armspange, die einem antikem Modell nachgebildet war. Ich sah das zierliche Handgelenk, das sie umspannen würde. Im übrigen ließ ich mich geduldig in Kirchen und Paläste schleppen und dachte doch nur an den Eisenbahnzug, dessen Postwagen mein Geschick mir entgegentrug in Gestalt eines kleinen beschriebenen Blattes Papier. Er mußte schon abgesendet sein, der Brief, der über mich entschied. Morgen nachmittag wollten wir ja Rom verlassen, am Abend trafen wir in Pisa ein, und übermorgen früh würde ich alles wissen.

„Gehen wir ins Theater heute abend?“ unterbrach Leeden meinen Gedankengang.

„Ja, ist mir recht!“

„Nachher vielleicht in das deutsche Bierlokal am Korso?“

„Ist mir recht!“

„Schön – da werde ich die Karten besorgen.“

„Wie Sie denken!“

„Herr Gott, ich danke Dir, daß ich nicht bin wie jener!“ murmelte Leeden. „Ein Fähnrich könnt’s nicht toller treiben. Fassen Sie sich doch ein bißchen!“ redete er mir zu. „Entweder kommt ein Ja ober ein Nein – weiter kann nichts geschehen. Das Letztere halte ich übrigens für unmöglich! Es ist ja recht gut, wenn der Mensch bescheiden ist, aber dies ist doch schon mehr Kleinheitswahn. Das Mädel ist wahrscheinlich deckenhoch gesprungen vor Glück, und Sie lassen den Kopf hängen!“

Ich antwortete nicht; was wußte er von dem Toben in mir, was von dem Räthsel eines Frauenherzens, die gute treue einfache Seele! Sie würde Nein sagen, Nein – es war ja nicht anders möglich! Sie kannte mich ja kaum! Ich freilich, ich kannte sie! Ober hatte Leni ihrem Kinde die Liebe für mich in das kleine Herz gepflanzt? O Leni, Leni, wenn es so wäre!

Ich befand mich im Fieber, war völlig elend und dabei von einer nervösen Unruhe, die mich noch mehr folterte als meinen Begleiter. Ach, diese erstickende Luft im Theater, diese Parfüms, die aus Fächern und Roben der Damen wehten, kaum zu ertragen!

„Rigoletto“ wurde gegeben. „Donna é mobile“, „die Frauen sind veränderlich“ – diese Worte verfolgten mich nach Hause, bis in den kurzen Schlummer, den ich endlich gegen Morgen fand.

Dann dehnten sich noch ewig die Stunden bis zur Abreise, und dann – endlich setzte sich der Zug in Bewegung. Wir flogen durch die Campagna, die Berge hinter uns versanken, zum letzten Male grüßte Sankt Peter, von der Dezembersonne vergoldet. Wie endlos war die Fahrt!

„Na, aber heute können Sie noch keinen Brief vorfinden, Brenken,“ ermahnte der Freund.

„Sicher nicht!“ gab ich zu.

Bei völliger Dunkelheit kamen wir im Pisa an. Der Hotelomnibus nahm uns auf, und wir rasselten über das Pflaster durch einsame, schlecht erleuchtete Straßen. Dann hielten wir vor dem Gasthof.

„Briefe da?“ fragte ich scheinbar nachlässig.

„Si, Signore – zwei Stück!“

Ich streckte die Hand aus und dabei fühlte ich eine Kälte, die mich erzittern ließ. „Aus Wardelingen !“ sagte ich mit eigenthümlich schwerer Zunge.

Leeden faßte mich unter den Arm. „Die lesen wir oben, kommen Sie – wir essen später!“

Er ließ mich in unserem Zimmer allein, und da saß ich nun beim Schein von zwei hohen eben angebrannten Kerzen und starrte die Briefe an. Der eine trug Tante Klaras Handschrift, der andere – es war nicht die ihrige – so flüchtig, so eckig, so – –

„Zuerst Tante Klaras Brief!“ flüsterte ich; ich war plötzlich ganz ruhig geworden. Die Tante schreibt ab! Lieber Gott, es war ja auch ein toller Gedanke von mir! Ja, ja, sie schreibt ab; sie wird den Onkel nicht wollen, die Kleine – diesen alten eingebildeten Menschen!

Das Blatt zitterte so in meiner Hand, daß ich nicht lesen konnte. Ich legte es daher auf den Tisch und beugte mich darüber.

„Mein lieber Viktor, mein Herzensjunge! Ich schreibe Dir nur kurz, wir sind noch alle so fassungslos, so erregt von dem Glück, das Dein Brief in unser armes Haus gebracht hat. Sabine wird Dir morgen antworten; sie hat mich beauftragt, Dir zu sagen, daß sie Dir gern ihr junges Herz zu eigen giebt, daß sie Dich liebt.

Wie herrlich führt Gott alles hinaus! Wer hätte das gedacht nach so trüben Zeiten! Ich freilich, ich hab’s kommen sehen. Mein lieber Viktor, der Himmel segne Dich und Deine junge Braut!

Deine getreue Tante und Großmama in spe 
  Klara von Brenken.“ 

Ich legte mich in die Sofaecke zurück, die ganze Stube drehte sich mit mir. Sie liebt mich, sie ist mein! Weiter dachte ich nichts. Dann sprang ich auf, riß dabei die Tischdecke herunter samt den Lichtern, die im Fallen verlöschten, und öffnete das Fenster. Es war mir, als müßte ich ersticken. Von drunten drang das Rauschen des Flusses herauf. Gottlob, daß er so schäumte und brauste, der alte Arno – so hörte doch Leeden, der eben eintrat, das Schluchzen nicht, in dem die Spannung der letzten Tage und jahrelanges Leid sich löste. „Ach Leni, Leni, wie glückselig machst Du mich durch Dein Kind!“

Dann legte sich eine Hand auf meine Schulter. „Brenken!“

Ich packte diese Hand und schüttelte sie wohl eine Minute lang; sprechen konnte ich nicht.

