Vom verlassenen Bruderstamme (1)

Textdaten
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Autor: Gustav Rasch
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Titel: Vom verlassenen Bruderstamme (1)
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aus: Die Gartenlaube, Heft 42, S. 664–666
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1861
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Vom verlassenen Bruderstamme.

Eine Fahrt nach Angeln – Die Bauern in Angeln – Deutsch und dänisch – Schwarze Gensd’armen – Unterdrückung der deutschen Sprache – Die deutschen Pastoren – Eine dänische Kirche – Dänische Schullehrer – Im Postwagen – Oberpolizist Hagemann – Pastor Hansen und sein Religionsunterricht.

Das Land, das im Volksmunde Angeln heißt, ist einer der interessantesten Districte Schleswig-Holsteins. Angeln wird im Norden von der Flensburger Föhrde, im Osten von den Wellen der Ostsee, im Süden von der Schlei, im Westen von der Eisenbahnlinie begrenzt, welche Schleswig mit Flensburg verbindet, und hat einen Flächeninhalt von ungefähr 15 Quadratmeilen. Der Boden ist außerordentlich reich und ergiebig. In Angeln sieht man die stolzesten Bauernhöfe, die stattlichsten Dörfer, die wohlhabendsten und schönsten Kirchspiele des Landes. „Wir sind so wohlhabend, und der Boden ist so ergiebig, daß man uns gar nicht ruiniren kann, sonst hätten uns die Dänen längst ruinirt,“ sagten mir häufig die Bauern in Sörup, Geltingen und Satrup, wenn ich mit ihnen über das Land und über die dänische Wirthschaft sprach.

Aber noch weit interessanter als das Land sind seine Bewohner. Welch’ ein Kern im deutschen Bauernstande liegt, und welcher Entwickelung dieser Bauernstand fähig ist, das kann man in Angeln sehen! Die Angeler oder die Angeliter, wie sie sich selbst nennen, sind melancholischen Temperamentes. Sie sprechen mit besonderer Vorliebe von religiösen Gegenständen und denken oft und viel an den Tod; Mancher läßt sich seinen Sarg bei Lebzeiten bauen und in die Stube stellen, und Frauen und Mädchen in blühender Jugend nähen sich manchmal das Sterbehemd. Wie auf den windumrauschten Orkney-Inseln und auf den braunen Haiden Schottlands, sieht das innere Auge des melancholischen Anglers häufig das Zukünftige, was der schaffende Weltgeist sonst dem Auge des Erdenbewohners zu seinem Glücke verborgen hat. Auf diesem idyllischen Hügelland mit seinen dunkellaubigen Erlen und spitzblättrigen Eschen, überall von hohen Knicks durchzogen, welche wie dunkle Laubgewinde auf dem sonnigen, grünen Wiesenteppich liegen, zwischen diesen reichen, gelben Getreidefeldern, diesen dunkeln Buchenwäldchen, diesen reichen Gehöften und alterthümlichen Kirchen waltet das zweite Gesicht; hier erscheint Manchem die „Fata Morgana“ der Seelen und enthüllt die Zukunft in Feuerflammen, welche aus einem Dache emporschlagen, in Leichenzügen, in denen er die Gestalten seiner Nachbarn und Freunde erkennt, und in Schlachtbildern, welche ihm die Befreiung seines Landes verkünden. Der Angeler ist ferner ein Mann von schnellen Begriffen, er faßt leicht auf und orientirt sich schnell, hat ein großes Talent zur Selbstverwaltung seiner eigenen Gemeindeangelegenheiten, liest viel und unterrichtet sich gern. Die Schulen waren in Angeln immer besser im Stande, als überall in Schleswig; fleißig werden Zeitungen und Journale gelesen; die Wohlhabenden schaffen sich alle kleine Privatbibliotheken an, und man begegnet einer Kenntniß der politischen Verhältnisse, welche oft in Erstaunen setzt. Mit diesen hervorstechenden Eigenschaften des Verstandes vermischt sich eine übergroße Vorsicht, welche oft in Mißtrauen ausartet, aber sofort in das vollkommenste Vertrauen umschlägt, sobald dies einmal gewonnen ist, und eine große Hartnäckigkeit, welche ihnen in ihrem jetzigen Widerstand gegen das Dänenthum übrigens besonders zu statten kommt. Der frühere Hochmuth der Hufner, der Hofbesitzer, gegenüber dem Käthner ist ganz verschwunden; wenigstens habe ich keine Spur davon entdecken können; aber er ist in Stolz und Hochmuth den Dänen gegenüber umgeschlagen.

