Wanderungen durch Wien/Die Innere Stadt

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Autor: V. Chiavacci
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Titel: Die innere Stadt
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aus: Die Gartenlaube, Heft 8, S. 123–127
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1891
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Serie: Wanderungen durch Wien
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Wanderungen durch Wien.

Von V. Chiavacci. Mit Zeichnungen von W. Gause.
Die innere Stadt.

Die österreichische Kaiserstadt an der schönen blauen Donau steht in diesen Tagen am Ausgangspunkte einer neuen Entwicklungsphase. „Groß-Wien“, das lang erstrebte und lang bestrittene Ziel, soll endlich zur Wahrheit werden, und mit der Auflassung der Linienwälle und der Eingemeindung der Vororte geht die lange zum verhältnißmäßigen Stillstand verurtheilte Stadt einer ganz neuen – und hoffen wir, glücklichen Zukunft entgegen.

An dieser Wende in der Geschichte der alten Kaiserstadt dürfen wir wohl die Leser einladen, mit uns einen Gang durch ihre Straßen und Gassen, ihre Gärten und Plätze zu machen; und wenn dann einst die späteren Bürger des neuen Wiens erfahren möchten, wie es einst, vor jener Wende, ausgesehen hat in ihrer Heimath, dann mögen sie den alten „Gartenlaube“-Band aufschlagen und im Geiste unsere heutige Wanderung wiederholen.

Ein Spaziergang durch Wien muß nothwendig vom Stefansplatz seinen Ausgang nehmen. Daß hier das Herz der alten Kaiserstadt pulsirt, ersieht man nicht nur aus dem riesigen Verkehr, der zwischen der Kärntnerstraße und der Rothenthurmstraße an der Hauptfassade des ehrwürdigen Domes vorüberfluthet; weit empfindlicher noch zeigen dies die hohen Miethpreise an, welche für Kaufläden und Wohnungen in diesem Stadttheile bezahlt werden. Von altersher galt der Stefansthurm, dessen Vollender, Meister Friedrich Schmidt, in diesen Tagen erst unter allgemeiner Theilnahme zu Grabe getragen wurde, den Wienern als das Wahrzeichen und Heiligthum ihrer Stadt. Wenn Krieg, Pest oder Hungersnoth die Bürger von ihrer friedlichen Arbeit wegschreckte, so versammelten sie sich in der dämmerigen Halle des uralten Gotteshauses und die tiefen Glockenklänge des Thurmes hallten zusammen mit den inbrünstigen Gebeten des bedrängten Volkes. In Freud und Leid, bei Siegen und Niederlagen war der Platz vor dem gothischen Riesenbau die Stätte, an welcher das Volk von Wien gemeinsame Kundgebungen veranstaltete. Seit Jahrhunderten wurzelt daher die Liebe zu dem herrlichen Gotteshause in dem Herzen des Wieners, und weil er gern Menschen und Dinge, die ihm lieb geworden, in ein gemüthliches Verhältniß zu sich setzt, so fand er auch bald für den Dom einen vertraulichen Kosenamen. Der „alte Steffel“ ist das zärtlich geliebte Wahrzeichen, der Stolz jedes Wieners. Wenn diesen in schlimmen Tagen kleinmüthige Gefühle beschleichen, so stärkt ein Blick auf den „alten Steffel“ sein Selbstvertrauen und seinen Muth. Er fühlt sich als den Enkel eines wackeren Geschlechtes, das über ein Jahrtausend hier gewaltet und Großes geleistet hat – zäh und ausdauernd in furchtaren Zeiten der Gefahr, emsig und lebensfroh in guten Tagen. Wenn der Wiener in die Fremde zieht, so ist der blinkende Schein des goldenen Adlers auf dem Stefansthurme das letzte Bild, das in seinem umflorten Auge glänzt, und wenn ihn das Heimweh in der Fremde anwandelt, so giebt er seiner Sehnsucht mit den Worten Ausdruck:. „Ach, könnte ich nur einmal noch die Spitze des Stefansthurmes schauen!“

Nach dem Gesagten ist es kein Wunder, daß der alte behäbige Wiener Bürger, welchen unsere Anfangsvignette zeigt, den Ausdruck der Bewunderung, den er im Antlitz eines den Stefansdom umwandelnden Fremden beobachtet, glänzenden Auges und behaglich schmunzelnd zur Kenntniß nimmt.