„Ich wünsche Ihnen aufrichtig Glück, lieber Brenken!“

„Danke, danke Ihnen, Leeden, und auch dafür, daß Sie so eine Pferdegeduld mit mir hatten! Es war ein Freundschaftsstück, ich werde es nie vergessen.“

„Ja, ja,“ gab er ehrlich zu. „Und wie pünktlich die Antwort da ist! Hätte es kaum für möglich gehalten. Nun geht's wohl heim mit Windeseile? Was?“

„Morgen, Leeden, morgen!“

[860] „Heute wär’s auch nicht mehr möglich,“ meinte er trocken. „Kommen Sie heraus aus der Dunkelheit, lassen Sie sich ansehen! – Ja, wer hat denn nun recht gehabt, he?“

„Sie natürlich! Sie, mein lieber Leeden!“

„Haben Sie beide Briefe schon gelesen?“ fragte er, das Schreiben und die Leuchter vom Boden aufhebend und die Lichter aufs neue anzündend.

„Herr Gott, nein! Geben Sie doch!“

Ich riß den Umschlag des Briefes auf und sah nach der Unterschrift – Hella! Was hat denn die mitzureden? dachte ich. Da stand in großer eckiger Schrift:

 „Lieber Onkel!
Ich hoffe, ich thue Dir einen Gefallen, wenn ich Dir in aller Kürze Deinen Verlobungstag beschreibe. Sehr herrlich war er nicht aufgegangen, es regnete und ist überhaupt gar nicht hell geworden. Dazu hatte Großmutter Migräne und sah sehr gelb aus wie eine von den Orangen, die Du uns aus Genua geschickt hast. Sie hatte ihren türkischen Shawl um und war geradezu unausstehlich (Du kennst sie ja von früher her!), betrug sich auch sehr unartig gegen die arme Bine. Ich hoffe, Du sorgst dafür, daß das künftig nicht mehr vorkommen kann – auch mir gegenüber muß sie artig sein! Beim Mittagessen bekam Bine Deinen Brief und wurde so blaß wie das Tischtuch und hat gezittert, das arme Thierchen. Dann hat Großmama ihr den Brief weggenommen, und als sie ihn gelesen hatte, rief sie: ,Mein Engel, mein Herzenskind!‘ und fiel Bine um den Hals und küßte sie immerfort, ich konnte es kaum mit ansehen. Dann habe ich natürlich gefragt, was da los sei, und da hat Großmama gesagt, Du hättest Dich mit Bine verlobt, und hat sie wieder geküßt, und die Bine hat eine ganz richtige Ohnmacht bekommen, und wir haben sie in ihr Stübchen gebracht, und Großmutter hat gethan, als wäre Bine von Zucker, so hat sie sie abgeleckt.

Mich hat sie aus der Stube geschickt, weil die Teckel mitgelaufen waren; ich durfte erst vorhin wieder hinein zu Bine und habe ihr Glück gewünscht, und da hat sie mir die Hand gedrückt, Sie soll ganz still liegen, sagt der Doktor, und heute nicht schreiben, denn ihre Nerven sollen sich erst wieder beruhigen. Es scheint eine angreifende Geschichte zu sein, das Verloben!

Sie läßt Dir sagen, sie würde Dir morgen für alles danken; verstehe mich aber nicht falsch, sie meint für Deine Liebe! Sie will Dich natürlich heirathen, sie sagte es zu Großmama – es wird ihr nur so schwer, zu schreiben. Mutter Buschen heult vor Freude. Und gerade in der Dämmerstunde kam das Kamel, der Radowitz, vorgefahren, und da hätte ich mir zu gern den Spaß gemacht, ihm zu erzählen, warum ihn Großmama nicht zu empfangen vermöge. Na, ich kann mir sein Gesicht vorstellen, wenn er es erfahren wird; ungefähr so, wie Busch die Gesichter malt. Du kennst wohl die Sachen von Busch, lieber Onkel?

Ich reite den ,Hans‘ alle Tage und hoffe, wenn ich Euch einmal besuche, wirst Du ein anständiges Pferd für mich haben.
Schönsten Gruß von 
     Deiner Hella.“ 

„Nun, doch nichts Schlimmes?“ fragte Leeden.

„Sabine scheint sich sehr aufgeregt zu haben; sie ist leidend, wie mir die Kleine schreibt,“ antwortete ich beunruhigt.

„Das ist, scheint’s, immer so,“ meinte er, „die heutigen Nerven! Aber kommen Sie, Brenken, ich bin teufelsmäßig hungrig!“

Ich folgte ihm nachdenklich. Meine arme kleine süße Bine!

Und nun goß der alte ehrliche Kamerad die Gläser voll. „Auf Euer Glück!“ sagte er einfach, und wir leerten die Kelche bis auf den letzten Tropfen.

Dann sah ich allein noch lange, lange in die Nacht hinaus, hörte den Fluß rauschen und dachte an das kleine Stübchen im Brenkenhause bis eine bleierne Müdigkeit mich aufs Lager warf. Und ich schlief, bis Leeden mich weckte.

„Schöner Bräutigam, verschläft die Abreise!“

Mit knapper Noth erreichten wir noch den Zug.

*               *
*

Ich bin keiner von den Ungeduldigen, aber diese Reise hätte jedes Lamm zum Tiger gemacht, Schon in Mailand hörten wir von Schneeverwehungen und Lawinen auf der Gotthardbahn. Wir fuhren aber ab und blieben zwei Tage, sage zwei Tage, in Bellinzona liegen. Ich hatte bereits von Pisa aus an Bine telegraphiert, daß ich in kürzester Zeit eintreffen würde, in so kurzer Zeit, als man eben braucht, wenn man ohne Unterbrechung reist. Nun telegraphierte ich, wir würden eine kleine Verspätung haben; man hatte uns nämlich bestimmt versprochen, daß die Bahn in wenigen Stunden wieder fahrbar sein werde. Aber, siehe da – eben wollten wir uns nach dem Bahnhof begeben, da kam die Kunde von einem neuen Schneesturm und wir saßen wieder fest. Auf meine telegraphische Anfrage, wie es Sabine gehe, kam die Nachricht „Gut!“ Sehr kurz, mehr als telegrammmäßig, aber deutlich. Ich lief im Hotelzimmer wie ein gefangener Löwe im Käfig umher und braute mir die schwärzesten Möglichkeiten zusammen. Leeden hatte die Nase in eine Zeitung gesteckt, hob nur manchmal den Kopf und sah mich an, wie man einen Kranken betrachtet. „Einfach verrückt!“ murmelte er.

