Weihnacht in und auf dem Eise

Textdaten
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Autor: Alfred Brehm
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Titel: Weihnacht in und auf dem Eise
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 52, S. 876–878
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1870
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[876]
Weihnacht in und auf dem Eise.
Mitgeteilt von Brehm.

„Wenn Sie glauben, auch mich mit einem stockgelehrten Votrage abspeisen zu dürfen, verkennen Sie mich gänzlich. Ich will eine Erzählung, keinen Bericht, eine Schilderung Ihres Lebens da oben im Winterdunkel, keine Angabe von Graden, Minuten, Secunden; ich wünsche von Ihnen unterhalten zu werden, wie es unter der ehrsamen Zunft der Landstreicher, zu welcher wir zählen, Brauch und Sitte.“

So ungefähr redete ich die beiden Führer unserer Nordfahrer an, als sie, die mit Recht Hochberühmten, Allverehrten, ist meinem Zimmer kaum warm geworden, obgleich ich aus eigener Erfahrung wußte, wie schwer es ist, zu erzählen, wenn Einem gesagt wird: Erzähle! Beide aber, Koldewey wie Hegemann, ließen sich nicht vergeblich bitten, sondern erzählten nach echter Seemannsweise, schlicht und ruhig von ihren Sindbadfahrten, von ihrem Leben, ihren Abenteuern, Gefahren, ihrem Hunger, ihrem Reichthum, ihrer Armuth, von allem Schrecken und Elend, welches sie erduldet, und von allem Erhabenen und Beglückenden, welches sie genossen. Und je mehr sie erzählten, um so stiller wurde ich, um so mehr schrumpfte mein Landstreicherthum zusammen vor solchen Reisen, und umsomehr bedauerte ich, ihre Worte nicht gleich niederschreiben, sie in ihrer wirkungsmächtigen Schlichtheit wiedergeben zu können. Aber wiederzuerzählen beschloß ich doch, so gewiß ich auch wußte, das Wenige, welches ich herauszugreifen vermöchte, werde nichts Anderes sein als eitele Stümperei.

Schon Anfangs September, schilderte Koldewey, mußten wir daran denken, in dem im Voraus bestimmten Winterhafen vor Anker zu gehen. Wir hatten hierzu eine kleine Bucht der Sabineinsel unter vierundsiebenzig Grad zweiunddreißig Min. nördlicher Breite und achtzehn Grad fünfzig Min. westlicher Länge von Greenwich gewählt, welche uns besonders geeignet zu sein schien. Sie schneidet von Süden nach Norden in das Land ein und gewährt eine nicht unmalerische Aussicht auf dasselbe. Im Nordosten liegt der Germaniaberg, im Nordwesten der Hasenberg, jener neunhundert, dieser, tausendsechshundert Fuß hoch, beide zum Theil mit Schneewehen bedeckt; ein Bach mündet in die Bucht; ein kleiner Landsee liegt zwischen ihr und dem Hasenberge. Ein Eiland, von uns die Walroßinsel genannt, dessen Klippen bis zu fünfhundert Fuß ansteigen und verschiedenen Seevögeln Brutplätze gewähren, liegt außen in südöstlicher Richtung vor und bildet einen Schutzwall gegen die antreibenden Eismassen; kurz, gedachte Bucht vereinigt in sich Alles, was wir hier oben erwarten und finden konnten.

Wir holten unser treffliches Schiff, die Germania, so tief in die Bucht, als möglich war, und gingen bei zehn Fuß Wasser vor Anker. Mitte Septembers froren wir ein und begannen nunmehr, uns für den Winter einzurichten. Das Schiff wurde abgetakelt, eine Mauer von fünfzehn Zoll dicken Eisblöcken rings um dasselbe aufgethürmt, über das Deck ein Zeltdach gelegt, aus welchem die Masten wie Schornsteine hervorragten – und unser Winterhaus war fertig. Vom Schiffe aus führte ein bestimmter Weg nach unserem Beobachtungsposten am Lande; hochaufgeschichtete Eisblöcke als Träger eines Schiffstaues, welches bei Dunkelheit zum Leitfäden, bei Sturm zum Geländer diente, bezeichneten ihn. Das Eis mußte eben zu Allem verwendet werden.