Der Fremde hat den rothgebundenen Reiseführer in der Hand, blickt aber nur selten hinein; er ist ergriffen von dem Zauber des mächtigen gothischen Bauwerkes, an dessen Riesengliedern sein Auge staunend emporgleitet, während es bei dem schönen Ebenmaß der Theile und dem reichen, phantasiervoll durchgebildeten Zierat mit sichtlichem Interesse verweilt. Das ist genug für unsern Wiener, um ihn für den Fremden einzunehmen. Er umkreist ihn dergestalt, daß er ihm immer ins Antlitz sehen kann, und jeder Ausdruck der Bewunderung und Freude in den Mienen des Fremden wirkt auf die Gesichtsmuskeln des alten Herrn zurück und ruft ein drolliges Echo derselben Empfindungen wach, die er aus dem Gesichte des Fremden zu lesen glaubt. Dabei bemächtigt sich seiner eine nervöse Unruhe; er öffnet mehrmals den Mund, um den Fremden anzusprechen, scheint aber das schickliche Wort nicht zu finden.

Als aber der Fremde auf seiner Wanderung vor der Hauptfassade angekommen ist und sich anschickt, sich aus dem Reiseführer Rath zu holen, da leidet es den Alten nicht länger in seiner stummen Rolle. Er tritt an den Mann, den er sich nun einmal zum Schützling erkoren hat, heran und sagt zu ihm in einem Tone, als ob er ein längstbegonnenes Gespräch fortsetzte.

„Und das ist das Riesenthor. Wie, was haben Sie gesagt? Ja, Riesenthor heißt’s. Warum? Das weiß ich selber net. Wahrscheinlich, weil es das größte ist. Eigentlich heißt es das Westportal. Einer der ältesten Theile des ganzen Bauwerks, sehr merkwürdig. Schauen Sie nur das große Mittelbild an: Jesus im Eirund! Ein Meisterwerk, so einfach und so verständlich: der Erlöser segnet alle, die zu ihm eingehen. Das ist noch alles romanisch, auch die beiden Heidentürme und die symbolischen Friesleisten; da könnte man stundenlang hinschauen; hat alles eine tiefe Bedeutung. Haben Sie die Kanzel an der Außenseite des Domes schon gesehn? Geschichtlich sehr merkwürdig! Hier hat der asketische Mönch Capistran in lateinischer Sprache zum Kreuzzug gepredigt und die Wiener zur heldenmüthigsten Begeisterung hingerissen. Kopf an Kopf haben sie gestanden und athemlos der Predigt des klapperdürren Männchens gelauscht, das mit dem Kruzifix in der Rechten und der Fahne in der Linken seine begeisternden Worte wie Donnerkeile unter die Menge schleuderte. Nicht wahr, Sie möchten auch mehr zurücktreten, um einen Gesammteindruck zu gewinnen? Ja, das ist ja der Schmerz von uns Wienern, daß uns der Stefansplatz gar so stiefmütterlich zugestutzt worden ist. Da, seh’n Sie das Riesengebäude an! Wie das sich protzig unserm ‚alten Steffel‘ gegenüberstellt, als wollt’s sagen: ‚I bin a wer!‘ Ja, seh’n S’, lieber Herr, das ist halt wo anders anders. Wenn man ein bißl in der Welt herumgekommen ist, so stellt man Vergleiche an. Hierher gehört ein Monumentalbau à la Galeria Vittorio Emanuele in Mailand. Hab’ ich recht oder unrecht? Ah, richtig; bald hätt’ ich vergessen, mich Ihnen vorzustellen: Hainfelder, Fabrikant. Einer, der noch übrig geblieben ist aus der guten alten Zeit.“

Mit diesen Worten, welche er in dem Bestreben, hochdeutsch zu reden, mit starken Anklängen an seinen heimischen Dialekt hervorsprudelte, hatte er sich als echter „Wiener vom Grund“ ausgewiesen, der trotz aller Begeisterung für seine schöne Vaterstadt doch stets mit einer Art Wollust die Mängel und Unterlassungssünden seines Gemeinwesens hervorhebt.

Der Fremde lüftete den Hut und nannte seinen Namen: „Fritz Werner.“

„Freut mich, freut mich sehr,“ sagte Herr Hainfelder. „Sie g’fall’n mir, Herr Fritz Werner. Ich schau’ Ihnen schon lang’ zu, mit welcher Begeisterung Sie unsern Steffel betrachten. So was thut ein’ alten Wiener wohl. Wenn’s angenehm ist, so begleite ich Sie und zeig’ Ihnen die Stadt.“

Der Fremde nahm das Anerbieten seines freundlichen Berathers mit Vergnügen an, und Herr Hainfelder führte ihn zunächst über den „Stock im Eisen“-Platz auf den Graben.

