Unter fahrenden Leuten
Unter fahrenden Leuten.
Unruhig schauen die Kinderaugen aus dem Schulzimmer hinaus nach der Straße, dorthin, wo die Schankwirthschaft liegt. Gleich, den Augenblick, muß die Uhr schlagen und dann geht’s hinaus, das große neue Ereigniß in näheren Augenschein zu nehmen. Der Lehrer bemerkt die Unruhe wohl, die in den kleinen Köpfen herrscht, aber er kennt ihren Grund nicht, denn er hat ja nicht vor einer Viertelstunde den großen roth angestrichenen Wagen mit den drei grünverhängten Fenstern auf jeder Seite und dem Mann im rothen Halstuch auf dem Bocke vorbeifahren sehen. Die Kinder aber beschäftigt die Frage: Wird der Wagen vor der Schenke halten? Sind es Seiltänzer? Zauberkünstler? Puppenspieler? Werden sie die „Genovefa“ spielen?
Da hebt die Glocke auf dem Kirchthurm gegenüber zu schlagen an, der Lehrer schließt, und fort stürmt die Kinderschar, um zunächst den „Wohnwagen“ in näheren Augenschein zu nehmen, der wirklich vor der Schenke hält. Menschen, die in einem Wagen wohnen! Und nicht wie andere in Häusern! Ob sie wohl Kinder haben? Ob diese mit in die Schule kommen werden wie letzten Winter die Kinder des Zauberers, dessen älteste Tochter mit zum Pfarrer in die Konfirmationsstunde ging?
Neugierig umdrängt die Kinderschar das geheimnißvolle Gefährt. Die Pferde fressen aus der Holzkrippe an der Thür der Schenke, um dann wieder zurückgeführt zu werden in das Dorf, wo sie gemiethet worden sind; denn sie sind nicht Eigenthum des Wagenbesitzers. Es kommt ja doch auch vor, daß der Wohnwagen weite Strecken auf der Eisenbahn befördert wird, während die Familie zu Fuße ihres Weges zieht. Jetzt sind sie eben beschäftigt mit Auspacken. Die Pfosten und Bretter, welche an Ketten unter dem Wagen in der Schwebe hingen, sind bereits abgenommen. Der Besitzer des Gasthofes war schon vorher verständigt, und jetzt werden die Böcke, Leisten und Latten oben in dem kleinen Saale, dessen Dielen freilich schon bedenklich durchgetanzt sind, zur Bühne zusammengestellt; denn Puppenspieler sind es, welche hier ihre Künste zeigen wollen. Früher mußte die Bühne jedesmal zusammengenagelt werden, so noch bei dem Vorgänger des jetzigen Besitzers, dem Vater der Frau, bei dem der Mann als Gehilfe in Arbeit stand. Damals waren noch andere Zeiten! Heute ist längst alles praktischer eingerichtet, und wenige Schrauben halten das Gerüst besser zusammen als dreimal soviel Nägel. Zwei kleinere Kinder helfen eifrig mit, während die erwachsene Tochter schon auf dem Wege durchs Dorf ist, um Zettel zu vertheilen; denn morgen soll bereits gespielt werden, und dazu bedarf es einer sorgfältigen Vorbereitung „eines geehrten Publikums“.
Vor den Augen der staunenden Dorfjugend, die sich nur bis an die Treppe wagt, wandern drei große Kisten in den Saal hinauf. Oben entwickeln sich aus der einen die Coulissen mit
[885]ihren Nahmen und eine Menge Puppenkleider. Die andere birgt zwei Reihen Holzpuppen, mit samt ihrem Fädengewirre, alle splitternackt, denn sie müssen ja zu jeder Aufführung besonders angekleidet werden.
Die dritte endlich enthält den kostbarsten aller Schätze, die Manuskripte der Stücke, alte, in allen Farben schimmernde, schmutzige Hefte und Bücher, manche mit eingebrannten Löchern, andere mit abgerissenem Deckel, alle mit Stearinflecken. Das eine diente früher einem Kaufgeschäft zum Rechnungsbuch, daher sein Leinwandband, und das andere ist ein ehemaliges Notenheft, seinem roth und weiß geblümten Umschlag nach zu schließen aus dem Ende des vorigen Jahrhunderts. Alle aber tragen außen auf dem Deckel neben der Nummer noch den Titel des Stückes, das sie enthalten, und sind mit großen deutlichen Buchstaben geschrieben, „so daß man es auch lesen kann“. Die Rechtschreibung ist in den meisten Fällen mehr als mangelhaft und, namentlich wo Fremdwörter wiederzugeben oder mundartliche Formen schriftlich festzuhalten sind, bis zum Komischen entstellt. „Der Kampf mit dem Drachen oder das goldene Vließ“, „Anne Liese und Fürst Leopold“, „Kunigunde, Fürstin von Waldeck“, „Gräfin Elfrida oder der Selbstmord aus Liebe“, „Griseldis“, „Genovefa“, „Der verlorene Sohn“ und „Rinaldini“ – das sind die Stücke, die sich hier finden. Daneben viele alte, die nicht mehr oder selten gespielt werden, auch Stücke aus dem neueren Volksleben wie das Wildschützenstück „Karl Stülpner“ oder „Der Fabrikarbeiter oder der Krieg in Amerika“, Märchen und Zauberstücke wie „Aschenbrödel“ und „Sneewittchen“, oder der Kunstbühne entlehnte Dramen „Die Wolfsschlucht“ (Freischütz) und „Philippine Welser“. Auch der „Faust“ findet sich noch hier und da, wird aber verhältnißmäßig selten gegeben.