Mehr und mehr senkte sich die Sonne, kürzer wurden die Tage, länger die Nächte, beschränkter unsere Ausflüge, unergiebiger unsere bisher so ausgezeichneten Jagden. Aber wir hatten für Wintervorräthe gesorgt. Unser Deck glich einer Wildkammer. Schockweise hingen die Schneehühner, dutzendweise die Schneehasen in Reih’ und Glied über den Wanten, zwischen und neben Eisbären, Renthieren und Moschusochsen; mindestens fünfzehnhundert Pfund frisches Fleisch waren vorhanden. Am fünften November sahen wir die Sonne zum letzten Male. Blutig, roth stand sie über dem Gesichtsfelde, wie im Hochsommer um Mitternacht – doch Sie kennen ja die Mitternachtssonne und wissen, welche unbeschreibliche Zaubermacht sie ausübt, wenn sie ihren rothen Schimmer auf die schwarzen Berge und die blendenden Gletscher legt. Am sechsten November war es trübe, am siebenten sahen wir keine Sonne mehr. Die lange Winternacht war angebrochen, und nur der Vollmond, welcher allerdings acht Tage lang ununterbrochen, am Himmel stand und die schneeige Landschaft erleuchtete, nicht aber die trüben Nordlichter unterbrachen und erhellten sie. In solchen langen Mondscheinnächten, deren stille Pracht sich wohl erleben, nicht aber schildern läßt, unternahmen wir dann und wann auch längere Ausflüge, namentlich ehe Börgen vom Eisbären gepackt und uns beinahe entführt worden war – Sie kennen ja auch dieses Abenteuer aus des Betroffenen eigenem Munde. Mehr und mehr also wurden wir an das Schiff gefesselt. Von der Kälte hatten wir allerdings nicht zu leiden; denn nach dem ersten Fallen des Quecksilbers bis zu zwanzig Grad unter Null Anfangs Decembers hob sich die Wärme rasch wieder bis zu – vier Grad Réaumur, so daß wir die Thüren unserer Kajüte öffnen mußten, weil es uns in unserem geheizten Wohnraume zu heiß wurde. Zur Jagd aber waren selbst die Mondscheinnächte zu dunkel, und für das Spazierengehen wirkte der regelmäßige Besuch der Bären, denen wir in der Dunkelheit doch nicht gebührendermaßen begegnen konnten, wenigstens nicht ermunternd.

Draußen im Meere trieben Eisschollen, Strömung, Wogen und Stürme ihr Wechselspiel. Vom Schiffe aus vernahmen wir ununterbrochen das Knirschen und Dröhnen der mächtigen Massen. Bei ruhigem Wetter froren sie zusammen, bei Sturm rissen sie von einander, thürmten sich an der Walroßinsel zu mehr als hundert Fuß Höhe auf, barsten unter donnerndem Getöse, glitten übereinander weg, polterten krachend in die Tiefe, stürzten dumpf klatschend in das Meer und erhoben, verschichteten sich von Neuem. Dazwischen brauste und heulte der Sturm, pfiffen die von der Windsbraut gejagten Flocken. Ein solcher Sturm, welcher vom 16. bis zum 20. December wehete, brach dreihundert Schritte nur vom Schiffe die Eisdecke, in welcher dieses festsaß, mitten durch und trieb die losgesprengte, meilenbreite Scholle nebst tausend anderen mit sich weg. Wäre unser Schiff größer gewesen, dort, gerade an der Stelle des gewaltigen Risses hätte es liegen müssen, und – dann ade, Germania!

Drei ruhige Tage nach dem Sturme verscheuchten den Mißmuth, welchen er über uns Alle gebracht, aber nur um einer Stimmung Raum zu geben, die ich kaum anders als eine wehmüthige nennen darf. Ja, Wehmuth war es, welche uns überkam, ob wir, die gefahrtrutzigen, sturmgestählten Männer, es auch nicht zugestehen wollten. Wir schrieben den vierundzwanzigsten December. Goldene Tage der Kindheit – ihr leuchtet in’s Männeralter hinüber, eure Wärme strahlt selbst über die Eisfelder am Nordpol! Was war es doch nur? Warum gerade heute diese Stimmung? Das Wetter war gut und freundlich; es fehlte uns an Nichts; und doch lag eine gewisse Unruhe auf Aller Herzen!