In einer Nische der seinerzeit vielbesprochenen und bewitzelten Springerruine steht das uralte und ehrwürdige Wahrzeichen der Stadt, welches man den „Stock im Eisen“ nennt. Es ist dies ein mehr als mannshoher bis auf das letzte Fleckchen mit Nägeln [124] von allen Größen beschlagener Baumstamm, ein Ueberbleibsel jenes Theiles des Wienerwaldes, der sich vor vielen Jahrhunderten bis hart an die Mauern der Stadt erstreckt hatte. Jeder Schlossergehilfe schlug, bevor er auf die Wanderschaft ging, in diesen Stamm einen Nagel ein. Diese hüllten mit der Zeit den ganzen Stamm in jenen Eisenpanzer, wie er noch heute besteht.

Das Dasein dieses Baumstammes beweist auch, daß dieser Stadttheil sich einstmals außerhalb der Stadtmauern befunden hat, und in der That standen der Stefansdom und alle westlich vom Bauernmarkt und südlich vom Graben liegenden Stadttheile zur Zeit des Babenbergerherzogs Heinrich Jasomirgott († 1187) außerhalb der Stadtmauern. Der Graben, die vornehmste und volkreichste Verkehrsader der inneren Stadt, war damals ein wirklicher Festungsgraben und auf dem „Stock im Eisen“-Platz stand früher ein großes Befestigungswerk, dessen Mauerreste bei dem im Jahre 1866 vorgenommenen Umbau der Häusergruppen vor dem Trattnerhof aufgedeckt wurden.

Die Fischerstiege.   Die Kirche „Maria am Gestade“.

Seit Jahrhunderten bildete der Graben ein getreues Spiegelbild des Lebens und Treibens der Stadt. Alle Wandlungen in Sitten und Gewohnheiten der Bewohner Wiens brachte dieser Stadttheil zuerst und am anschaulichsten in dem Gewoge seiner Spaziergänger, in dem Stile seiner Häuserfronten, in dem Gepräge seiner Schauläden zum Ausdruck.

„Sehn S’, das ist unser Graben,“ sagte Herr Hainfelder. „Da war halt von jeher der größte Verkehr und das bunteste Treiben. Wenn Sie sich da vor den Trattnerhof hinstellen, übersehen Sie das ganze Bild. Rechts hinter Ihnen der Stefansthurm; das prächtige Haus mit den bemalten Feldern gehört eigentlich noch zum ‚Stock im Eisen‘-Platz. Es ist in zierlicher deutscher Renaissance ausgeführt und steht an der Stelle des uralten Hauses zum ‚güldenen Becher‘. Dann an der Stelle des ehemaligen Schlossergäßchens der Prachtbau des Fabrikanten Haas, daran anschließend der berühmte Trattnerhof; endlich das Sparkassagebäude; gegenüber der stolze Neubau ‚Grabenhof‘ mit seiner Säulenfassade, weitere Neubauten an der Ecke der erweiterten Spiegelgasse; zwischen den modernen Palästen mit den prunkvollen Schauläden steht noch manches ehrwürdige Gebäude aus alter Zeit. Die Dreifaltigkeitssäule da vorne wurde von Leopold I. 1687 zum Andenken an die Abwendung der Pest errichtet. Jetzt bitte ich aber in das Gewurl zu sehen,“ mahnte Herr Hainfelder jetzt seinen Begleiter.

„Das Gewurl? Was ist denn das?“ fragte der Fremde.