Ich sah es natürlich in jenen Tagen nicht ein; heute glaube ich, er hatte recht. Oder doch nicht? Ich war nicht einfach verrückt, ich war einfach glücklich und – ungeduldig. Ich hatte ja lange, so furchtbar lange auf mein Glück warten müssen, nun dünkte mich diese kurze Verzögerung unerträglich. Es sollte wohl so sein.

Die Hindernisse waren just in dem Augenblick beseitigt, als ich mich fest entschlossen hatte, über den Brenner zu reisen, und wir kamen endlich vom Fleck. Eine Stunde nach der andern verging, eine Station nach der andern ließen wir hinter uns, deutsche Laute klangen uns wieder ins Ohr, wir sausten die schwindelnden Alpenhänge hinunter und kamen nach Zürich. In Frankfurt verließ mich Leeden; ich glaube, ich war ihm mittlerweile so langweilig geworden, daß er eine Geschichte erfand, die Geschichte von einer Tante, die in der Nähe von Frankfurt leben sollte. Es war das erste Mal, daß ich’s von ihm hörte, aber ich nahm ihm die Tante nicht übel. Ich saß am liebsten allein im Coupé, las Tante Klaras Brief mit immer gleicher Rührung und fühlte dann und wann nach dem Etui in der Tasche meines Pelzes, dem Etui mit dem Armband.

Wir kamen durch Thüringen, wir kamen nach Magdeburg, und dann raste der Zug mit mir durch die liebe verschneite märkische Landschaft. Ich befand mich in einem fieberhaften Zustand. Ich habe nie gern Gedichte gelesen, besonders Liebesgedichte nicht, und als eines der überschwänglichsten hatte ich stets die Uhlandsche „Heimkehr“ angesehen.

„O brich nicht, Steg! du zitterst sehr,
O stürz’ nicht, Fels! du dräuest schwer,
Welt, geh’ nicht unter, Himmel, fall’ nicht ein,
Eh’ ich mag bei der Liebsten sein!“

Ich bat dem Dichter diese Geringschätzung ab, mir war ungefähr so zu Muthe.

Es dunkelte bereits, als ich in Wardelingen anlangte. Ob ich mir eingebildet hatte, sie würde dastehen, mich zu empfangen? Nein, es wäre gegen alles Zartgefühl gewesen, so vor den Leuten auf dem Bahnhof. Oder giebt’s Ahnungen? Es überfiel mich plötzlich eine herzbeklemmende Stimmung.

Natürlich wollte ich vor allem erst in den Gasthof, die Spuren der langen Reise zu verwischen, und dann – –

„Guten Abend, Onkel!“ sagte eine Stimme, und ein schwarzer kleiner Köter, der mir vor den Beinen herumlief, brachte mich in meiner Hast beinah zu Falle.

„Hella, Du? Guten Tag!“

Ich preßte ihr die Hand. „Liebes Kind,“ sagte ich, dem Wagen zuschreitend. „ich will erst in den Gasthof, um ein wenig Toilette zu machen. Um acht Uhr bin ich bei Euch.“

„Onkel!“ rief sie mir nach, „Onkel, ich bin ja – – warte doch!“

„Was willst Du denn, Hella?“

„Ja, wenn Du so läufst,“ stieß sie athemlos hervor. „Ich will Dir nur sagen, die Großmutter läßt Dich bitten, erst morgen zu kommen, Nämlich Bine – weißt Du – Bine ist vorhin wieder ohnmächtig geworden, und der Doktor –“

Ich stand wie leblos.

„Mein Gott, Onkel! Na ja, siehst Du, ich wollte Dir das ganz anders sagen, aber wenn Du so davonrennst! Bine war nämlich den ganzen Tag sehr ruhig und heiter, aber auf einmal, da – sie guckte so starr immerfort auf einen Fleck – da sank sie zurück, und das sah eklig aus – als müsse sie gleich tot sein.“

Ich hatte plötzlich keine Eile mehr und schritt langsam neben ihr durch die Straßen.

Textdaten
zum vorherigen Teil
aus: Die Gartenlaube 1893, Heft 52, S. 877–880

[877] Morgen wird Bine schon ganz gesund sein,“ tröstete mich Hella, als sie meine Bestürzung gewahrte.

„Darf ich denn auch Großmama nicht sprechen?“ fragte ich.

„Sie sagte ausdrücklich, sie erwarte Dich erst morgen mittag, lieber Onkel. Ich kann Dir auch im Vertrauen sagen, daß es heute nicht sehr empfehlenswerth ist, sich ihr zu nahen; sie ist so steifnackig und so hartmäulig wie der ‚Hans‘, seitdem ihn die Gemüsefrau vor den Gärtnerkarren spannt, er beißt und schlägt sogar. An Deiner Stelle, Onkel, drängelte ich mich nicht zu einer Audienz.“

„Was ist denn eigentlich los?“ fragte ich verstimmt.

Hella stand an einer Straßenecke still, wo es just recht angenehm windig war. Sie zuckte die Schultern. „Gute Nacht, Onkel,“ rief sie mir ins Ohr, „oder soll ich Dir Gesellschaft leisten heute abend?“

Ich schüttelte nachdrücklich den Kopf.

„Nicht? Dann wollen wir uns jeder für sich langweilen. Gute Nacht, schlaf’ nur recht schön! Was los ist bei uns? Durchaus nichts Besonderes, Großmama hackt eben auf die Bine ein – es ist die höchste Zeit, daß sie aus dem Hause kommt, die Bine. Das beste wäre, Du könntest sie gleich mitnehmen – gute Nacht, Onkel!“ Sie war, als sei sie vom Winde davongetragen, um die Ecke verschwunden, und wie kleine Kobolde rasten die Hunde hinter ihr her.