In Angeln erschienen mir die Bauern wie die Sieger, die Dänen wie die Besiegten. Sie betrachten die dänischen Beamten, Pfarrer und Schullehrer, welche ihnen von den Inseln in’s Land geschickt sind, um sie zu regieren und zu brüchten, wie elendes, armes Gesindel, welches lediglich gekommen ist, um sich zu mästen und sich in seiner Armuth satt zu essen, und sprechen von ihnen nur mit grenzenloser Verachtung. Leider haben die braven Angler in dieser Anschauung vollkommen Recht. Der Angler ist ferner sparsam, er ist ordentlich; aber er ist kein Filz. Die Gastfreundschaft in Angeln ist unbegrenzt. Für die Vertheidigung ihrer Rechte ist diesen herrlichen Bauern kein Opfer zu groß. Den Armen wird überall geholfen. Dabei sieht man und liebt man den Luxus in schönen, geräumigen Bauten, in prächtigen Möbeln und Kleidern, in stattlichen Pferden, in reichbesuchten Hochzeiten, Kindtaufen und Fahrten auf Besuch. Mahagony-Möbel, Uhren, bequeme Sessel, Sophas und Schaukelstühle, Pianinos und elegante Schreibtische fand ich in den meisten dieser Bauernhöfe, welche in gefälligen Formen gebaut und durchweg zierlich und reinlich gehalten sind.

Ich weiß nicht, ob es in Deutschland bekannt ist, daß in den Jahren 1850 und 1851, trotz der im Jahre 1852 zu Stande gekommenen Verhandlung Dänemarks mit Preußen und Oesterreich, als Mandataren des deutschen Bundes, in denen ausdrücklich die Selbständigkeit Schleswigs und die vollständige Gleichberechtigung der deutschen und der dänischen Nationalität in Schleswig versprochen wurde, durch eine Reihe von Verfügungen Seitens der dänischen Regierung in 5 Städten und 48 ländlichen Kirchspielen in Schleswig an Stelle des deutschen Schulunterrichts der dänische Schulunterricht und an Stelle des deutschen Gottesdienstes der dänische Gottesdienst in der Art eingeführt wurde, daß in den Städten an allen Sonntagen sowohl deutsch wie dänisch gepredigt werden, in den Landkirchspielen aber der Gottesdienst abwechselnd einen Sonntag deutsch, einen andern Sonntag dänisch sein sollte. Für die Gesetzmäßigkeit und Rechtmäßigkeit dieser Verfügung konnten selbst Seitens der dänischen Behörden gar keine Gründe angegeben werden. Die Abgrenzung der sogenannten gemischten Districte, in denen dänische Schulsprache und dänischer Gottesdienst eingeführt wurde, wurde in der willkürlichsten Weise nach alten statistischen Tabellen aus den Jahren um 1810 vorgenommen und oft so, daß in diesen gemischten Districten auch nicht ein einziger Mensch zu finden war, welcher dänisch sprach oder dänisch verstand. Angeln, welches der größte und wichtigste unter diesen gemischten Distrikten war, kam dabei besonders schlecht weg. Von 52 Sonntagen wurden ihm 26 abgenommen und der „dänischen Lehre“ geweiht, wie der Volksmund den dänischen Gottesdienst und die dänische Schulsprache nennt. Die Bauern, welche an der deutschen Bibel und dem deutschen Gesangbuch hielten, wie an dem besten Erbe ihrer Väter, wurden gezwungen, für ihre Kinder eine dänische Bibel und ein dänisches Gesangbuch anzuschaffen. In den meisten Kirchspielen werden die Prediger geradezu gehaßt. Die Bezeichnung „der schwarze Gensd’arme“ zeigt genügend, mit welchen Augen man sie betrachtet. Das Band zwischen der Schule und der häuslichen Erziehung ist zerrissen. Die Eltern schicken zwar, so weit sie nicht Mittel haben, ihre Kinder auswärts unterzubringen, die Kinder zur Schule, weil sie sonst hart gestraft werden, aber damit hört auch ihre Theilnahme auf. Sie erklären, sie verständen nichts von der dänischen Schulsprache und würden nie etwas davon wissen wollen. Und die Kinder, sie werfen, sobald sie confirmirt sind, die dänischen Bücher in’s Wasser, sprechen nie ein Wort dänisch wieder und geben sich ordentlich Mühe, das zu vergessen, was sie gelernt haben. [1]