„Gewurl heißt bei uns ein Gewoge, ein buntes Treiben und Jagen,“ erklärte Herr Hainfelder. „Auf dem Graben finden Sie nämlich einen Auszug der Bevölkerung Wiens, wenn ich so sagen darf: eine Taschenausgabe. Die wichtigste Figur ist der Grabenfiaker. Die Grabenfiaker sind sozusagen das Garderegiment unter den Wiener Fiakern. Sehen Sie sich nur so ein ‚Zeugl‘ an, wie fesch und elegant der leichte Wagen, wie nett und proper die flinken Rössel g’halten sind. Und der Kutscher, gewohnt, mit Kavalieren zu verkehren, ist selbst ein Kavalier vom Scheitel bis zur Sohle. Den ‚Stößer‘ keck aufs linke Ohr gesetzt, ein feines Jackett mit flottem Schnitt, unter welchem die lichte Weste und die schwere Uhrkette mit dem Maria Theresiathaler sichtbar ist, eine Hose nach dem ‚höchsten Schan‘ (Genre): so steht er da, der Grabenfiaker, [125] und fragt jeden, den er für einen ‚Gawlier‘ hält: ‚Fahr’n m’r oder spar’n m’r, Euer Gnaden?‘ Sie, lieber Herr, wenn Sie Wien genießen wollen, müssen S’ mit einem Grabenfiaker in den Prater fahren. Wenn er so seine Katzeln ‚fürischießen‘ laßt und sich durch das Gewühl von Wagen und Fußgängern durchwindet wie ein Wiesel, das ist der höchste Genuß, sag’ ich Ihnen. Der Gotschewer (Südfrüchtehändler), der am Portal des Trattnerhofes seine ‚Pomeranschen und Feigen‘ anbietet, gehört, seitdem ich denk’, zu den bekannten Grabenfiguren, der ‚Pintscherlverkäufer‘ ebenfalls, der unter den Armen und in jeder Rocktasche ein junges Hündchen hat. Der Mann mit dem südlichen Gesichtsausdruck, der ein Brett mit zierlichen Gipsfiguren auf dem Kopf trägt, ist der ‚Figurini‘; und schau’n S’ Ihnen die ‚fesche Godl‘ mit der ‚Butt’n‘, über welcher die geputzten Steifröcke hängen, an. Das ist das ‚Wiener Wäschermadl‘. Alle sehen freilich nicht so fesch aus wie die da. Aber die hübsche Figur, das kleine ‚Fußi‘ und das kecke ‚Goschi‘ finden Sie fast bei jeder.

Stefansdom.

 Riesenthor des Stefansdoms.

Da haben Sie noch einen Wiener Schusterbuben, ein verwegenes Gewächs, das immer zu Schabernack und tollen Streichen aufgelegt ist. Was glauben Sie, wer dieser elegante Herr ist, der eben in einen Fiaker einsteigt, um sich in den Prater fahren zu lassen? Das ist ein Kaffeehausmarqueur, der seinen freien Tag hat; an solchen Tagen ist er Kavalier vom reinsten Wasser und wirft das Geld mit vollen Händen hinaus. Die eleganten Damen und Herren machen ihre Einkäufe in den prachtvollen Kaufläden. Denn hier sind die stolzesten Firmen in Kunst-, Bronze- und Lederartikeln, in Bijouterie und Rauchwaren. Ein Geschenk, das die Marke einer Grabenfirma trägt, hat für den Beschenkten einen höheren Werth. Die jungen Herrchen in den auffallenden Kleidungen und mit dem komisch protzigen Wesen gehören der zahlreichen Gilde der ‚Wiener Gigerln‘ an. Es sind junge Leute, welche in ihrem Leben einen einzigen guten Einfall gehabt haben, nämlich den, daß sie in der Wahl ihrer Eltern vorsichtig waren. Ihr ganzes Denken und Trachten geht in ‚Pschütt‘ und ‚Chic‘ auf. Ihr höchster Ehrgeiz besteht darin, alle andern Pflastertreter durch bizarre Einfälle in Kleidung und Haltung, in blöden Wortverdrehungen und unmöglichen Gliederverrenkungen zu übertreffen. [126] Der freche Geselle mit dem herausfordernden Blick und dem brutalen Gesichtsausdruck, welcher durch die schief gesteckte Virginiacigarre und die über die Schläfen gedrehten ‚Sechsundsechziger‘ ein charakteristisches Gepräge bekommt, ist ein ‚Strizzi‘ aus den westlichen Vororten, ein ‚Pülcher‘, der sich wahrscheinlich mit der Burgmusik bis hierher verirrt hat und jetzt nach einem Fang ausspäht.“

„Verzeihung! Was ist denn ein ‚Strizzi‘ und ein ‚Pülcher‘?“ fragte der Fremde.