Langsam schritt ich weiter. Ich hatte es mir allerdings anders vorgestellt, dieses Kommen; ich war niedergeschlagen bis zum äußersten und sorgte mich um Sabine. Gott mochte wissen, was es da zwischen Großmutter und Enkelin gegeben hatte. Planlos ging ich dahin durch die schlecht erhellten Straßen, die, trotzdem es erst Spätnachmittag und vor Weihnachten war, öder und menschenleerer schienen als je. Die Auslagen der Kaufleute waren indes heller beleuchtet und mit mehr Sorgfalt geordnet als früher, und in der Buchhandlung prangte zwischen allerhand allgemein beliebten schön gebundenen Büchern sogar ein kerzenhelles Weihnachtsbäumchen.

[878] Ich stand ein Weilchen davor, weiß aber nicht, was ich eigentlich gesehen habe. Dann schritt ich abermals weiter, immer weiter, unter dem alten Thorbogen des Städtchens hindurch und längs des Wassers an der Stadtmauer hin, bis ich vor dem Gartenpförtchen des Brenkenhauses anhielt. Der Wind verstummte hier ganz, die Mauer hielt ihn völlig ab. Jenseit derselben ächzten und klapperten die dürren Zweige der Bäume, und die Wetterfahne auf dem Dache der Laube gab einen klagenden unheimlichen Ton von sich, wenn der Wind sie um ihre rostige Achse drehte.

Ich hatte ganz mechanisch auf die Klinke der Pforte gedrückt und fand diese unverschlossen. Einen Augenblick schoß es mir wie Aerger durch den Kopf: es war doch über alle Begriffe leichtsinnig, das Grundstück so unverwahrt zu lassen! Dann hatte ich nur noch Sinn für die zwei matt erleuchteten Fenster drüben im Hause – ihre Fenster!

Da stand ich in dem windigen dunkeln Dezemberabend und starrte hinauf. Mit der Hand hatte ich den Stamm eines jungen Obstbaumes umklammert, als ob ich mich selbst halten müsse, um nicht emporzueilen und sie in meine Arme zu nehmen, meine Leni!

Droben ward jetzt ein Fenster geöffnet und eine Gestalt beugte sich heraus, wie horchend, einen Augenblick nur – dann verlöschte das Licht. Sie ging wohl zur Ruhe. Würde es die finden, das arme erregte kleine Herz? Es überkam mich ein inniges Mitleid mit ihr. Am Ende wäre es doch besser gewesen, ich hätte sie heute abend noch gesehen, ihr noch ein paar liebe Worte gesagt, sie versichert, daß sie dem alten Onkel seine Jugend zurückgezaubert habe, daß er sie dafür zu einer glücklichen geliebten Frau machen wolle, welche die Noth und Plage des Lebens nicht mehr kennen solle.

Was mochte ihr nur sein? Diese Ohnmachten! Sie sah neulich gar nicht nach schlechten Nerven oder Kränklichkeit aus! Aber freilich, Leni war auch so blühend als junges Mädchen und trug doch den Keim des Todes in der Brust. Eine namenlose Sorge ergriff mich plötzlich. Wenn sie, wenn sie auch – – es war ja gar nicht unmöglich, die schreckliche Krankheit war so oft erblich! Ich starrte in peinvoller Angst zu dem Fenster empor wie damals. Stirb nicht! Du darfst nicht sterben – zum zweiten Male! Ich trüge es nicht! Wie damals forderte ich es und wie damals fühlte ich die Machtlosigkeit des Menschen gegen sein Schicksal.

Wie lange ich da stand, weiß ich nicht. Jeder frohe Zukunftsgedanke war entschwunden. Der Sturm hatte sich mittlerweile ein wenig vermindert, aber nun schlugen große Regentropfen hernieder und ich wandte mich zum Gehen. Ich schritt hinter einem Boskett herum, denn es lag eine eigenthümliche Helligkeit in der Luft, obgleich der Mond nicht schien, und ich fürchtete, Hella oder die Tante könnten mich erkennen; sie brauchten mich gerade nicht bei meinem Schmachten vor Sabinens Fenster zu ertappen. Hella, das garstige Ding, hätte jedenfalls reichlichen Stoff zu lebenslänglichen Neckereien gehabt.

Auf einmal blieb ich stehen; dicht an mir vorüber war etwas gegangen; nein, nicht gegangen – gelaufen, geflogen, eine schlanke schwarze Frauengestalt. Unter den leichten Schritten knirschte der Kies – ich hatte auch etwas gehört – ein Stöhnen, dann war sie wie ein Spukgebilde entschwunden. Dort unten an der Mauerpforte mußte sie sein! Rasch ging ich nach. Hella? Aber sie konnte es nicht gewesen sein, sie war kleiner und – um Gotteswillen, was wollte Bine hier?

Als ich an der Pforte anlangte, war sie fest ins Schloß gefallen und der eiserne Schnapper wich meinen Bemühungen nicht. Ueber mir peitschten im Winde die kahlen Reben des wilden Weines die Mauer und die Wetterfahne seufzte noch melancholischer als zuvor; ich aber stand wie zu Eis erstarrt, denn draußen, dicht vor der Pforte, hörte ich Binens süße weiche Stimme: „Denke nicht schlecht von mir – ich könnte nicht weiter leben ohne ein Abschiedswort, ohne zu wissen, daß Du mir nicht zürnst. – Ach, vergieb mir, Georg, vergieb mir, daß ich – ach, Du weißt ja nicht!“

Eine Antwort kam nicht.

„Georg!“ Sie schrie es fast zornig. „Hast Du denn kein Mitleid mit mir? Fühlst Du denn nicht, daß ich tausendmal unglücklicher bin als Du? Ach, wenn ich wüßte, was ich anfangen sollte – wenn ich sterben dürfte! Sterben, das wäre das Beste!“

Die Stimme erstarb, wie überwältigt von Angst und Weh.