Drinnen in Kajüte und Logis wurde geheimnißvoll gearbeitet. Jeder machte sich zu schaffen. Einen Weihnachtsbaum mußten wir haben. Das einzige Grün, dessen wir habhaft werden konnten, bestand in den Zweigen eines niedrigen Büschchens, der Andromeda tetragona, – sie aber genügte auch. Kunstfertige Hände bauten und banden aus ihnen ein Bäumchen auf und zusammen, und verzierten es mit Lichtern und jenem bunten Allerlei, welches Kinderseelen glücklich macht. Einige waren beschäftigt, den Raum zu schmücken, Andere sorgten für die Freuden der Tafel. Mit allen Flaggen des Schiffes wurden die Wände der Kajüte aufgeputzt, mit allen verfügbaren Lichtern der Raum festlich erleuchtet. In der Mitte breitete sich linnenbedeckt die Tafel mit dem strahlenden Weihnachtsbaume und Geschenken für Alle ringsum. Weitaus der größte Theil der letzteren war uns von deutschen Jungfrauen ausdrücklich zum Zwecke der Bescherung mitgegeben und bis dahin nicht berührt worden. Und die Geberinnen hatten es verstanden, zu schenken: es waren lauter brauchbare Sachen, welche später ein Jeder entdeckte – oft erst nach langem Mühen entdeckte, da sie mit mädchenhafter Schalkheit zehn- und hundertfach verborgen waren unter unscheinbarer Hülle.

Um sechs Uhr Abends, acht Uhr nach Bremer Zeit, rief ich mit der Glocke alle Mann zur Stelle, hielt, wie einem guten Hausvater geziemt, eine kurze Anrede an die kinderfreudigen Männer und vertheilte die Gaben, welche die gemüthvollen Landsleute im fernen Süden uns gespendet. Eine Flasche Schaumwein erhöhete die freudige Feststimmung, und jubelnd brauste der Ruf: „Hoch [877] alle Deutschen auf des Erdballs Runde, insonderheit aber alle deutschen Jungfrauen!" hinaus in die feierlich stille Nordlandnacht.

Und nun zum Festmahle, Nordpolfahrer!

Rasch hatten wir die Geschenke weggeräumt und Teller und Gläser an deren Platz gestellt; hereingebracht wurden die dampfenden Schüsseln, die schlanken Flaschen mit dem edelsten Weine der Erde; und „wir erhoben die Hände zum lecker bereiteten Mahle“. Der Koch hatte sich selbst übertroffen. Manche Blechbüchse mit eingemachtem Gemüse und anderen heimathlichen Gerichten war auf diesen Tag aufgespart worden und fand heute Verwendung; außerdem aber gab es Walroßzunge, Schneehuhnfricasse, Renthierziemer und Moschusochsenbraten.

„Wirklich abscheulich ist es von Ihnen, Koldewey, daß Sie alle Moschusochsen aufgegessen haben. Sie hätten uns doch einen lebend mitbringen können. Ich freilich kann ihn nicht unterbringen; aber mein alter Freund Bodinus würde sich unendlich über solchen Zuwachs des neugeschaffenen Berliner zoologischen Gartens gefreut haben."