„Das sind unsere Lazzaroni,“ erwiderte Herr Hainfelder, „arbeitsscheue, verwahrloste Bursche, welche ihren Lebensbedarf aus hundert unlauteren Erwerbsquellen schöpfen. Im Winter bringen sie die Nächte in ‚Schnapsbutiken‘ oder in verrufenen ‚Tschecherln‘, ganz kleinen Kaffeeschänken, zu, im Sommer schlafen sie bei der ‚grünen Bettfrau‘ und machen die Wohnungen unserer Sommerfrischler unsicher. – Geb’n S’ acht, der ‚Pülcher‘, den Sie hier seh’n, ist ein Taschendieb. Ich hab’ dafür einen unfehlbaren Blick,“ fuhr Herr Hainfelder fort. „Ich bitt’ Sie, Herr von Werner, wollen Sie mir eine kleine Gefälligkeit erweisen? Stellen Sie sich gütigst vor diese Buchhandlung, halten Sie Ihren rothen Bädeker in der Hand und studieren Sie arglos die ausgestellten Bücher!“

Der Fremde that, wie ihm geheißen, und Herr Hainfelder stellte sich in unauffälliger Weise in seine Nähe. Nach einigen Minuten bemerkte der Strolch den Köder, rekognoscirte eine Weile und drängte sich dann ganz nahe an den Fremden heran. Plötzlich that er, als ob er von einem Passanten einen Stoß erhalten hätte, hielt sich einen Augenblick an den Fremden an und sagte „Paardon!"

„Halt!“ rief Herr Hainfelder und packte den Gauner bei der Rechten, „hab’ ich Dich, Bürscherl, und so schön in flagranti – na, nix wegwerfen, ’s Geldbörserl schön b’halten, bis die Sicherheit ’kommen is.“

Bei diesen Worten umklammerte er die Hand des Strolchs wie in einem Schraubstock, so daß es diesem unmöglich war, die gezogene Geldbörse fallen zu lassen. – Sofort versammelte sich um die Gruppe eine ungeheure Menschenmenge, bis ein Sicherheitswachmann erschien und den Burschen dingfest machte.

„Ich dank’ Ihnen vielmals, und nix für ungut,“ sagte Herr Hainfelder zu seinem Begleiter. „Ich habe Ihnen nur an einem Beispiel zeigen wollen, wie gut der Fremde thut, nicht gar zu arglos seine Schaulust zu befriedigen. Wien ist zwar kein solches Goldland für Diebe wie London oder Berlin, aber die paar Fremden, welche uns mit ihrem Besuch beehren, sind für unsere Gauner doch eine gute Kundschaft.“

Der Fremde mußte lächeln über diesen Taschendiebentlarvungskursus mit Demonstrationen und schritt an der Seite seines freundlichen Führers weiter über den eleganten und belebten Kohlmarkt auf den Michaeler Platz.

„Da hat unser liebes, trauliches altes Burgtheater gestanden,“ sagte Herr Hainfelder, auf eine Gebäudeecke des von Fischer von Erlach entworfenen und teilweise ausgebauten Burgtraktes mit der Winterreitschule deutend. „Hier stand vor zwei Jahren noch der unscheinbare Bau, in dessen beschränkten Räumlichkeiten durch viele Jahrzehnte hindurch den Wienern der edelste Kunstgenuß geboten wurde. Ein Gefühl der Wehmnth beschleicht jeden gebildeten Wiener, wenn er den nunmehr leeren Platz betrachtet, wo jeder von uns soviele Stunden reiner Freude und edelster Kunstbegeisterung genossen hat. Der Einlaß ins Burgtheater! Herr, das war zu meiner Zeit ein sehenswerthes Schauspiel. Wie oft habe ich mich, kaum daß ich den Löffel weggelegt, um 2 oder 3 Uhr nachmittags unter dem Einfahrtsthor der Reichskanzlei oder im Hofe der Winterreitschule aufgestellt und mit Hunderten von Kunstbegeisterten geduldig auf das Oeffnen des Thores gewartet. Was da für Leute zusammenkamen! Die Witze und das Kritisiren, die Schwärmerei der halbflüggen Mädchen für ihre Götter, das Nachahmen der Schauspieler, das Hersagen klassischer Stellen –. Ja, ja, das war eine schöne Zeit! Vielleicht erscheint sie mir gar so schön, weil ich damals jung war; ich bilde mir wenigstens ein, daß ich später, als ich mir einen festen Sitz kaufen konnte, niemals wieder das Hochgefühl der Begeisterung empfunden habe wie damals. Das ist jetzt alles vorbei, vorbei!“

Der unvollendete Theil der Burg, von dem ein herrliches Bruchstück in der Winterreitschule des Fischer von Erlach vorhanden ist, soll jetzt nach den Plänen dieses Meisters ausgebaut werden, und zu diesem Zwecke hat man auch schon mit dem Niederreißen der Häusergruppe zwischen dem Michaeler Platz und der Schauflergasse begonnen.