Derselbe Kasten birgt dann noch einen zweiten Schatz, die Theaterzettel, die höchstens alle zehn Jahre neu gedruckt werden. Für ihre Erhaltung sorgt der Satz, der sich an ihrem Ende findet: „Man bittet die Zettel aufzubewahren, da sie am Schlusse der Spielzeit wieder abgeholt werden.“ Einige gehen gleichwohl in jedem Dorfe zu Grunde, und nach Jahren ist der Haufen beträchtlich zusammengeschmolzen, so daß sich ein Neudruck nöthig macht. Oft haben die Zettel mit dem gespielten Stück wenig mehr als den Namen gemein. Das Personenverzeichniß und die Inhaltsangaben, die man hier noch findet wie auf den Theaterzetteln der Kunstbühne des achtzehnten Jahrhunderts, weichen stark ab von dem, was der Zuschauer dann wirklich zu sehen und zu hören bekommt. Aber das Gedruckte stellt in diesen Fällen meist die ältere Fassung des Stückes dar.
Nahezu alle Stücke haben eine lustige Person, die durchweg „Kasper“ heißt. Häufig weist der Zettel besonders auf sie hin, so in „Doktor Faust“ mit den Worten: „Kasper wird heute nicht ermangeln, dem geehrten Publikum einen recht genußreichen Abend zu verschaffen, erstens als Schneidergeselle, zweitens als Diener bei Faust, drittens als Geisterbeschwörer, viertens als Nachtwächter.“ Seine Scherze, die nach Zeit und Ort sehr wechseln und meist auf grobem Wortwitz beruhen, finden gemeiniglich ungeheuren Anklang.
Die Stücke, welche zur Aufführung kommen, sind zum großen Theil ziemlich alt. Mit verschwindenden Ausnahmen haben alle Puppenspieler, trotzdem sie das Gegentheil versichern, Niederschriften derselben im Besitze. Nur bei einigen Familien, in denen Puppenbühnen lange erblich waren, und bei denjenigen jetzt selbständigen Besitzern von Puppentheatern, die ehedem bei solchen Truppen Gehilfen waren, ist dies nicht der Fall. Die alten Stücke wie „Genovefa“, „Griseldis“ gehen auf frühe Dramatisierungen von Volksbüchern zurück, das Fauststück meist auf Marlowes „Faust“, der seit dem Beginn des siebzehnten Jahrhunderts von den englischen Komödianten in Deutschland vielfach gespielt wurde.
Wenn die Bühne errichtet ist und alles oben im Saale hinter derselben bereit liegt, dann zieht sich die Familie zum Essen und Schlafen in den Wohnwagen zurück. Der Wagen wird immer so aufgestellt, daß die Thür von der Windrichtung abgekehrt ist; wechselt diese, so wird auch der Wagen gedreht. Er [886] zerfällt im ganzen in zwei Räume, in den Wohnraum, der zugleich einem erwachsenen Kinde oder einem Gehilfen zur Schlafstätte dient, und in das große Familienbett, das den hinteren Theil einnimmt und dem Besitzerehepaar nebst den kleineren Kindern zum gemeinsamen Lager dient.