„Ging nicht, lieber Doctor, – das Kalb, welches wir lebend hatten, würde ebenfalls gegessen, wenn auch nicht an jenem Weihnachtsabende, sondern während der Schlittenreise, welche uns bis zum siebenundsiebenzigsten Grade führte. Hinzuzufügen habe ich meiner Erzählung, daß unser Gelage in der herrlichsten Feststimmung verlief. Wir hatten von durstwürdigen und trinkkundigen Männern aus Bingen eine Kiste mit edlem Rheinwein zum Geschenk erhalten, welche, für den heutigen Abend aufbewahrt, jetzt geöffnet worden war und eine Flasche nach der anderen spendete. Je tiefer sie sich leerte, um so mehr erfüllte uns der heitere Geist des Rheinlandes. Durch die geöffneten Thüren der Kajüte und des Logis war ein so enger Verkehr mit der Mannschaft hergestellt worden, daß eine Stimmung uns und sie beseelte, der Trinkspruch von unserem Tische drüben, das Lied von dort in der Kajüte widerklang. Hoch Deutschland, hoch König Wilhelm, hoch die deutsche Flagge, hoch die Spender des edlen Weines, die Lieben in der Ferne, Alle, welche heute unser gedenken! tönte es bei Gläserklingen von uns nach drüben hinüber und rief den Widerhall in gleichen Worten und Klängen wach, und ‚Wann i komm', wann i komm', wann i wied'rum komm’‘ klang es im Liede unter Citherbegleitung von drüben zu uns herüber, und wir und die Mannschaft, die Mannschaft und wir sprachen, sangen, dachten Dasselbe, wie wie gemeinschaftlich zu Ehren derselben Personen getrunken hatten. Waren es die Geister des Rheinweins, war es die herrlich stille Nacht, war es der heutige Festtag — ich lasse es unentschieden, woher es kam, daß es uns nicht mehr in den Räumen litt, sondern hinausführte in's Freie, um unserer Stimmung Raum zu geben. Als ob Oberon's Zauberhorn auf uns gewirkt hätte, trieb uns ein unwiderstehliches Verlangen zu – tanzen! Rasch wurde mit Schaufel und Besen ein Plan vom Schnee befreit und geebnet; der einzige Spielmann des Schiffes erhielt seinen Hochsitz auf dem Geweih eines Renthieres, und der Ball auf dem Polareise begann und nahm seinen Fortgang. In Ermangelung der besseren Hälfte unseres Geschlechtes walzte Jedweder mit seinem Nebenmanne; selbst der ernste Copeland drehte sich im lustigen Reigen — Angesichts der ewigen Sterne und möglicherweise einiger von fern her zuschauender Eisbären und Schneefüchse.

So ging es bis tief in die Nacht; trotzalledem aber sah man von Stunde zu Stunde ein einsames Lichtlein in wundersamen Bogenwindungen und Zickzacklinien dem Beobachtungsposten am Lande sich zuwenden und nach geraumer Zeit von da ebenso wieder zurückkehren; denn selbst in der höchsten Festfreude durften die wissenschaftlichen Beobachtungen nicht unterbrochen werdern. Und so mächtig auch Wein und Feststimmung wirken mochten, die Instrumente wurden richtig abgelesen; die Tabellen wiesen keine Lücke auf.

Erst um Mitternacht wurde Befehl zur Ruhe gegeben. Mit dem Gedanken, über’s Jahr im Vaterlande und in Gesellschaft der heute schmerzlich entbehrten Damen dasselbe Fest zu feiern, schliefen wir ein, um am anderen Morgen – Sie erlassen mir wohl dessen Schilderung! Denn auch Sie wissen sicherlich aus eigener Erfahrung, daß selbst im edelsten Weine Dämonen schlummern, welche wach werden, wenn die besseren Geister verschwinden und – sogar in der Nähe des Nordpols hat der Katzenjammer Macht über den sterblichen Menschen! Glücklicher Copeland, Dein würdiges Haupt hatte doch wenigstens nur theilweise von Haarweh zu leide!I Aber wir? Ach, es war fürchterlich!“

Ich warf, dem Erzähler einen mitleidsvoll beistimmenden Blick zu; verstand ich jedoch vollkommen, welch unsägliches Weh der erste Weihnachtstag über die heitere Gesellschaft gebracht, wie er aller Kunst des selbst kranken Arztes, aller Geschicklichkeit des Koches gespottet haben mochte.

„Und Sie, Hegemann?“

„Auch wir haben," begann dieser, „unseren Weihnachtsabend gefeiert; bei uns aber ging’s stiller her. Nachdem wir am sechsten September den letzten Versuch gemacht, mit der ‚Hansa‘ die Küste' zu erreichen, mußten wir uns wohl entschließen, im Eise zu überwintern. Die Scholle, an welcher unser Schiff lag, hatte ein und dreiviertel Seemeilen Durchmesser und eine geschätzte Stärke von etwa sechszig Fuß, erschien uns also sicher genug. Fünfhundert Schritte vom Rande errichteten wir aus gepreßter Kohle, sogenannten Kohlenziegeln, Mauern zum Winterhause, vermörtelten die Kohlenstücke mit Wasser, welches gefrierend einen festen Kitt bildete, und überdeckten die Wände anfangs mit Segeltuch, später mit Brettern. Das Haus war zwanzig Fuß lang, vierzehn Fuß breit und gegen sieben Fuß hoch. Ausgangs Septembers war es vollendet und mit Proviant für zwei Monate versehen. Schon Anfangs Oktobers deckte fußhoher Schnee Haus und Schiff.