„Sprich doch ein Wort, Georg,“ flehte sie weiter, „ein einziges! Denke doch, wie ich gekämpft habe und gerungen. Ach, der fürchterliche Tag heute und – ich kann ja nicht anders, ich weiß keinen Ausweg!“

Da endlich sprach er: „Nein, Du kannst nicht anders, natürlich nicht!“ Es war eigentlich nur ein Gemurmel. „Und wenn man so ein Bettelmann ist –“ setzte er bitter hinzu.

„Ach, um mich allein, Georg, ist es nicht, aber die alte Frau und Hella –“ Und nun kam kein verständliches Wort mehr, nur Schluchzen, krampfhaftes Schluchzen, heiße Küsse. „Nie wieder, nie!“ sagte sie, „leb’ glücklich, Georg, vergiß mich!“

„Glücklich!“ Ein kurzes hartes Auflachen. „Vergessen?“

Sie schluchzte wieder. „Ich muß zurück!“ stieß sie endlich hervor.

„Du mußt?“ fragte er laut. „Ja, mußt Du? Dann leb’ wohl!“

„Sieh nicht so furchtbar starr aus, Georg!“

Nun ein Rütteln an der Thür, ein banges: „Um Gotteswillen, sie ist zugefallen!“ Dann wieder ein ängstlicher Versuch, ein neuer Ausbruch des Abschiedsschmerzes. „Ach, ich kann nicht leben ohne Dich, Georg!“

„Aber Du sagst doch, Du mußt, Sabine?“

„Ja, aber ich kann nicht lügen – und nun soll mein Leben nur noch eine einzige Lüge sein!“

Ich hatte auf einmal die Kraft, den Riegel zurückzuschieben, und lehnte mich gegen die Mauer.

„Es ist ja offen,“ sagte er dann.

„Noch einmal, leb’ wohl – auf immer!“

„Ich ertrag’ es nicht, ich will es nicht ertragen,“ stöhnte plötzlich der Mann. „Du darfst mich nicht verlassen, Bine – Doch geh’ nur, geh’!“ Und wieder ein Kuß, der kaum enden wollte. Dann flog die Pforte so heftig zurück, daß sie mir fast gegen die Stirn schlug, und Sabine schwankte in den Garten.

Sie sah mich nicht. Die Gartenthür wurde von außen zugezogen; das Mädchen ging langsam mit gesenktem Kopf weiter; eine Ewigkeit dauerte es, bis sie im Hause verschwand.

Ich richtete mich langsam auf, wischte mir die Regentropfen aus dem Gesicht und zog den Riegel wieder zurück; dann trat auch ich ins Freie. Niemand mehr hier, so finster und verlassen dieser öde Weg, als habe sich nicht eben das Schicksal dreier Menschenherzen hier entschieden.

Im Gasthof angelangt, saß ich in der warmen Stube am Ofen, und Böhme, der gute Kerl, stand vor mir und sah mich mit ganz entsetztem Gesicht an.

„Der Herr Major fühlen sich doch nicht krank?“

„Nein, nein! Bloß die verdammte Reise und das Hundewetter!“ murmelte ich.

„Es ist ein Briefchen da für den Herrn Major.“

Ich öffnete es und fand eine Einladung von meinem alten Bekannten, dem Kommandeur. Er habe erfahren, ich sei angekommen, und ob ich ihm und den übrigen Kameraden nicht die Freude machen wolle, an dem Austernessen theilzunehmen, das heute abend stattfinde. Ich kannte diese Mode von früher her; das Offizierscorps ließ von Hamburg ein Fäßchen Austern kommen und aß sie in vollzähliger Sitzung drunten im Speisesaal.

Ich hielt den Brief gedankenlos in der Hand.

„Befehlen, daß ich bestelle, der Herr Major seien zu angegriffen?“

„Nein, ich werde kommen! Bestelle, ich würde die Ehre haben. Dann hilf mir, mich umzuziehen!“

Eine halbe Stunde später saß ich auf dem Ehrenplatz inmitten einer liebenswürdigen Gesellschaft; ich sprach, ich trank, ich frischte mit dem Kommandeur alte Jugenderinnerungen auf – es ist mir noch heute schleierhaft, wie ich das konnte, aber ich fühlte nichts mehr, es war, als ob mit einem Male alles in mir tot sei.

„Wo ist denn Felsenberg?“ fragte plötzlich der Oberstlieutenant, und jedermanns Augen richteten sich auf den leeren Stuhl am unteren Ende der Tafel.

„Er war vorhin schon auf dem Wege hierher,“ berichtete einer der Herren, „ich begreife nicht, wo er bleibt!“

„Da kommt er ja!“

Die Thür hatte sich geöffnet und der Vermißte trat ein. [879] Er begrüßte die Anwesenden, kam dann zu uns herauf und bat den Kommandeur um Entschuldigung seiner Verspätung wegen, vollkommen ruhig und beherrscht, als hätte er nicht eben – natürlich, er war es – als hätte er nicht eben –

An mir sah er vorbei. Ich nahm es nicht übel, hätte eher das Gegentheil übelgenommen. Er setzte sich auf seinen Platz da unten und begann zu essen. Ich konnte nicht anders, ich sah ihn immerfort an. Er aß sehr rasch; nach jeder zweiten Auster trank er sein Glas aus. Plötzlich hörte er auf und saß da mit blassem Gesicht, an seinem Schnurrbart zupfend.

Die schon lustig gewordenen jungen Kameraden neckten ihn.

„Der Kerl sieht aus wie der Fliegende Holländer!“ sagte einer.

„Prosit, Georg!“ rief ein anderer.

Er that Bescheid und saß dann wieder stumm da, nur die Augen brannten düster. Er versuchte öfter zu mir herüberzusehen, aber unterwegs lenkte er seine Blicke doch wieder an mir vorbei. Dann trank er jedesmal sein Glas hastig aus und nach jedem Glase wurde er bleicher.