Kojenbetten finden sich nirgends. Niemals ist mehr als ein erwachsenes Kind bei der Truppe, die anderen müssen sich selbst ihr Brot suchen; nur eines kann die Kunst der Eltern erben. Denn es herrscht Armuth in diesen Kreisen der Fahrenden, bittere Armuth. Wohl sind noch manche so stolz wie Walther von der Vogelweide, der von sich singt:
„Getragene Kleider nahm ich niemals an,“
aber es sind ihrer nicht mehr viele. Oft sieht man Männer, Frauen und Kinder in Gewändern, die einst bessere Tage geschaut haben. Wenn das Geschäft schlecht geht, dann bleibt eine Kiste, auch zwei, ja sogar der Wohnwagen dem Wirth zum Pfande, und die Besitzer können von Glück reden, wenn sie 30 deutsche Reichsmark dafür geborgt bekommmen. Die Spielkosten selbst sind nicht bedeutend. Aber der Gewerbeschein kostet 150 Mark das Jahr! In Dörfern und kleineren Städten bekommen die Puppenspieler den Saal meist frei, weil ihre Aufführungen ordentlich Gäste herbeiziehen, die vergnüglich ihr Bier dabei trinken – in manchen Städten aber muß der Unternehmer für die Erlaubniß, des Abends zu spielen, jedesmal drei Mark in die Armenkasse zahlen. Nicht jeden Abend wird gespielt; sondern meist nur an vier Tagen, Sonntags, Dienstags, Donnerstags und Sonnabends; am Sonntag kommt noch eine „Nachmittagsvorstellung für Kinder“ hinzu mit dem Hauptzugstück „Kasper in tausend Aengsten“, in dem der Held schwer unter den Stößen eines Ziegenbockes zu leiden hat. Dann faßt Furcht und Mitleid ganz nach Aristoteles das Herz der Kleinen an, und mit geballter Faust droht ein kleiner Bube mit lauter Stimme: „Wart’, Du alter Geißbock!“
Beim Beginn der Vorstellung ist hinter der Bühne alles wohl vorbereitet, die Puppen sind sorgsam angekleidet, Noch einmal werden sie gemustert, ob auch kein Knopf offen geblieben ist. Rechts und links stehen je zwei Coulissen, dahinter die Rückwand. Zwischen dieser und den hintersten beiden Coulissen ist oben eine starke Leiste quer über die ganze Breite der Bühne gelegt, verdeckt durch ein von oben herabhängendes, den Himmel darstellendes Tuch. An der Leiste befinden sich eiserne Ringe, in die jede Puppe vermittelst eines Hakens eingehängt wird, und zwar so, daß in ruhigem Zustande ihre Füße genau den Boden berühren. Hände und Füße lassen sich durch besondere Fäden bewegen. Nur „Kasper“ kann außerdem mit dem Munde und den Augen wackeln, ein Vorrecht, von dem er denn auch häufig genug Gebrauch macht.
Die Puppen, welche bei Beginn des Stückes sich auf der Bühne zu befinden haben, baumeln bereits an ihren Haken, die übrigen, welche später „auftreten“ müssen, liegen oder hängen angekleidet hinter den Coulissen. Hinter der Rückwand, etwa einen Meter über dem Fußboden, läuft ein festes breites Brett, worauf während der Aufführung die das Spiel leitenden Personen Posto fassen. Meist sind es deren zwei oder drei. Für mehr ist kaum Platz. Von da aus können sie die Puppen bequem an den Fäden regieren, hinauf- und hereinführen. In der Nähe ist ein kleines Lesepult angebracht, aus dem zwischen zwei dünnen brennenden Stearinkerzen der Text des Stückes aufgeschlagen liegt. Von hier aus wird auch das Blitzen und Schießen besorgt, das nicht selten die Glanzpunkte des Stückes ausmacht, während das Buntfeuer seitlich hinter den Coulissen angezündet wird.
An den Wänden hängen Puppen und Puppenkleider, eine papierne Hirschkuh für die „Genovefa“, jener Ziegenbock für „Kasper in tausend Aengsten“, kleine Waffen, Schilde und Helme, allerlei Hausrath für die Bühne, Bank, Tisch, Stühle und Paradebett, letzteres ein besonders schätzbarer und effektvoller Artikel. Dort steht ein Altar und da ein kleiner Heuwagen. Kurz, alles, was auf den Brettern zu erscheinen hat, welche die Welt vergangener Jahrhunderte bedeuten, das findet sich hier aufgestapelt. Auf dem Fensterbrett steht die Klingel, die zum Schweigen mahnt, und in der Ecke der Leierkasten, neuerdings auch „Drehpiano“ genannt, der in den Pausen seine alten Weisen erklingen läßt.
Von Ende August bis Ende Mai etwa reicht die Spielzeit dieser Fahrenden. Da sind sie auf Jahrmärkten wie in stillen Dörfern zu finden und spinnen durch ihre Thätigkeit die alten Volksüberlieferungen weiter. Wohl sind die alten Texte oft ins Unverständliche, ins Lächerliche verzerrt; aber es ist doch, als ob die Spieler etwas von der Wichtigkeit ihrer Aufgabe empfänden und sich dem Laien gegenüber fühlten als Träger unveräußerlicher Güter des Geistes, welche man wohl bewundern, nicht aber in seine profanen Hände bekommen kann.