Wir trieben bereits seit Anfang Septembers langsam, mit Beginn des October schneller nach Süden hinab. Am neunzehnten October waren wir ungefähr eine deutsche Meile von der Liverpool-Küste entfernt. Unsere Scholle wälzte sich, getrieben von einem heftigen Sturme, am Landeise dahin. Andere Schollen thürmten an ihr, am Landeise sich in die Höhe und hoben schließlich auch die ‚Hansa‘ zwanzig Fuß empor. Das arme Schiff krachte in allen Fugen, so furchtbar, daß in uns kein Zweifel aufkommen konnte über sein endliches Schicksal. Mit allen Kräften brachten und warfen wir Geräthschaften und Proviant auf das Eis. Ein Glück, daß wir gerade beschäftigt waren, letzteren umzustauen, und ihn zur Hand hatten — einige Tage früher oder später wäre er für uns verloren gewesen. Auch heute hatten wir wenig Zeit. Um Mittag war das Schiff gehoben worden; gegen drei Uhr Nachmittags ließ die Pressung nach, und mit schwerem Leck sank die ‚Hansa‘ in ihre Lage zurück. Eine Eiszunge unter dem Kiel hielt sie noch in einer gewissen Höhe über dem Wasser; brach diese ab, so mußte sie verloren sein. Die Pumpen versagten ihren Dienst; das Wasser gefror in den Ausflußröhren und auf dem Deck vor dem Abfließen. Wir retteten, was zu retten war, zuletzt auch Masten und Raaen, um genügendes Brennholz zu haben. Aus Furcht, daß das Schiff nicht allein jene Eiszunge, sondern auch denjenigen Theil der Scholle, auf welcher der gerettete Proviant noch lag, abbrechen könnte, lösten wir endlich die Taue, an denen es noch hing; es neigte sich zur Seite, schwankte hin und her und sank vollends während der Nacht in die Tiefe hinab.

Am zwanzigsten October bezogen wir das Haus und schliefen zum ersten Male in ihm. An Trinken war heute nicht zu denken; zum Kochen gab es keine Zeit, und so blieb denn nichts Anderes übrig, als zum Schiffszwieback gefrorenen Wein zu essen. Die Kälte von -20 Grad, welche im seinem Innern herrschte, sank zwar, nachdem die Oefen angeheizt worden waren, nach und nach bis auf -5 Grad Réaumur; doch verbrachten wir eine sehr unruhige Nacht in der neuen Wohnung, weil uns das damals noch ungewohnte Dröhnen des Eises störte und beängstigte. Die nächsten vierzehn Tage vergingen unter beständiger Arbeit, behufs besserer Einrichtung des Hauses, welches nach und nach so wohnlich als möglich gemacht wurde, obgleich es noch immer wie eine Räuberhöhle aussah, da neben werthvollem Geräth die rohesten Kisten und Fässer standen. Anfangs Novembers lagen wir so tief unter Schnee, daß wir uns einen Gang von zwanzig Fuß Länge von der Thür aus in’s Freie bahnen mußten. Nach und nach wurde derselbe zu einem Stollen, welcher den eisigen Wind trefflich von der Thür abhielt, umsomehr, als er mit Absicht in Krümmungen angelegt worden war.

Wir trieben ununterbrochen nach Süden, bald langsamer, bald rascher, anfänglich so schnell, daß wir fürchten mußten, zu bald nach Cap Farewell, der Südspitz Grönlands, zu gelangen. Am 17. December überfiel uns bei nur drei bis vier Grad Kälte schwerer Sturm. Unsere Scholle erschütterte in ihren Grundfesten unter entsetzlichem Dröhnen und Knallen. Am nächsten Tage war die Sonne auch für uns, obschon blos für kurze Zeit, untergegangen.

