Weltausstellungsbriefe aus Chicago (1)

Textdaten
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Autor: Rudolf Cronau
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Titel: Bunte Bilder und Erinnerungen von einer Reise
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aus: Die Gartenlaube, Heft 21, S. 349–351
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1893
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Serie Weltausstellungsbriefe aus Chicago
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In der Bai von New-York.

Weltausstellungsbriefe aus Chicago.

Von Rudolf Cronau.
I.
Bunte Bilder und Erinnerungen von einer Reise.[1]

An Bord des Hamburger Schnelldampfers „Augusta Viktoria“ herrscht ein reges Leben. In dem mit verschwenderischer Pracht ausgestatteten Salon sind die Passagiere beim letzten Mahle versammelt, denn schon tauchen in blauer Ferne die langgezogenen Küstenlinien Amerikas empor, die Meerfahrt neigt ihrem Ende zu!

Sie hat einen programmmäßigen Verlauf genommen, und da unsere verehrten Leser nicht nur das Leben an Bord eines Schnelldampfers überhaupt, sondern auch die Prachträume der „Augusta Viktoria“ aus einer früheren Beschreibung (Jahrg. 1890, S. 249) kennen, so brauche ich nur wenig von der Ueberfahrt zu berichten.

Die Mehrzahl der Passagiere besteht aus Professoren, Schulmännern Musikern und Kaufleuten, und fast alle haben dasselbe Ziel, Chicago, die Weltausstellungsstadt am blauen Michigansee, um daselbst zu lernen, zu studieren oder zu genießen. Aus dem bunten Gemisch der Mitreisenden hebt sich eine kleinere Gruppe hervor von Schriftstellern und Künstlern, Vertretern der bedeutendsten deutschen Familienjournale und Zeitungen. Es ist ihnen die schwere Aufgabe zugetheilt worden, den zahllosen Daheimbleibenden die Weltausstellung, ihre Bauten und ihre Schätze in Worten oder Bildern zu schildern.

Eben klingen die Gläser zum Abschied zusammen, eben ist die letzte von Begeisterung überströmende Rede verhallt, womit die Helden der Feder die unvergleichliche Gastfreundschaft an Bord des schönen Fahrzeuges gefeiert haben, Und nun biegt die „Augusta Viktoria“ ein in die von Tausenden von Schiffen durchfurchte Bai von New-York und hält damit ihren Einzug in die Neue Welt.

Aus dem Nebelmeer, welches über der wallenden Wasserfläche braust, lösen sich allmählich einzelne Punkte, zunächst die bekannte Kolossalfigur der Freiheitsgöttin, deren hoch emporgehobener Fackel allabendlich in breiten Streifen ein Meer von Licht entströmt, dann das mächtige Rondell des Forts auf „Governors Island“, dahinter die Kirchen und Schlote von Brooklyn, ihnen gegenüber die gewaltigen Getreidespeicher von Hoboken und Jersey City. Aus dem Grau des Hintergrundes tauchen nun auch die Häusermassen des unteren Theiles von New-York empor, daneben die Riesenbrücke, die traumhaft, wie mit feinen Bleistiftlinien in die Lüfte gezeichnet, den gewaltigen East River überspannt und unter den Großthaten des alles wagenden, vor keiner Schwierigkeit zurückbebenden amerikanischen Unternehmungsgeistes eine der stolzesten ist.

Von Jahr zu Jahr nimmt dies bereits tausendmal beschriebene Städtebild phantastischere Formen an, mehr und mehr verbirgt sich das Wahrzeichen von „Down town“, der schlanke 284 Fuß hohe Thurm der Dreieinigkeitskirche, hinter himmelanstrebenden Riesenbauten, jenen spezifisch amerikanischen „Wolkenstürmern“, zwischen denen wir in immer neu erregtem Staunen dahinschreiten.

Doch New-York, die Metropole der Vereinigten Staaten von Nordamerika, zu schildern, fällt nicht in den Rahmen unserer Aufgabe, und so reißen wir uns nach kurzem Verweilen von der königlichen Beherrscherin der Meere los, um dem Westen zuzueilen. Wir besteigen einen der herrlichen Salonwagen der „New-York-Central und Hudson River Railroad Company“ und fliegen den amerikanischen Rhein, den Hudson, hinan.