„So, jetzt kommen S’ geschwind mit mir auf den inneren Burgplatz mit dem Kaiser Franz-Denkmal, damit wir die Burgmusik nicht versäumen.“ Herr Hainfelder nahm seinen Schützling am Arm und führte ihn durch das Einfahrtsthor der Reichskanzlei auf den inneren Burgplatz, wo eben die Burgwache mit klingendem Spiel abgelöst wurde. Die „Burgmusik“ bietet ein eigenartiges Schauspiel, welches kein Fremder versäumen sollte. Die Wachabtheilung. welche unter Voranschreiten einer Militärkapelle aus einer der Vorstadtkasernen in die Burg marschirt, um dort ihre Posten zu beziehen, wird regelmäßig von einem lawinenartig anschwellenden Schwarm von Gassenjungen, beschäftigungslosen Individuen, Vagabunden und Spaziergängern begleitet, welche die schöne Gelegenheit eines Freikonzertes in behaglichster Lauue genießen.

Nachdem sich dieses buntbewegte Bild vor den Augen unserer beiden Wanderer abgespielt hatte, warfen sie noch einen Blick auf die geschichtlich und architektonisch gleich bedeutenden Gebäudeflügel, welche den inneren Burgplatz umrahmen: die herrliche Fassade der Reichskanzlei mit den beiden Kolossalgruppen an den Seiten der Durchfahrten, dann den Amalienhof und endlich den uralten Schweizerhof mit dem romantischen Schloßgraben und dem malerischen Epheugeranke, in welchem viele Tausende von Spatzen nisten und zur Sommerszeit ein betäubendes Geschrei anstimmen.

Durch die Thoreinfahrt des Schweizerhofes gelangt man auf den in vornehmer Abgeschlossenheit liegenden Josefsplatz, dessen Mitte das herrliche Monument Zauners, die Reiterstatue Kaiser Josefs II., ziert. Den Hintergrund des Platzes bildet das imposante, von Fischer von Erlach erbaute Hofbibliothekgebäude; die beiden Flügel sind gebildet von den Redoutensälen einerseits und dem Gebäude der geologischen und mineralogischen Sammlungen andererseits. Dieses Gebäude dient jedoch bereits andern Zwecken, weil die Sammlungen seit einem Jahre in dem großartigen neuen naturhistorischen Museum auf dem Burgring untergebracht sind. Der schöne Platz wird an seiner vierten Seite von dem lebhaften Verkehre, welcher zwischen der Albrechtsrampe und dem Michaeler Platze fluthet, durchbrochen. Architektonisch bildet sie einen würdigen Abschluß durch die Paläste Pallavicini und Palffy. Die Thoreinfahrt des ersteren Gebäudes bewachen vier Kolossalstatuen, weibliche Karyatiden, ein prächtiges Werk des genialen Zauner. Um die Theaterzeit und an Sonntagen vormittags, wenn in der Augustinerkirche das Hochamt celebrirt wird, ist hier ein großes Gewoge von Equipagen und Fußgängern, welches wegen der engen Passage in der Augustinerstraße und unter dem Schwibbogen des Burgstallgebäudes manchmal beängstigend wird. Die Augustinerkirche ist wegen der vorzüglichen Sologesänge während des Gottesdienstes, die von ersten Künstlern ausgeführt werden, stets von einem großen Publikum besucht, und auch der Fremde darf an ihr nicht vorübergehen, schon wegen des herrlichen Grabdenkmales der Erzherzogin Christine nicht, welches von der Meisterhand Canovas herrührt.