Ich hatte die Herzogthümer, mit den umfassendsten und besten Empfehlungen versehen, nach allen Richtungen bereist, um die gegenwärtigen Zustände des Landes aus eigenen Anschauungen an Ort und Stelle kennen zu lernen. Was ich gefunden habe, war Erbitterung, Schmerz und Haß überall, die rechtloseste Willkür in Schleswig Seitens der Administrativ- und Polizei-Beamten – [665] wozu der berüchtigte § 8 der Schleswig-Holstein octroyirten Verfassung sie vollkommen autorisirte, indem er den dänischen Unterthanen in den Herzogthümern jeden Rechtsweg abschnitt – eine Knechtschaft der Geister und Sprache, Schule, Kirche und Presse, wie Oesterreich sie so niemals in Venetien versucht hat, die kleinlichsten Verfolgungen, ein über das ganze Land ausgebreitetes Netz von Spionage und Denunciation, allmähliches Sinken des Real-Credits, täglich zunehmende Armuth in den Städten bei den Handwerkern und kleinen Bürgern, beide Herzogthümer baar aller politischen Rechte, die Presse überall in den Händen der dänischen Polizei, das Petitionsrecht bis auf die Lächerlichkeit einer Unterschrift herabgesunken, kein Vereins- und Versammlungsrecht, die Communalverwaltung überall auf dem Wege, den Dänen oder ihren Kreaturen in die Hände zu gerathen, oder bereits in ihren Händen, vollkommene Unsicherheit der Person und des Eigenthums vor den unaufhörlichen Angriffen und Versuchen der dänischen Beamten – aber alledem gegenüber der zäheste und trotzigste Widerstand der deutschen Bevölkerung in beiden Herzogthümern, nicht zu wanken und zu weichen und fest zu einander zu halten, zur Ehre Deutschlands, und um den eigenen Widerstand desto kräftiger zu machen. Holstein ist um Vieles glücklicher als Schleswig, die Verbindung mit dem deutschen Bunde macht dort die Dänisirungs-Versuche und dänischen Beamten, Pastoren und Schullehrer unmöglich. Aber was waren das für Beamte, welche Schleswig dänisiren? Der Ausschuß der Juristen, Theologen und Schullehrer, welche die dänischen Inseln besitzen. „Alle unsere Beamten, die noch einen Begriff von Ehre haben, gehen nur mit dem größten Widerwillen und gezwungen nach Schleswig!“ sagte man mir in Kopenhagen. Und ich überzeugte mich von der Wahrheit dieser Worte auf dem Festlande. Ich habe in ganz Schleswig wenig dänische Beamten gefunden, von denen man nicht mit grenzenlosester Verachtung sprach und Dinge erzählte, welche diese Verachtung vollkommen rechtfertigten. Ich übertreibe nicht; was ich sage, ist in Schleswig in Aller Munde, und ein ganzes Volk lügt nicht.

Nur Angeln hatte ich noch nicht gesehen. Ich hatte die Reise durch Angeln aus verschiedenen Gründen bis zum Schluß meiner Untersuchungen der Zustände in Schleswig-Holstein mir vorbehalten.