Welch ein eindrucksvoller, malerischer Strom! Drüben auf dem jenseitigen Ufer erhebt sich eine gigantische, lothrecht abfallende Felsenmauer von nahezu zwanzig englischen Meilen Länge, die berühmten „Pallisaden“. Ueppiger Baumwuchs bedeckt den Scheitel dieser nackten, bis 120 Meter hohen Basaltwände, durch deren senkrechte tiefe Risse hie und da einzelne Bäche in schäumenden Kaskaden hinabstürzen.

Oberhalb dieser Mauer erweitert sich der Strom zu einem See von fast einer Meile Breite, dem „Tappan Zee“, an den sich späterhin noch ein zweiter mächtiger Wasserspiegel, die „Haverstraw Bay“, anschließt; dicht bewaldete Berge von bedeutender Höhe und wunderbaren Formen bilden an ihrem Nordufer ein entzückend schönes und großartiges Panorama, die sogenannten „Highlands“ des Hudson. „Anthonys Nose“, „Crow Nest“ und „Storm King“ sind gewaltige Kuppen, deren trotzige Felsennasen drohend über den quirlenden Fluthen hängen. Inmitten dieser großartigen Landschaft liegt das Gibraltar des Hudson, West Point mit seiner berühmten Militärakademie.

Nach mehrstündiger Fahrt breiten sich die Gestade des königlichen Stromes weiter aus und der Blick wird von einer fernen Gebirgskette, den „Catskill Mountains“ gefesselt, in der einige wolkenumzogene Gipfel die Höhen unseres Riesengebirges erreichen.

Gar manche moderne Schriftsteller, welche den Hudson befahren und die hohe landschaftliche Schönheit seiner Ufer nach Gebühr gewürdigt haben, meinten bedauernd, es fehle dem Strom jener Zauber der Romantik, mit dem die Poesie der Sage und einer nahezu zweitausendjährigen Geschichte den Rhein umkleide.

Weit gefehlt! Freilich sind die Berge nicht mit altersgrauen Burgen gekrönt, die Städte und Dörfer nicht von ehrwürdigen Domen überragt, auch weiß der Volksmund nichts von liebetrunkenen Burgfräulein, kampfesmuthigen Rittern und ewig durstigen [350] Klosterbrüdern zu berichten. Darum aber ist die geschichtliche Vergangenheit des Hudson nicht minder reizvoll und bedeutend.

War es doch dieser selbe Strom, welchen im Jahre 1609 der im Dienst der Niederländisch Ostindischen Compagnie stehende berühmte englische Seefahrer Henry Hudson hinauffuhr, der mit seinem kleinen Schiffchen „Halbmond“ unter mancherlei Abenteuern bis an den Fuß der Catskill Gebirge vordrang und durch seine Berichte über das herrliche Land und den großartigen Fluß den Unternehmungsgeist seiner Reeder so zu entflammen wußte, daß sie zur Gründung eines Kolonialreiches, Neu-Niederland, schritten. Auf „Manhattan Island“, welches sie für die Summe von 24 spanischen Thalern (etwa 100 Mark) von den Rothhäuten erwarben, erbauten sie das Fort Neu-Amsterdam.

Leider sollten die strebsamen Niederländer sich ihres Besitzes nicht lange erfreuen, denn die englischen Kolonisten, welche sich in Neu-England und in Maryland festgesetzt hatten, drangen Schritt für Schritt gegen den Hudson vor, nahmen zunächst das Thal des Connecticut, dann Long Island ein; und wenn auch die biederen Holländer wider diesen Einbruch in ihr Gebiet Verwahrung einlegten, so vermochten sie auf die Dauer dem mächtigen Druck der von beiden Seiten vordringenden Briten doch nicht zu widerstehen. Mit der Eroberung von Neu-Amsterdam im Jahre 1664 gingen sie ihres Besitzthums verlustig, dessen Name von den Engländern in New-York umgewandelt wurde.

Auch aus jenen großen Zeiten, wo das Geläute der Sturmglocken die Bewohner der 13 Kolonien zum Kampfe um die Freiheit rief, welche ihnen durch die Gewaltherrschaft des alten Mutterlandes verkümmert zu werden drohte, giebt es der Erinnerungen am Hudson noch viele. Da findet man Ruinen gewaltiger Forts, die auf den Höhen einzelner Berge oder in tiefem Waldesdunkel verborgen liegen; das scharlachrothe Laub des Sumach, dessen Büsche sich über die mächtigen, moosüberwucherten Quadern neigen, mag den Amerikaner gar oft an das Blut erinnern, welches seine Vorfahren im Kampfe für ihre Unabhängigkeit vergossen haben.

