Verona (Meyer’s Universum)
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Ungleich streute die Natur über die Erde Segen und Fluch. Sie folgte keiner Regel, und unter demselben Breitengrade glühen ewige, öde Sandwüsten und prangen Länder wie Gärten, erstickend fast im Uebermaße des verschwenderisch empfangenen Reichthums.
Wie es also begünstigte Länder gibt, so gibt es auch einzelne Orte, an denen gewisse Vorzüge gleichsam erblich zu haften scheinen. Einige sind immerblühende Magazine des Handels und des Reichthums; andere immermächtige Sitze der Herrschaft; noch andere haben den schönen Ruhm, des Genies erkorne Heimath zu seyn, aus der alle Jahrhunderte große Männer hervortreten, die Menschheit zu erfreuen, zu bilden, zu erleuchten.
Ein solcher Ort – berühmter Sterblichen niemals leere Wiege – ist Verona. Lang ist die Reihe großer Veroneser: Vitruv, Plinius, Catull, Nepos, Titus, Vespasian, Fracastor, die Scaliger, Cagliari, Paul Farinato, Volta und Maffei sind allbekannte Namen. Auch Romeo und Julie. Es wäre Verrath am Genius der Dichtkunst und der Liebe, wollte ich sie übergehen, selbst wenn sie, was nicht der Fall ist, mehr Shakespeare, als der Geschichte angehörten.
Verona, geschirmt von der Alpen hohen Mauer, liegt am Rande des immer blühenden und duftenden Edens der lombardischen Ebene, zu beiden Seiten der Etsch, welche mit jugendlichem Ungestüm, den Tyroler Ursprung nicht verleugnend, ihre klaren Fluthen zwischen den Häusermassen hinrollt. Die Stadt hat über 9000 Häuser, eine Größe, welche ihrer jetzigen Bevölkerung, die 45,000 nicht übersteigt, kaum angemessen ist. Die entlegenen Stadttheile haben ein etwas verfallenes Ansehen und sind menschenleer.
In den hochgelegenen Gärten, dicht am Kastel, genießt man den vortheilhaftesten Ueberblick über diesen Ort, der schon zur Zeit des August berühmt war. Von diesem Standpunkte aus gesehen, (dem nämlichen, der zur Aufnahme des Stahlstichs diente,) stellt Verona und seine Umgebung ein wirklich großes und anziehendes Gemälde dar. Ueber die Masse ihrer krummen und unregelmäßigen, düstern Straßen ragen mehr als hundert schlanke Thürme und breite Dome, dazwischen hohe Zypressen zu tausenden, und rund umher ist eine freundliche, fruchtbare, unabsehliche Landschaft. Wenige Ansichten können reizender seyn.
Verona’s Glanzperiode ist das Mittelalter, wo es kurze Zeit eine bedeutende Rolle spielte. Im 12. Jahrhundert, als die meisten der Städte Oberitaliens, durch den Handel reich geworden, ihre Fürsten verjagten und die Freiheit gewannen, eroberte auch Verona seine Unabhängigkeit. Es richtete die Republik auf. Diese dauerte nicht. Innere Uneinigkeit ging Hand in Hand mit dem äußern Glück, und im Streite der Parteien fand die Herrschsucht der Einzelnen [99] ihren Vortheil. Nach langer Fehde, in der bald die, bald jene mächtige Familie die Zügel der Regierung faßte, kamen die Scaliger zur Herrschaft, in der sie sich über 170 Jahre lang zu behaupten wußten. Als sie aber mit dem übergewaltigen Hause der Visconti, das sich auf Mailands Thron gesetzt hatte, in Krieg geriethen, traf sie das Unglück, in mehren Haupttreffen zu unterliegen. Die Mailänder eroberten das ganze Gebiet, und 1387 fiel Verona selbst in ihre Gewalt. Inzwischen gaben die Visconti’s dessen Besitz bald wieder auf, und einige Zeit wurde Verona von der Familie Carrari beherrscht. – Von dieser kam es (1405) an die Venetianer, welche erobernd bis an die Alpen drangen. Deren Herrschaft dauerte ungestört fort bis 1796, bis zur Periode der Vernichtung des Staats durch die neufränkischen Heere.
Verona besitzt blühende Gewerbe. Es hat bedeutende Webereien in Seide und ansehnliche Fabriken in wollenen Zeugen und Leder. Der lebhafte Handel mit Deutschland und der Schweiz ist aber doch nur noch ein Schatten von dem, was er früher gewesen war. Seide ist dessen Hauptgegenstand. – Zur Venetianer-Zeit galt Verona als das Hauptbollwerk des Staats gegen Deutschland; unter österreichischer Herrschaft hat es seine militärische Wichtigkeit verloren, und die drei Kastelle auf den benachbarten Höhen: St. Felice, St. Pietro und Castello, verfallen. – Von merkwürdigen Gebäuden nennen wir die Kathedralkirche, unter den vorhandenen 93 Kirchen die prächtigste und sowohl ihrer Bauart und Größe, als ihres Gemäldeschatzes wegen berühmt. Das alterthümliche Rathhaus ziert die Piazza de’ Signori, (den Herrenplatz) den größten der Stadt, mit den Statuen ausgezeichneter Bürger. Die öffentliche Dankbarkeit errichtete sie in den Zeiten der Republik.