An einem der letzten Augusttage saß ich bei einem meiner neuen Freunde in dem Staatszimmer oder in dem Salon – wenn man so will – seines im südlichen Angeln gelegenen Hofes. Ich nenne seinen Namen absichtlich nicht, denn ich würde ihn sofort einer Menge Tracasserien Seitens seines Hardesvogtes aussetzen. Wir sprachen über die politischen Verhältnisse in den Herzogthümern und besonders über Angeln. Er theilte mir Manches von dem mit, was ich oben über die Bewohner des Landes erzählt habe. Dann gab er mir die Charakteristiken dänischer Pastoren und Schullehrer in Angeln. Hätte er mir das, was er mir heute Abend erzählte, vor sechs Wochen erzählt, ich hätte es nicht geglaubt, obschon mein Freund einen der ehrenwerthesten Namen in Schleswig trägt und durch seine Wahrheitsliebe, seinen Muth im Widerstande und seine Vertheidigung der Rechte des Landes hochgeehrt ist. Aber ich hatte so viel Unglaubliches gesehen und gehört, ich erstaunte über nichts mehr.

„Sehen Sie,“ sagte er, „wir hatten vortreffliche Prediger im Lande, würdige, gelehrte Männer, hochgeachtet und geliebt von der ganzen Bevölkerung. Die dänische Regierung hat sie sämmtlich fortgejagt, weil sie nicht in dänischer Sprache predigen und nicht das Kirchengebet in der neuen Lesart sprechen wollten. Zwei nur haben wir behalten, es ist der Pastor Juhl in Töstrup und Pastor Röhs in Caleby. Auf die inständigste Bitte der Bauern ihres Kirchspieles, zu bleiben und sich dem Lande zu erhalten, ließen sie sich bewegen, das Kirchengebet in der neuen Lesart zu sprechen, und beten jetzt „für unsern König“. Und nun schickte man uns fast ohne Ausnahme das nichtsnutzigste Gesindel aus Kopenhagen, Säufer, Spieler, Trunkenbolde, liederliche Subjecte, welche nur ein Lebensprincip haben, sich mit ihren fetten Pfarreien zu mästen und ein reiches Wohlleben zu führen, Menschen ohne Gottesfurcht, ohne Bildung und ohne Kenntnisse, ohne Kenntniß unserer Sprache. Sie wissen ja ohnedem, es ist mit dem Studium der Theologie in Kopenhagen nicht weit her. Bloßes Auswendiglernen und Einpaukerei!“

„Ich weiß darum; sprechen Sie weiter!“

„Nun geht kein Mensch mehr zur Kirche. Die Bauern wollen die Prediger, welche sie ihres Wandels und ihrer Unwissenheit wegen so verachten, auch nicht mehr in der deutschen Predigt hören. In manchen Kirchspielen Angelns weiß man Sonntags nicht mehr, ob dänischer oder deutscher Sonntag ist. Wenn unser Volk nicht einen so bedeutend sittlich-religiösen Kern in sich trüge, so wäre es lange moralisch zu Grunde gegangen. Oft predigen die Pfarrer nur vor dem Küster und den Schulkindern, welche in der wörtlichen Bedeutung des Wortes in die Kirche getrieben werden. Zuweilen muß er aber auch von der Kanzel heruntersteigen, und der Küster schließt dann die Kirche, weil auch die Kinder nicht in die Kirche zu bringen sind. Es versteht ja auch Niemand Etwas von der dänischen Predigt. So ist es dem Pastor Hartnack in Norderbrarup häufig ergangen. Er versteht gar kein Deutsch und ist vollkommen unfähig. Neulich kam er in die Schenke und wollte einen Häring essen. Er war nicht im Stande sich in deutscher Sprache auszudrücken, ob er ihn geräuchert oder gepökelt wolle. Endlich brachte man ihm Beide. Kennen Sie seine berüchtigte Leichenrede? Er sprach: „Da liegt er in sein schwarzes Kiste, Ihr habt ihm gekennt, aber ich habe ihm nicht gekennt! Amen.“ So war es wörtlich; Sie können aus diesen Worten die Bildungsstufe ermessen, worauf der Mann steht. Da war ein Pastor Hansen in Kappeln, der Vorgänger des jetzigen Pastor Thieß. Er war ein Säufer und Betr–. Endlich hat sich die Regierung denn doch genöthigt gesehen, ihn wegen seiner Unthaten zu entfernen. Erkundigen Sie sich in Kappeln im Hähn’schen Wirthshaus. Dort sind mit ihm Scenen von Völlerei vorgekommen, welche so ekelhaft sind, daß ich sie nicht erzählen mag.“