Nun zurück über den Michaeler Platz durch die Herrengasse mit ihren stattlichen Palästen, den stolzen Herrensitzen der Trauttmannsdorff, Wilczek, Liechtenstein, Herberstein, Clary, Traun, Stadion, Batthyany, mit dem Landständehaus und dem Nationalbankgebäude. In der Herrengasse und dem unmittelbar daranliegenden Stadttheile stehen die stattlichen Adelsburgen und verleihen demselben einen Charakter der vornehmen Ruhe und Behaglichkeit, welcher von dem geschäftlichen Treiben der anstoßenden Straßen auffallend absticht. In dieser Gasse befinden sich auch zwei stark besuchte Kaffeehäuser, welche den Unterschied zwischen einst und jetzt am deutlichsten zum Ausdrucke bringen: das altbewährte Café „Griensteidl“ mit seinem anheimelnden Ecken- und Winkelwerk, seinen niedrig gewölbten Zimmern, seinen litterarischen Stammgästen und historischen Plätzchen, seinem „Hofschauspielerzimmer“, seinem stadtbekannten Zahlmarqueur und seiner reichen Auswahl an Zeitungen und Monatsschriften. Hier geht es noch sehr patriarchalisch zu. Man sieht um dieselbe Stunde jeden Tag dieselben Menschen an denselben Plätzen, welche manche von ihnen schon seit Jahrzehnten einzunehmen gewohnt sind. Ganz anders im Café Central, welches im ehemaligen Börsengebäude an der Ecke der Herren- und Strauchgasse im üppigsten Stile eingerichtet ist. Man tritt in eine hohe, in maurischem Stile gehaltene Säulenhalle; [127] hier ist ein stetes Kommen und Gehen. Will man ruhig seine Zeitung lesen oder ein Spielchen machen, so geht man in die anstoßenden, mit vornehmer Pracht ausgestatteten Säle.

So hat sich neben dem Neuen, Eleganten, Stilvollen auch überall das Alte zu behaupten gewußt, welches durch den Schimmer von Behaglichkeit, durch den patriarchalischen Ton und das traditionelle Festhalten am Hergebrachten nicht nur auf die absterbende Generation, sondern auch auf das jüngere Geschlecht seinen Reiz ausübt. Mit großer Zähigkeit behaupten sich daher neben den neuen prunkvoll eingerichteten Restaurants die alten, gemüthlichen, gutbürgerlichen Gasthäuser, welche zum Theil einen Jahrhunderte alten Ruf genießen. Das Michaeler Bierhaus, der „Lothringer“, das alte „Blumenstöckl“, der „Kühfuß“, das Winterbierhaus, das „Reichenbergerbeisl“, die Weinstuben von Zett, „Zu den drei Mohren“, „Bei den Schotten“, dann die verschiedenen Weinkeller, unter denen der „Esterhazy-Keller“ mit seiner mehr als dürftigen Einrichtung eine große Volksthümlichkeit genießt – nicht zu vergessen den Methkeller zum „süßen Löchl“ –, haben aus alter Zeit ihren guten Ruf und ihren Kundenkreis sich zu erhalten gewußt.

Die Herrengasse mündet auf die Freiung, einen stattlichen, geschichtlich merkwürdigen Platz mit lebhaftem Marktgetriebe, der Schottenkirche im Vordergrund und einer Reihe von Palästen und Zinsburgen als malerischer Umrahmung. Die gegenüber der Schottenkirche einmündende Teinfaltstraße zeigt neben der Kärntnerstraße und den Stadttheilen am Salzgries und an der Ausmündung der Rothenthurmstraße das langsam fortschreitende zielbewußte Wirken der Stadterweiterungskommission, welche an Stelle des Winkelwerks und der finstern, krummen Gäßchen breite, schöne und lichtdurchströmte Verbindungslinien schafft. Wie die jungen lichtgrünen Triebe an einen alten Tannenbaum setzen sich diese Neubauten mit ihrer heiteren prunkliebenden Architektur in das Gefüge der alten Straßenzüge ein, dem Verkehre bequeme Wege bahnend. Mit Wehmuth sieht der alte Wiener manche traute Stätte freundlicher Erinnerungen, manch denkwürdigen und künstlerisch werthvollen Bau diesem Bestreben zum Opfer fallen, und nicht immer erstehen an seiner Stelle Werke, welche dem Kenner und Schätzer des liebgewordenen Alten als würdiger Ersatz gelten können.

Der Stock im Eisen.

Durch die Färbergasse und Schwertgasse gelangen wir zur altberühmten stilvollen Kirche „Maria am Gestade“, einem herrlichen gotischen Baudenkmal aus dem zwölften Jahrhundert. Von gleich hohem Werthe und geschichtlichem Interesse ist das uralte Salvatorkirchlein. Hier umfängt uns Alt-Wien mit seinen engen finsteren Gassen und Winkeln und dem ehrfürchtigen Schauer einer nach vielen Jahrhunderten zählenden Vergangenheit. Am „Salzgries“, bei „Maria am Gestade“ und an der Fischerstiege vorbei floß vor Jahrhunderten der Donaustrom, dessen Bett jetzt weit von jener Stelle zurückgetreten ist. Wer einen Begriff von dem mittelalterlichen Wien erhalten will, der besuche diese Gäßchen mit den verwitterten Häusern, deren Fronten so enge aneinandergerückt sind, daß infolge der ewigen Dämmerung in den Geschäftslokalen den ganzen Tag Licht gebrannt werden muß: das enge Rothgäßchen mit seinem lebhaften Verkehr, die Judengasse mit ihren Trödlerläden und ihrem Straßenhandel, die Rosmaringasse und die merkwürdige Fischerstiege.