[878] So kam der Weihnachtstag heran. Ich war ein wenig spazieren gegangen und kehrte Nachmittags zum Hause zurück. Ein wachestehender Matrose empfing mich in dem erwähnten Gange und der Bitte, nicht weiter zu gehen. Um sechs Uhr durfte ich eintreten. Ein Weihnachtsbaum brannte in dem festlich, das heißt mit allen unseren Lampen erleuchteten Hause: die Steuerleute hatten ihn aus einem Tannenstocke und Besenreisern gefertigt und Dr. Laube’s Wachsstock zu Lichtern verwendet; Lebkuchen und Nachbildungen von Eskimos aus Kuchenteig waren vom Koche geformt und gebacken worden und dienten zu weiterem Schmucke. Ich vertheilte etwas Portwein und die für uns bestimmt gewesenen Geschenke nach des Gebers Willen durch eine Tombola. Um sieben Uhr war große Tafel. Wenige Tage vorher hatte uns ein Eisbär besucht und dabei sein Leben gelassen; seine Schinken bildeten den Festbraten. Außerdem gab es schönes frisches Brod und Chocolade und nach Tisch ein Glas Punsch. Wir waren vergnügt und doch sehr still. Die Gedanken wanderten nach der Heimath. Wir lasen die Zeitungen, in welche unsere Geschenke eingewickelt gewesen waren, mit Theilnahme, gaben sie von Hand zu Hand, lasen sie wieder und wurden immer stiller dabei. Wir waren nicht mehr in dem elenden Raume auf der im Weltmeere treibenden Scholle, sondern daheim, hörten den Jubel des Weihnachtabends, sahen uns im Kreise unserer Lieben: wir träumten wachend, waren glückselig dabei – und doch mag verstohlen eine oder die andere Thräne in den Bart gefallen sein. Ob es im Raume rauchte? Ich weiß es nicht. Nach Mitternacht suchten wir unsere Lagerstätten auf. Am andern Morgen waren wir wieder Männer, mußten es auch sein; denn unsere Lage forderte alle unsere Thatkraft heraus.“

So weit will ich der Erzählung Hegemann’s folgen. Wie das Haus im Innern eingerichtet war; wie man in ihm lebte und darbte; wie die Stürme darüber hin wetterten und brausten; wie die Scholle mehr und mehr zertrümmerte; wie es kam, daß man eine Bucht die Schreckensbucht nannte; wie am 16. Januar die Scholle zerspaltete, so daß der Riß mitten durch das Haus ging, dieses mit Wasser sich füllte, durch ein Fenster im Dache verlassen und aus den Trümmern eine neue kleinere Hütte gebaut werden mußte; wie man dann zum Theil in ihr, zum Theil in den Böten wohnen und schlafen mußte; wie man ununterbrochen von Furcht gequält, auch diese Hütte und die rettenden Böte zu verlieren, Tag und Nacht scharfe Wacht hielt; wie ein Mitglied der Gesellschaft in Folge der ausgestandenen Schrecken den Verstand verlor; wie man endlich, nachdem man zweihundert Tage auf der Scholle zugebracht, in den Böten sie verließ, dem Lande zuruderte und nach drei Wochen schwerster Arbeit zwischen und auf dem Eise das Land erreichte; wie man längs desselben weiter steuerte, am 13. Juni endlich halbverhungert mit gehißter Flagge in Friedrichsthal landete und von Missionären empfangen wurde mit dem Rufe: „Hurrah, das sind Deutsche!“ – wie man schüchtern dem Zwiebackkorbe der Frauen der Missionäre zusprach und den Hunger doch immer nicht zu stillen vermochte; was man sonst noch erlebte, Schlimmes und Heiteres, bis man in Kopenhagen landete: das werden die Männer der „Hansa“ im Vereine mit denen der „Germania“ uns in ihrem demnächst erscheinenden Reisewerke erzählen. Mit Stolz dürfen wir auf unsere deutsche Flagge blicken, welche, als sie von anderen Meeren verdrängt war, hoch oben im Eismeere flatterte, mit Stolz auch auf die stillen Großthaten dieser Männer schauen, mit Stolz ausrufen, wie unsere Missionäre unter den Eskimos es gethan: Hurrah, das sind Deutsche!