„Und die Schullehrer in Angeln?“

„Es ist in Dänemark, wie Sie wahrscheinlich wissen, kein Ueberfluß an Schulmeistern, wie an Candidaten des Predigtamtes. Es kommt der dänischen Regierung aber auch nur auf Verbreitung der dänischen Sprache in Angeln an, nicht auf Verbreitung der Bildung. So hat man uns die unwissendsten Kerle geschickt, welche bei unseren Knechten in die Schule gehen könnten, Menschen, welche früher zuweilen Matrosen oder Soldaten waren, welche sich in Angeln nur damit beschäftigen, den Kindern Gesangbuchsverse nach der Melodie des „tappern Landsoldaten“ einzuüben, zu fluchen, zu saufen und zu spielen. Da ist ein Lehrer Petersen in Moor-Kirchholz – erkundigen Sie sich in Kappeln – er spielt und trinkt Morgens mit den Schweinetreibern im Wirthshaus, er dient der Polizei als Spion, er sperrt die Kinder bei Wasser und Brod ein, und prügelt sie, daß es entsetzlich ist. Alle Versuche der Bauern der Gemeinde Boel, bei der Visitation eine Untersuchung gegen den Menschen zu veranlassen und ihn aus dem Amte zu entfernen, sind bis jetzt vergeblich gewesen. Da ist ein zweites ähnliches Subject in Maaßholm, den seine Gemeinde der größten Unsittlichkeit beschuldigt. Es ist nicht möglich, ihn zu entfernen.“ [2]

Am andern Morgen standen wir vor dem nahe bei dem Hofe gelegenen Posthause. Ich wollte nach Kappeln fahren. Der Postwagen kam. er war besetzt. Drei Angeler Landleute saßen darin und ein hübsches, junges Mädchen in städtischer Kleidung. Die Pferde wurden gewechselt. Die Landleute traten so lange in die Stube. Ich fragte sie, ob sie mich als überzähligen Passagier bis zur nächsten Station mitnehmen wollten, wo die Postverwaltung verpflichtet sei, mir Wagen und Pferde zu stellen.

Sie sahen mich mißtrauisch an und verwiesen mich an den Postillon.

Auch der Postillon machte ein mißtrauisches Gesicht und nahm meinen Freund in eine Ecke.

„Wer is de Hähr?“ hörte ich fragen. „De is wohl uht Berlin?“

Mein Freund nickte.

„Geht nich!“ rief der Postillon. „Ick tho et nich!“

Damit war die Verhandlung zu Ende.

„Sie sehen, Sie sind hier Persona ingrata im Lande. Der Postillon vermuthet, daß Sie umherreisen, um das Land zu besuchen, und das will die dänische Regierung absolut nicht. Warten Sie! In zehn Minuten wird mein Wagen vor der Thüre stehen. Mit meinen Pferden überholen Sie die langsamen Postgäule bis zur nächsten Station um eine halbe Stunde.“

Die drei Landleute stiegen in den Wagen, nicht ohne nochmals einen mißtrauischen Blick auf mich zu werfen. Der Wagen [666] rollte fort. Aber in zehn Minuten stand einer jener hochräderigen holsteinischen Wagen mit zwei vortrefflichen Pferden vor der Thüre.