Bei Albany, der politischen Hauptstadt des Staates New-York, verläßt die Eisenbahn den Hudson, um in das liebliche Thal des Mohawk einzutreten. In breiten Windungen durcheilt dieser Fluß die ehemaligen Jagdgründe der von Cooper verherrlichten Mohawk-Indianer, eines dem großen Irokesenbunde angehörenden Stammes, gegen welchen die seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts hier ansässigen Hessen und Pfälzer schwere Kämpfe auszufechten hatten. Nun ist das Kriegsbeil lange schon begraben, die Hochfluth der europäischen Einwanderung, welche sich auch über dieses Thal ergoß, hat die rothen Urbewohner hinweggeschwemmt und nichts ist von ihnen übrig geblieben als einige der wohlklingenden Namen, mit denen sie die Berge, die Ströme und Seen ihrer Heimath bezeichneten.

Mit Befremden vernimmt der Europäer neben diesen indianischen Namen auch solche, welche ihn an die ältesten Kulturstätten der Menschheit erinnern: „Ilion“, „Utika“, „Troy“ (Troja), „Syrakuse“, „Memphis“, „Niniveh“, „Palmyra“, „Carthago“ etc.; es ist, als hätten sich die sämtlichen Städte des Alterthums auf diesem Boden ein Stelldichein gegeben. Selbstverständlich sind all diese Ortschaften, die ihre stolzen Namen der Laune einiger klassisch angehauchten Städtegründer verdanken, blutjunge Städte, nur wenig älter als das gleichfalls am Mohawk auf den Vorbergen der Adirondacks gelegene „Dolgeville“, das seinen Namen einem wackeren Deutschen, dem im Revolutionsjahr 1848 in Chemnitz geborenen Alfred Dolge, verdankt. In seinem äußeren Anblick unterscheidet sich dies liebliche Bergstädtchen durch nichts von vielen tausend ähnlichen Ansiedlungen, aber trotzdem wird sein und seines Begründers Name in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit dereinst mit Ehren genannt werden müssen. Die der Wohlfahrt der Arbeiterschaft gewidmeten Einrichtungen, welche durch Alfred Dolge hier ins Leben gerufen worden sind und sich praktisch aufs glänzendste bewährt haben, sind von ganz hervorragender Bedeutung.

Wir deutschen Journalisten und Künstler fanden in dem lieblichen, von Wäldern und Wasserfällen umrauschten Bergstädtchen die herzlichste Aufnahme; die deutschen Lieder und Reden, die bei deutschem Bier im dortigen Turnverein erklangen, ließen uns gar zu leicht vergessen, daß wir fern, fern der Heimath seien.

Nach eintägigem Verweilen ging es weiter gen Westen, und es war bereits Mitternacht, als sich mit dem Rasseln der Dampfwagen ein fernher kommendes Brausen mischte, als fahre ein mächtiger Windstoß über die Höhen und wühle in den Kronen der Bäume. Bald stärker, bald schwächer, je nachdem der Wind die Wellen herübertrug, scholl das tiefe Brausen durch die dunkle Nacht, und als bald darauf der Ruf „Niagara Falls“ die Mitreisenden elektrisierte, bestrebte sich ein jeder, so schnell wie möglich den dumpfen Wagen zu verlassen.

Mit Ungeduld sehnten wir den Tag herbei, doch als wir in der Morgenfrühe erwachten, hatte die Witterung vollständig umgeschlagen. Regenschwere Wolken zogen vom Eriesee herüber, verfingen sich in den Föhren und mischten sich mit den weißen Nebelschleiern, die gespensterhaft aus der tiefen Felsschlucht emporstiegen, in welche der Niagara, der Abfluß des Ecie- in den Ontariosee, herniederprallt.

Trotz des beginnenden Regens trat ich in Begleitung meines Herrn Kollegen von der „Kölnischen Zeitung“ die Wanderung nach den Fällen an, zunächst nach jenem weltbekannten Punkte, den ich meinen verehrten Lesern im Bilde vorgeführt habe.