Ich konnte es nicht mehr mit ansehen, stand auf, empfahl mich, indem ich etwas von Reisemüdigkeit sprach, und verließ den Saal. Droben saß ich dann wieder Mutterseelenallein mit dem armen leeren Kopf und Herzen – so leer, so arm – ich kann’s nicht beschreiben! Ja, was denn nun? Ach, es war ja so einfach! Es giebt Dinge, die so einfach, so furchtbar einfach, schlicht und wahr sind, daß den Leuten das Herz darüber bricht!

Nein, Leni, nein – das hatte ich nicht gewollt! Wir beide wissen, was es heißt, jene Schmerzen zu erleiden, die ihr beiden jungen Menschenherzen jetzt durchkämpft. Nein, so hatte ich es nicht gemeint! Da ist’s natürlich das Beste – das Beste –

Ich stand auf und zog die Klingel.

„Böhme, erkundige Dich ’mal, ob Lieutenant von Felsenberg noch unten ist!“

Er kam zurück: Lieutenant von Felsenberg sei schon seit einer halben Stunde nicht mehr anwesend.

Na, dann morgen früh! sagte ich zu mir, fing an, in der Stube umherzugehen, und betrachtete die Bilder, die an den Wänden hingen, als nähme ich den größten Antheil an ihrem zweifelhaften Kunstwerth, Und dabei dachte ich doch nur immer an den armen Kerl, der so blaß ausgesehen hatte, und wie er jetzt im Zimmer herumrasen mochte und den morgenden Tag nicht mehr zu erleben wünschte. Ach, ich kannte ja das alles, ich kannte es ja, und in der Jugend, da sind die Schmerzen noch großer – ich erlebte es ja einst! Und heute? Ich fühlte nichts, ich fühlte nur die Leere. Die Leute, denen in der Schlacht ein Glied abgerissen wird, die sollen auch im ersten Augenblick nichts merken; sie sehen mit Entsetzen und Mitleid ihren verstümmelten Kameraden neben sich an und vergessen die eigene Wunde.

Und das verzweifelte Kind, das sich in seine Kissen vergräbt und weint und weint und sich fürchtet vor dem kommenden Tag, der sie dem ungeliebten Bräutigam in die Arme treibt!

Wie spät war es denn? Zehn Uhr!

Ich klingelte abermals. „Böhme, fragen Sie doch ’mal, wo der Lieutenant von Felsenberg wohnt!“

Er kam zurück. „Gleich hier im Gasthof, im Anbau nach dem Garten zu.“

„Aha!“ Ich kannte die Baracke, die der Wirth als Lieutenantswohnung eingerichtet hatte, schon von früher her; es wohnten da immer zwei von uns. Die Stuben waren miserabel, die Ställe vorzüglich.

„Ob der Lieutenant von Felsenberg zu Hause ist?“

„Zu Befehl, Herr Major – es brennt Licht in seinem Zimmer.“

Ich nahm meinen Reisemantel um und ging die Treppe hinunter über den Hof nach dem Garten, der durch ein niedriges Mäuerchen vom Hof getrennt war. Richtig, in der Stube des Erdgeschosses brannte Licht hinter den Läden. Es war ein ganz niedriges Erdgeschoß, und die Läden hatten so große Spalten, daß man, ohne besonders den Spion zu machen, die Stube übersehen konnte, Warum ich hier stand und hineinschaute? Ja, wer kann ermessen, welchem Antrieb der Mensch zuweilen folgt? Unsere Handlungen in solchen Stunden sind wie von einer geheimnißvollen Macht beeinflußt. Ich stand also da und sah hinein.

Er saß an seinem Tisch in der Nähe des Fensters und schrieb. Das ist ja nun nichts Besonderes, aber neben ihm lag etwas, das ließ mir das Herz stille stehen vor Schreck – etwas, das in gar keiner Beziehung zu einem Schreibtisch steht und das doch so furchtbar deutlich die Briefe illustriert: Abschiedsbriefe!

Ich eilte im nächsten Augenblick in den Hausflur – ein einziges lautes Klopfen an der Thür, ein Druck auf die Klinke, und ich stand drinnen.

Er war aufgesprungen und hatte blitzgeschwind sein Taschentuch über das bewußte Ding geworfen. Als er mich erkannte, stützte er sich mit der Rechten fest auf den Tisch, und durch seinen schlanken Körper ging’s wie ein Schüttelfrost.

„Guten Abend, Herr Kamerad,“ sagte ich, „verzeihen Sie, daß ich so eindringe, so unangemeldet; Sie überhörten wohl mein Klopfen im Eifer des Schreibens?“

Er maß mich von oben bis unten mit einem Blick voll tödlicher Kälte:. „Was befehlen Sie, Herr Major?“

„Nichts, lieber Felsenberg, ich habe nur eine Bitte.“

Er verbeugte sich leicht.

„Kassieren Sie jenen Brief!“

„Herr Major!“ fuhr er auf.

„Und schreiben Sie einen anderen an die alte Frau – es ist wohl an Ihre Frau Mutter? – einen, in dem Sie nicht um Verzeihung bitten, daß Sie ihr einen Schmerz anthun wollten, wie er größer nicht gedacht werden kann! Melden Sie ihr, daß –“

Er sah mich an wie irrsinnig. „Meine Mutter“, sagte er, „meine Mutter!“ Dann lachte er auf.

Ich blickte ängstlich in sein zuckendes Gesicht und folgte mit meinen Augen den seinigen. Und da bemerkte ich an dem linken Arm einen schmalen schwarzen Kreppstreifen.

„Meine Mutter ist tot! Vor acht Tagen habe ich sie begraben,“ sagte er klanglos.

Armer Junge, so viel auf einmal! Ja freilich, da mag Dir das Leben keinen Pfifferling mehr werth scheinen! dachte ich, und das Wort, das ich hatte sprechen wollen, erstarb mir auf den Lippen.

„Was befehlen der Herr Major?“ fragte er wieder scharf und laut.