In gestrecktem Trabe fuhr ich hinterher und kam eine halbe Stunde früher auf der nächsten Poststation an. Ich bestellte mir einen Platz und nahm nun im Postwagen den Platz des jungen Mädchens ein, welches auf der Station blieb, aus Schleswig kam und Verwandte besuchte.

Der Wagen fuhr weiter. Die mir gegenüber sitzenden Landleute sahen mich mit mißtrauischen Blicken an. Ich konnte an ihrer Gesinnung gegen mich gar nicht zweifeln. Vergebens versuche ich, sie zu einem Gespräche über die Zustände im Lande zu veranlassen. Sie brachen den Faden der Unterhaltung immer kurz ab. Endlich fragte mich der Eine: „Sagen Sie mal, wen wollen Sie denn in Angeln besuchen?“ [3] Ich nannte die Namen von zwei der achtungswerthesten Hofbesitzer und nahm zwei Empfehlungsbriefe aus meiner Brieftasche. Sie lasen auf den Couverts die Jedermann bekannten Namen.

Plötzlich veränderte sich der Ausdruck auf den Gesichtern. Die Blicke wurden zutraulich und wohlwollend. Nur der Eine, der neben mir saß, sah mich pfiffig an und sagte: „Also den Herrn Hagemann wollen Sie nicht besuchen?“

Glücklicherweise wußte ich, wer Hagemann war.

„Hagemann auf Ohrfeld?“ fragte ich entrüstet, „Hagemann ist ja Euer heimlicher Oberpolizeiminister in Angeln! Er hat ja noch im vorigen Mai Euren braven Pastor in Gelting, Valentiner, der jetzt Pastor in Leipzig ist, als er den Pachter Geiger in Gelting zu seiner silbernen Hochzeit besuchen wollte, durch die Polizei aus dem Lande bringen lassen wollen!“

Jetzt sah auch der Dritte mich mit Blicken des vollsten Vertrauens an.

„Ja,“ sagte er, „der Pastor in Gelting war ein braver, würdiger Mann. Aber sie trieben ihn aus dem Lande, die Dänen, weil er nicht dänisch predigen wollte. Dem Baron haben sie wider alles Recht das Patronat genommen und haben einen Dänen, den Hansen, an seine Stelle gebracht. Dreimal hat der Hansen neulich die Kirche Sonntags zuschließen müssen, weil Niemand in der Kirche war. Wir haben den Hagemann gefragt, ob er uns den Pastor Valentiner, wenn er aus Leipzig auf Besuch zu uns käme, durch Gensd’armen aus dem Lande bringen lassen wolle. Er hat’s aber abgeleugnet.“

Ich nahm ein Papier aus der Brieftasche und hielt es ihnen hin. „Leset das da vor!“

Er las: „Wenn es der unterzeichneten Behörde gerüchtsweise zur Kunde gekommen ist, daß der Dr. phil. F. W. Valentiner, Prediger in Leipzig, vormals Prediger in Gelting, in Veranlassung einer am 27. Mai 1861 stattfindenden Feier der silbernen Hochzeit des Pachters Geiger auf Gelting als Gast erwartet werde, so veranlassen obwaltende Umstände mich, die Obrigkeit des adeligen Gutes Gelting davon in Kenntniß zu setzen, daß zufolge mir ertheilter Instruction von Seiten des königlichen Ministeriums, insofern gedachter Valentiner den geschlossenen Theil des ersten Angler adeligen Güterdistricts betreten sollte, Schritte von mir wider denselben einzuleiten sind, welche unzweifelhaft seine augenblickliche Entfernung zur Folge haben werden.

Königl. Oberpolizeiverwaltung Ohrfeld, den 25. Mai 1861.
M. Hagemann.“

Nun ergingen sie sich in Verwünschungen und erbitterten Ausbrüchen gegen ihren „geheimen Oberpolizisten“, wie sie ihn nannten, und in wirklich rührenden Bemerkungen über den Pastor Valentiner und den Baron Hobe von Gelting, „diese braven, herrlichen Männer,“ wie sie sie nannten.