Wer vermöchte es, dies überwältigende Schauspiel, dies rasende Vorwärtsstürzen eines entfesselten Elementes zu schildern, dies Chaos wild dahinstürmender Wogen, die, wie von der eigenen Wuth berauscht, dem Abgrund entgegentosen, als wollten sie Himmel und Erde mit sich in ihren Untergang reißen. Was hilft es ferner, wenn wir versuchen wollen, durch Mittheilung von Zahlen dem Leser die Größe der Wassermassen anschaulich zu machen, wenn wir ihm eröffnen, daß nach Berechnung englischer Gelehrten allstündlich gegen 100 Millionen Tonnen[2] Wassers über den Absturz schießen, was hilft ferner die Angabe, daß die Höhe der Fälle 154 Fuß und ihre Gesamtbreite fast eine englische Meile betrage? Mehr als ein bedeutender Schriftsteller hat, vor dem Niagara stehend, seinen Bankerott, seine Unfähigkeit erklärt, ein der Großartigkeit der Fälle auch nur annähernd entsprechendes Bild zu liefern, und so möge man eben selber kommen, um in schweigendem Staunen vor den Offenbarungen dieses Weltwunders zu vergehen. –

Ungeachtet der immer häßlicher werdenden Witterung setzten wir unsere Wanderung fort, überschritten den schwanken Steg, den die Kunst des Deutsch-Amerikaners Johannes Röbling vom amerikanischen Ufer über den brausenden Strom hinweg zum kanadischen Ufer gespannt hat, warfen einen Blick auf die Fälle von jener Seite aus, besuchten dann die den Niagara in zwei ungleiche Hälften theilende Ziegeninsel und kletterten hier bis zu jenem Pnnkt hinab, wo halsbrecherisch angelegte Stege es ermöglichen, bis unter den westlichen, den sogenannten „American Fall“, zu gelangen. Zur Sommerzeit, wenn die schlüpfrigen Stege nicht mehr mit Eismassen bedeckt sind, wagen es einzelne, mit kolossalen Filzpantoffeln und Gummianzügen ausgerüstete Abenteurer, in die Geheimnisse dieser Wasserwelt einzudringen. Es ist ein schmaler Arm des Falles, der sich hier so heftig über die Klippen schnellt, daß zwischen diesen und den stürzenden Fluthen ein schmaler freier Raum bleibt, die berühmte „Cave of the winds“, „die Höhle des Windes“.

Aus früheren Jahren stehen mir die ungeheuren, viele Fuß dicken Wassersäulen, die unablässig aus der Höhe herniederbrausen und ein Getöse verursachen, als seien Hunderte von mächtigen Dampfhämmern neben, unter und über uns in rasendster Thätigkeit, noch in lebhafter Erinnerung. Noch fühle ich im Geist den unsäglichen Druck auf Lunge, Ohren und Gehirn, noch sehe ich den grünlichen Dämmerschein, in dem wir über schleimüberzogene und unter der furchtbaren Erschütterung bebende Planken von Klippe zu Klippe tappten, und mit derselben Freude wie damals begrüße ich, nachdem die tolle Irrfahrt durch dies Bacchanal beendet, das hellleuchtende rosige Licht.

Von der Höhle des Windes gelangten wir weiter bis zu jenem Punkt, wo der größere, westliche Arm des Niagarafalles ein ungeheures Hufeisen, die sogenannten „Horseshoe Falls“, beschreibt. Später besuchten wir während des tollsten Unwetters drei kleine Felsenriffe, die „drei Schwestern“, welche am Südwestende der Ziegeninsel liegen und durch schmale Brücken mit ihr verbunden sind.

Welch eine eigenartig wilde, tief ergreifende Landschaft! Altersgrauer Urwald, aus dunklen Cypressen und wetterzerzausten Föhren bestehend, bedeckt die Inselchen, deren Gestein unter dem heftigen Anprall der Wogen erzittert. An die nackten Stämme klatschte der strömende Regen, die Aeste und Zweige wanden und neigten sich wie in wahnsinniger Angst, als seien sie bestrebt, sich den rauhen Griffen des Sturmes zu entziehen, der in mächtigen Stößen über die wirbelnden Fluthen fuhr.

[351] Bilder fern entlegener Zeit stiegen inmitten dieser einsamen, majestätischen Waldwildniß empor, im Sausen des Windes, im Aechzen der Bäume, im Brausen der Wogen glaubte ich den Sterbegesang jener drei von dem Dichter verherrlichten Indianer zu vernehmen, die auf schwankem Kanoe den Katarakt hinunterfuhren und freiwilligen Tod der Knechtschaft vorzogen.

Mit diesem Bilde im Herzen schieden wir vom Niagara, für immer aber wird die Sehnsucht in uns bleiben, aufs neue seinem Donner zu lauschen und uns in seine Wunder zu vertiefen. –

Von Buffalo aus folgt die nach Chicago führende „Michigan Central Bahn“ zunächst dem Rande des Eriesees, um dann den Staat Michigan und die nordwestliche Ecke von Indiana zu durchqueren. Unserem Ziele, der Hauptstadt von Illinois, sind wir nunmehr nahe.