„Nun, Herr von Felsenberg,“ sagte ich, „und wenn auch die alte Frau der Schlag nicht mehr treffen kann, so doch vielleicht ein anderes Herz, ein junges, schon halb verzweifeltes Herz. Sie haben wohl nicht daran gedacht, wie es weiter leben soll in dem Bewußtsein: Deinetwegen, da – da ist einer fortgegangen – na, wir verstehen uns, Herr Lieutenant. Also verbrennen Sie jenen Brief! Sabine würde sterben, müßte sie ihn lesen. Sagen Sie ihr lieber morgen mündlich: ‚Mein geliebtes Mädchen, meine Braut, wir brauchen uns nicht zu trennen, denn da ist so ein Onkel ein alter thörichter Onkel, der – der hat die Geschichte in Ordnung gebracht und läßt Dich grüßen.‘ – Also Ihr Wort, Herr Lieutenant – verbrennen Sie den Brief! Und nun gute Nacht! Wenn Sie morgen mittag in das Brenkenhaus kommen, so finden Sie offene Thüren,“ Ich nickte ihm zu und schritt über den Hof in mein Zimmer zurück.

Mein Gott, wenn ich nicht zu ihm gegangen wäre – der Heißsporn! Na, ich war ja auch einmal beinahe so weit gewesen, und gegen den genommen – man brauchte ja nur seine Augen zu betrachten – war ich die Gelassenheit selber.

Nun saß ich da am Sofatisch neben der brennenden Lampe, eine Tasse schwarzen Kaffees vor mir und eine Cigarre zwischen den Lippen, und schrieb, Und währenddem packte Böhme wieder ein, was er bereits ausgepackt hatte und bestellte das Wecken auf sechs Uhr früh; um sieben Uhr ging der Schnellzug.

Ein Brief an Tante Klara – das war der schlimmste – ein Brief an mein Pathenkind, einer an Felsenberg, abzugeben um acht Uhr! Und dann mochten sie sehen, wie sie fertig wurden.

Ich schlief noch ein paar Stunden, dann fuhr ich in dunkler Morgenstunde aus Wardelingens Thor. Drüben lag der Kirchhof – – Leni, hab’ ich es recht gemacht?

Eben war ich in den Eisenbahnwagen gestiegen, da stand vor der noch offenen Thür eine große Gestalt im Mantel, an dem der Wind zerrte. Eine Hand streckte sich mir entgegen und umfaßte mit heftigem Druck die meinige.

„Herr Major – –“ Die Stimme versagte ihm.

[880] „Schon gut, mein lieber Felsenberg! Grüßen Sie Sabine, wenn Sie heute mittag hingehen und ihr Jawort holen! Mein Brief wird Ihnen nachher gegeben werden. Leben Sie wohl!“

Die Thür wurde zugeschlagen, und dahin brauste der Zug. Gottlob, als es hell wurde, da waren wir nicht mehr in der Mark, und ich fing an, mich zu sammeln.

An Leeden schrieb ich von Berlin aus ein paar Worte, die ihn aufklärten; er wäre sonst am Ende ganz wirr geworden beim Lesen der Verlobungsanzeige von Sabine Bayer mit dem Lieutenant von Felsenberg. Als ich in meine Garnison kam, war schon ein Brief von ihm da.

„Im ganzen bin ich nicht böse, alter Freund, ich habe Dich behalten. Aber nun wirst Du ja doch eine Familie haben, denn so, wie die Verhältnisse nach Deinem Schreiben zu liegen scheinen, stattest Du eine Tochter aus und bekommst einen Schwiegersohn. Gratuliere zum künftigen Großpapa!“

Ich lächelte ein wenig über seinen Scherz und ging in den drei gemüthlichen Zimmern meiner Junggesellenwohnung umher. Da lag noch alles so, wie ich es verlassen hatte an jenem Tage, wo ich so eilig nach Wardelingen fuhr; Lenis verblichene Photographie stand auf dem Schreibtisch und sah mich an, als wollte sie sagen wie einst: „Nicht wahr, Du nimmst Dich meines Kindes an in schweren Stunden?“

Ich hab’s gethan, Leni!

Dann ging ich in die Ställe und klopfte den Pferden den spiegelglatten Hals. Der Goldfuchs wieherte leise, er erkannte mich. Die Kinder des Hauswirthes kamen gelaufen und blickten mich an mit verlangenden Blauaugen. „Ihr armen Schelme, diesmal habe ich euch vergessen, ich habe nichts mitgebracht als leere Hände und ein leeres Herz – aber wartet nur, der Böhme holt Euch etwas!“

Ach, und so allmählich, da wird’s ja werden, der Mensch gewöhnt sich an alles. Da wird’s ja wieder weitergehen, das Leben, auch mit dieser Wunde.

Und es ging weiter. Zur Hochzeit nach Wardelingen luden sie mich nicht ein, natürlich nicht, obgleich ich sie meinem Pathenkinde ausrichtete. Vierzehn Tage später bekam ich ein Päckchen von der jungen Frau.

„Lieber Onkel! Vielleicht macht es Dir Freude, Mamas Tagebuch zu lesen, das sie für mich schrieb.“

Weiter nichts. Ich schlug die Blätter auf; es waren Lenis liebe kleine Schriftzüge, und da fiel mein Auge auf eine Stelle, die durch ein bräunliches krauses Fleckchen, wie ihn Thränen auf dem Papier zu hinterlassen pflegen, bezeichnet war, und da las ich:

„Lasse Dich nicht bestimmen, eine Ehe einzugehen ohne echte wahre Liebe, mein Herzenskind! Du ahnst nicht, wie trostlos, wie jammervoll, wie erniedrigend das ist für eine Frau! Setze Deinen ganzen Widerstand denen entgegen, die Dich überreden wollen, äußerer Vortheile oder sonstiger Gründe wegen! Bleibe lieber allein, bleib’ arm und verlassen – Du wirst Dich glücklicher fühlen als mit einem Gefährten, den die Liebe Dir nicht zugeführt hat. Und wenn Du Dich nicht stark genug fühlst, Dich vor einer Ehe ohne Liebe zu schützen, so wende Dich an Onkel Viktor! Er wird Dir allezeit ein treuer Berater sein, ein zärtlicher Freund – er versprach es mir einst in einer Stunde, die die traurigste und glücklichste meines Lebens war.“

Ich las nicht weiter.