„Im Kirchspiel Gelting wird doch auch dänisch gepredigt und dänisch in den Schulen unterrichtet,“ sagte ich; „kann denn Jemand von Euch mir angeben, wie viel Menschen im Distrikt Gelting dänisch sprechen oder dänisch verstehen?“

„Ich kenne jedes Haus im Kirchspiel,“ erwiderte der mir gegenübersitzende Landmann, ein großer, kräftiger Mann mit melancholischem Gesichtsausdruck, „im Kirchspiel Gelting versteht und spricht Niemand dänisch. Die ganze Bevölkerung ist deutsch. Es ist nur ein alter Mann da, welcher in jungen Jahren Matrose auf der dänischen Flotte war. Der versteht das Plattdänische wohl noch etwas, er kann es aber nicht mehr sprechen. Das Schriftdänische, in dem der Hansen predigt, versteht er gar nicht.“

„Aber Rundhof ist doch auch gemischter Distrikt! Kennt Einer von Euch Rundhof?“

„Rundhof,“ erwiderte mein Nachbar, der mich mit so pfiffigem Blick nach dem Oberpolizeiverwalter gefragt hatte, „ist halb deutsch, halb gemischter District. In dem gemischten District wird in keinem Hause dänisch gesprochen. Es sollen dort einige alte Männer noch dänisch verstehen, welche auf der dänischen Flotte dienten.“

„Und dort wird dänisch unterrichtet und dänisch gepredigt?’ rief ich entrüstet.

„Ja,“ sagte mein Nachbar und Thränen traten ihm in die ehrlichen, blauen Augen, „das ist recht traurig! Denken Sie, die armen Kinder! Außer vier Stunden die Woche ist der ganze Unterricht dänisch. Die Kinder lernen nichts. Alle Bildung im Lande geht dabei zu Grunde. Und was das für Schullehrer und Pfarrer sind, die sie uns nun seit zehn Jahren in’s Land geschickt haben! Der Hansen, den sie uns an die Stelle des braven Valentinen geschickt haben, entließ neulich die Knaben etwas früher aus dem Confirmationsunterricht und behielt die Mädchen zurück. Ein Bauer fragte seine Tochter, warum der Pastor sie soviel länger bei sich behalten hätte. Sie wurde roth und sagte, das könne sie doch nur der Mutter sagen. So kam es denn heraus, daß der Pastor ihnen gesagt habe, um sie vor dem Laster zu warnen, sie sollten sich vor den Mannsleuten in Acht nehmen, denn wenn diese ihnen zu nahe kämen, würden sie leicht schwanger, es entstände dann ein Kind in ihrem Leibe, und um dieses zu entfernen, müsse man ihnen ein großes Loch in die Seite schneiden. Sie können hieraus sehen, was das für ein Mensch ist, dieser Pastor. Nein, es sind gar keine Menschen, viel weniger Pastoren!“

G. Rasch. 



  1. Um allen etwaigen böswilligen Angriffen Seitens der eiderdänisch nationalen Partei und wahrscheinlich auch conservativer deutscher Zeitungen, daß ich übertreibe, in Voraus zu begegnen, erkläre ich, obschon mir Vorstehendes aus meinen eigenen Untersuchungen in Angeln bekannt geworden ist, daß ich es dennoch aus der von Seiten der königlich preußischen Regierung im verflossenen Sommer den Cabineten der englischen, französischen und österreichischen Regierung überreichten ministeriellen officiellen Denkschrift wörtlich entnehme.
    Dr. jur. Gustav Rasch. 
  2. Hr. Moritz Busch, der im Jahre 1855 Angeln bereiste, fand dort ganz dieselben Zustände. S. Schleswig-Holstein’sche Briefe von M. Busch. Verlag von Gustav Mayer in Leipzig. S. ferner: Die Wahlen zur schleswig’schen Stände-Versammlung im Jahre 1860. Hamburg, 1861.
  3. Ich werde alle folgenden Unterhaltungen immer, des besseren Verständnisses wegen, in hochdeutscher Sprache wiedergeben, obschon sie meistens immer in plattdeutscher Sprache geführt wurden. G. R.