Wollzeile und Schulerstraße sind zwei äußerst lebhafte Verkehrsadern, in denen sich die Expeditionen und die Administrationen fast sämmtlicher Wiener Zeitungen angesiedelt haben. Von der Wollzeile gelangt man durch einen Schwibbogen auf den Universitätsplatz. Hier steht das alte, nun verlassene Universitätsgebäude und die Universitäts- oder Jesuitenkirche. Im Jahre 1365 unter Rudolf IV. gegründet, erfuhr die Universität im Jahre 1623 durch die Jesuiten eine gründliche Umgestaltung. In dieser Gestalt blieben die Gebäude fast unverändert bis in unsere Zeit. Im Jahre 1848 war der Universitätsplatz ein wichtiger Versammlungsort der akademischen Legion, und mancher geschichtlich denkwürdige Vorgang des großen Freiheitsjahres spielte sich in diesem Raume ab. Jetzt ist der Platz verödet; das Studentengewimmel und der lebhafte Verkehr in den angrenzenden Straßen hat mit der Verlegung der Universität in das neue Prachtgebäude auf dem Franzensringe sein Ende gefunden.

Der „hohe Markt“, ein schon zu Römerzeiten bekannter uralter Platz (forum altum) mit lebhafter Gewerbstätigkeit und regem Markgetriebe, war im Mittelalter der Ort, wo die Urtheile vertündet und vollzogen wurden (Gerichtsschranne). Eine prächtige von Karl VI. errichtete Denksäule ziert den Platz. Von hier gelangen wir über den „Lichtensteg“ in die Rothenthurmstraße und weiter über den Stefansplatz in die vom lebhaftesten Verkehr durchfluthete Kärntnerstraße, den Sitz des größten Geschäftsbetriebes mit prunkvollen Schauläden und wohlbekannten Geschäftshäusern.

Von der Kärntnerstraße biegen wir rechts ab und gelangen nach wenigen Schritten auf den „neuen Markt“, im Volksmunde noch immer „Mehlmarkt“ genannt, da in ältester Zeit hier der Sitz des Mehlhandels gewesen ist. Der „neue Markt“ gehört zu den geschichtlich denkwürdigsten Plätzen der Stadt. Hier ist die schmucklose Kapuzinerkirche und das Kloster mit der hochberühmten Kapuzinergruft, welche seit Matthias die kaiserliche Familiengruft des habsburg-lothringischen Herrscherhauses bildet. Das Mausoleum der Kaiserin Maria Theresia und ihres Gemahles Franz I. ist das hervorragendste, durch seine ergreifende Symbolik bedeutsamste Kunstwerk darin. Alljährlich zu Allerseelen werden diese Räume dem Publikum erschlossen. Der schönste Schmuck des Platzes ist aber der herrliche Monumentalbrunnen Rafael Donners, eine Schöpfung von vollendeter klassischer Schönheit, klar und einfach im leitenden Gedanken, von unsagbarer Anmuth und Schlichtheit in der Durchführung. Die Figuren, ursprünglich aus Blei, wurden erst im Jahre 1872 in Bronze abgegossen und dadurch eines der edelsten und formvollendetsten Kunstwerke aller Zeiten dauernd erhalten.

„So,“ sagte Herr Hainfelder zu seinem Schützling, „jetzt hätten wir einen flüchtigen Ueberblick von dem, was die innere Stadt bietet. Sie werden schon müde sein. Wollen Sie gut soupiren, so gehen Sie mit mir zu ‚Sacher‘ oder ins Hotel zur ‚Stadt Frankfurt‘ oder zu ‚Meißl‘. Da erzähl’ ich Ihnen dann von den guten alten Zeiten, die ich noch als Knabe und Jüngling gesehen; von den Basteien und Stadtmauern, vom Paradiesgärtchen und Wasserglacis, von Strauß und Lanner und den gemüthlichen, patriarchalischen Wienern, die ich noch gekannt habe, und die jetzt leider immer weniger werden. Und morgen, wenn Sie nichts anderes vorhaben, hol’ ich Sie ab zu einem Spaziergange über die Ringstraße.“