Arme kleine Bine – der Dich schützen sollte, war zugleich der Freier, den Du nicht liebtest! Aber es ist ja dennoch gut geworden, er hat Dich vor sich selbst geschützt – wie schwer es ihm fiel, brauchst Du und niemand zu wissen.

Und nach wieder zwei Jahren packte ich doch ’mal meinen Koffer – sie hatten mich ja schließlich mürbe gemacht mit ihren ewigen Quälbriefen – und fuhr nach Wardelingen.

Am Bahnhofe standen Felsenberg und Hella. Sie war ein schönes Mädchen geworden, aber noch immer die Alte. „Donnerwetter“ und „Parapluie“ lebten noch; sie gingen vielleicht ein wenig wackliger und ihre Augen waren ein bißchen trübe, aber im ganzen war man wohlauf. Felsenbergs schönes Zigeunergesicht strahlte vor Freude, als er mich sah.

„Er ist ganz toll vor Seligkeit über den Schreihals, Onkel,“ berichtete Hella achselzuckend, „die Bine und er knien abwechselnd vor dem Bett der Prinzessin und würden ihr die Sterne vom Himmel holen, wenn sie danach verlangen würde; ’s ist kaum zum Ansehen!“

„Und wie geht es Tante Klara als Urgroßmutter?“ fragte ich, zwischen beiden hinschreitend.

„Sie macht keinen Anspruch auf diesen Titel,“ erklärte Hella. „Wenn Du’s mit ihr verderben willst, brauchst Du sie nur so zu nennen; sie hat Dir ohnehin Deinen damaligen Streich nicht vergeben, Onkel Viktor.“

Und das unartige große Mädel drängte sich an mich heran und flüsterte mir ins Ohr: „Er läßt sich ja gar nicht dreinreden von ihr, weißt Du, und ein bißchen knapp geht’s ja doch zu, wenn auch Bine prachtvoll einzutheilen versteht. Wenn Bine die Frau Major von Brenken geworden wäre, hätte es Großmutter doch besser gepaßt. Uebrigens,“ fügte sie laut hinzu. „übrigens, Onkel, Du hast ja graue Haare und siehst so gemüthlich aus, zum Küssen nett, Onkel!“

Das mußte wohl auch im alten Brenkenhause eine schöne junge Frau finden. Eine liebe lichte Gestalt kam mir entgegengeflogen die Treppe hinunter, durch den dämmerigen Flur. „Onkel! Lieber, lieber Onkel!“ Und die frischen Lippen berührten die meinen, und tiefe thränenschimmernde Augen blickten mich an. Mein Gott, mein Gott, wie glich sie doch ihrer Mutter!

Und droben zog sie mich an das einfache blau verhängte Bettchen, und er und sie standen da mit so seligem Stolz, daß einem das Herz weich werden mußte vor soviel Menschenglück.

Was that es denn, daß Tante Klara grämlich und alt in ihrem Stübchen unten saß und über Entbehrungen klagte, die sie sich in ihren alten Tagen auferlegen mußte. „Siehst Du, Viktor,“ sagte sie, „wenn Du Sabine geheirathet hättest, dann wäre alles besser; Du wärst glücklich geworden und wir mit!“

„Tante, vielleicht hätte sich Bine schon zu Tode gegrämt neben mir.“

„Ach, so ein dummer sentimentaler Schnack,“ sagte sie ärgerlich, „gerade, als hörte ich Leni sprechen!“

„Na, sei gut, Tantchen,“ bat ich, „und mach’ Dich zur Taufe morgen recht fein; weißt Du, so fein wie damals, als Bine getauft wurde!“

„Hat sich was – das lohnte!“ murmelte sie. „Wer kommt denn? Der Kommandeur, weil Felsenberg Regimentsadjutant ist, und der Rittmeister Werner, das ist alles! Und auf Trüffelpüree brauchst Du Dich nicht zu spitzen; sei froh, wenn Du Kälberbraten bekommst!“

„Ich würde es den Kindern sehr übelnehmen, wenn sie Trüffeln geben würden, und müßte ihnen als Papa die Zulage beschneiden. Ist der Werner ein netter Mann?“

„Auch so einer, der denkt, er könne heirathen mit seinem Gehalt als Rittmeister. Wenn Hella so dumm ist, mir kann’s recht sein, ich lebe nicht mehr lange genug, um das ganze Elend mit anzusehen.“

Na, wenigstens vorläufig war von Elend nichts zu merken.

Die jungen glücklichen Eltern hatten ihr einfaches Tauffest so allerliebst angeordnet, daß man sich wohl fühlen mußte. Die Rede des Pastors war schlicht und herzlich, die Bine sah in ihrem weißen Kleide frisch und überselig aus, und die kleine Leni guckte mit lustigen blauen Aeuglein in die Welt. An schwarze Schatten war gar nicht zu denken.

Und nach Tische trommelte Hella einen Walzer, und Felsenberg nahm seine Bine in die Arme und schwenkte sie herum. Kein anderer kam und saß mit ihr an der Wiege ihres Kindes und sah sie heiße Thränen weinen und las ihr das Geständniß ihres Unglücks aus den Augen – nein, sie liefen beide zusammen in die Kinderstube, und eng umschlungen kamen sie zurück.

Und da dachte ich, wie ich einst am Bettchen dieser jungen Mutter mit ihrer Mutter gesessen, und dachte, wenn ich Sabinens Gatte wäre und das Kind mein Kind und wenn sie plötzlich sich an die Wiege der kleinen Leni geflüchtet hätte mit dem Manne, dem sie meinetwegen entsagte, und dort heiße Thränen geweint um ein verlorenes Glück – Herr Gott, das hätte schlimm werden können!

Aber er wäre ja nicht mehr unter den Lebenden! Und ich dachte an den Abend, wo er sein Taschentuch über die Pistole warf.

Nein es war besser so – ich hatte mein Versprechen gehalten.