Verona ist reich an Denkmalen der klassischen Vorzeit. Vor allen ist das Amphitheater berühmt, und nächst dem Theater zu Nismes hat sich keine jener gewaltigen und riesenmäßigen Konstruktionen so erhalten auf die Nachwelt gebracht, wie dieses, welches in räumlicher Beziehung allein vom Colosseum in Rom überboten wird. – Das Veroneser mißt 464 Fuß Länge mit 364 Fuß Breite; das römische ist also um etwa die Hälfte größer. Die Außenseite ist sehr verunstaltet. Einst bot sie eine prachtvolle Marmorfaçade mit drei über einander gestellten Säulenreihen dar; aber von letztern sind nur noch einzelne Bruchstücke übrig, die Marmorbekleidung ist längst verschwunden und nichts mehr sichtbar als die Ziegelmauern, welche sie verbarg. Um so angenehmer wird der Beschauer durch das Innere überrascht. Es ist so vollkommen gut erhalten, als wäre es erst vor Kurzem erbaut. – Durch die Fürsorge des berühmten Maffei wurden zu Ende des vorigen Jahrhunderts die untersten Sitzreihen vom Schutte befreit, die Arena vollkommen gereinigt, und alle Beschädigungen im innern Raume mit Vorsicht und Geschick ausgebessert. Seit dieser Zeit wird es auf Kosten der Stadt, welche einen besondern Fond dazu gewidmet hat, durch stete Nachhilfe vor Verfall geschützt.
Das Innere besteht aus 46 Reihen Sitzen von rothem Marmor, welche rund herum laufen. Nach jeder der Arkaden führen 32 Ausgänge, so daß sich die unermeßliche, schaulustige Volksmenge stets ohne Drang und Unordnung versammeln und trennen konnte. 25,000 Menschen hatten auf den Bänken Raum, von deren obersten Reihen die [100] Arena, ein Oval von 218 zu 129 Fuß Durchmesser, und groß genug, um 2000 Kämpfer zu fassen, auffallend klein erscheint. Gegenwärtig dient das Amphitheater bei feierlichen Anlassen zu öffentlichen Versammlungen und Schauspielen. Als die Franzosen in Italien herrschten, hatten sie in die Arena ein hölzernes Theater gebaut und einen Theil der Sitze für die Zuschauer damit in Verbindung gebracht. Harlekin trieb da sein Wesen, wo früher die Gladiatoren mit Tygern und Löwen stritten. Am Ende war der komische Wechsel kein übler und für das Jahrhundert keine Schande. Als Joseph der Zweite Verona besuchte, brachte ihm die Gesammtbevölkerung in diesen Mauern ihre Huldigung dar; und bei einer andern Gelegenheit empfingen daselbst 50,000 Menschen vom Pabste den apostolischen Segen.
Von Denkmälern des Mittelalters ist das Merkwürdigste das Mausoleum Pipin’s, Vaters Karl’s des Großen, und der Sarkophag der treuen Julia, deren heroische Liebe, von Shakespeare’s Genius getragen, den Erinnerungen aller Zeiten bewahrt bleibt. Der marmorne Schrein steht in dem öden Kirchhofe eines verlassenen Klosters; der Deckel ist herabgestürzt und in den Boden versunken; in den Sarg selbst aber ist eine Wasserröhre geleitet, und als Trog dient er den niedrigsten der Veroneser Nymphen zum Säubern der Wäsche. –
Sehenswerth sind auch die Grabmonumente der Scaliger. Sie stehen in der Ecke einer Straße, gewähren einen sehr malerischen Anblick und gehören zu den schönsten Mustern der Sculptur aus der Blüthenzeit der gothischen Kunst. Ihre Erhaltung ist erstaunenswürdig gut, wenn man erwägt, daß sie 500 Jahre schutzlos allen Wechseln des Wetters und der Ereignisse ausgesetzt waren. Wie oft tobte das Getümmel von Krieg und Aufruhr an ihnen vorüber!
Verona hat in neuester Zeit eine Berühmtheit besonderer Art erhalten. Es war nämlich Sitz eines europäischen Monarchencongresses, der 1815 hier gehalten wurde, um die Angelegenheiten des Welttheils zu schlichten und zu ordnen. Die Repräsentanten der verbündeten Mächte waren die Kaiser und Könige: Alexander von Rußland, Franz von Oesterreich, Friedrich Wilhelm von Preußen, Ferdinand der Erste von Neapel, und Viktor Emanuel von Sardinien. Schweden schickte seinen Kronprinzen; Frankreich und England ihre Minister; letzteres – nachdem Castlereagh, überwältigt von der Ueberzeugung, Großbritannien in eine seiner Ehre, seinem Berufe und seinem Interesse unwürdigen und nachtheiligen Stellung versetzt zu haben, sich selbst entleibt hatte, – den Herzog von Wellington. Die Intervention Frankreichs in Spanien zur Vernichtung einer demokratischen Verfassung, gemeinsame Maßregeln zur Unterdrückung der in vielen Völkern sichtbar gewordenen Bestrebungen nach größerer Geltung und Freiheit gegenüber den Thronen, wurden hier verabredet, und die dort aufgestellten und sanktionirten Grundsätze sind in der Politik der Gewaltigen Europa’s leitend und in lebendiger Fortwirkung geblieben bis auf den heutigen Tag. –