Wieder drängen sich geschichtliche Erinnerungen mit Macht in den Vordergrund und haften an der Person eines französischen Abenteurers, welcher im letzten Viertel des siebzehnten Jahrhunderts diese Länder durchzog und nichts Geringeres im Sinne hatte als die Gründung eines gewaltigen französischen Kolonialreiches, das sich von den Quellen des Mississippi bis zum Golf von Mexiko, von den Alleghanies bis zu den Felsengebirgen erstrecken sollte.

Kaum jemals war ein Mann zu solch großem Vorhaben mehr geeignet als dieser im Jahre 1643 zu Rouen geborene Robert Cavelier Sieur de la Salle, aber kaum jemals wurde ein mit gleich kühnem Geiste, mit gleichem Muth und Scharfblick, mit gleicher Entschlossenheit und beispielloser Ausdauer begabter Held so hartnäckig von Mißgeschick verfolgt wie dieser. Die Geschichte seiner sich über einen Zeitraum von vierzehn Jahren erstreckenden Wanderzüge im Gebiete der Großen Seen und des Mississippi sichert ihm unter den Pionieren des amerikanischen Westens unstreitig einen der ersten Plätze und wer weiß, wie heute die politischen Verhältnisse Nordamerikas beschaffen wären, hätte nicht eine tückische, von den eigenen Leuten entsandte Kugel den Plänen des kühnen Unternehmers ein vorschnelles Ende bereitet.

Das von La Salle begründete Vicekönigthum Louisiana überdauerte seinen Schöpfer nur kurze Zeit. Die Geschichte hatte andere Wandlungen im Sinne. Wie die auf dem Boden der heutigen Union gegründeten Kolonialreiche der Spanier, Holländer, Schweden und Engländer vergehen mußten, so mußte auch das großartig geplante Kolonialreich der Franzosen, Louisiana, zusammenbrechen, damit aus den Ruinen dieser Reiche jene machtvolle Republik emporblühen konnte, die für Millionen von Menschen eine neue glückliche Heimath geworden ist.

In der Ferne werden jetzt die Thürme, die Häuserkolosse von Chicago sichtbar, noch eine kurze Weile, und der Zug fährt schnaubend durch die Straßen der Riesenstadt, um unweit jener historischen Stelle zu halten, wo im Jahre 1803 jenes kleine Fort „Dearborn“ errichtet wurde, das den Keim zu der heutigen Weltstadt bildete. Von den Indianern niedergebrannt, später aber wieder aufgebaut, hatte die junge Ortschaft Chicago noch im Jahre 1831 jenes bescheidene Aussehen, wie unsere Schlußvignette es bietet. Dann aber, als Chicago der Mittelpunkt eines ausgedehnten Handels wurde, begann es sich auszudehnen, und während des letzten Menschenalters wuchs es zu jener Wunderstadt empor, deren fabelhafte Entwicklung einem Romane gleicht. 1833 nur 550 Einwohner zählend, beherbergt Chicago deren jetzt über 11/4 Millionen; früher ein armseliges Nest, das in wenigen Minuten umschritten werden konnte, nimmt es jetzt eine Oberfläche von 182 englischen Quadratmeilen ein; vor 50 Jahren fast gänzlich unbekannt, ist Chicago heute eine der meistgenannten Städte; und wohl der glänzendste Beweis für die selbst in der Geschichte des amerikanischen Westens ohnegleichen dastehende Leistungsfähigkeit seiner Bevölkerung ist es, daß Chicago, dies verhältnißmäßig so junge Gemeinwesen, es wagen durfte, die größte aller bisherigen Weltausstellungen ins Leben zu rufen und die gesamten Völker des Erdballs bei sich zu Gaste zu laden.


Chicago im Jahre 1831.



  1. Der unsern Lesern wohlbekannte Maler und Schriftsteller Rudolf Cronau hat sich im Auftrage der „Gartenlaube“ nach Chicago begeben, um für sie mit Stift und Feder eine Reihe von Bildern aus der Ausstellung zu zeichnen. Wir sind heute in der Lage, den ersten seiner Berichte unsern Lesern vorzulegen. Ein zweiter Brief, welcher die Eröffnung und die ersten Eindrücke schildert, wird in kürzester Frist erscheinen. D. Red. 
  2. 1 Kubikmeter = 1000 Kilogramm = 1 Tonne.