Seite:Meyers Universum 3. Band 1836.djvu/172

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
CXXVII. Verona.




Ungleich streute die Natur über die Erde Segen und Fluch. Sie folgte keiner Regel, und unter demselben Breitengrade glühen ewige, öde Sandwüsten und prangen Länder wie Gärten, erstickend fast im Uebermaße des verschwenderisch empfangenen Reichthums.

Wie es also begünstigte Länder gibt, so gibt es auch einzelne Orte, an denen gewisse Vorzüge gleichsam erblich zu haften scheinen. Einige sind immerblühende Magazine des Handels und des Reichthums; andere immermächtige Sitze der Herrschaft; noch andere haben den schönen Ruhm, des Genies erkorne Heimath zu seyn, aus der alle Jahrhunderte große Männer hervortreten, die Menschheit zu erfreuen, zu bilden, zu erleuchten.

Ein solcher Ort – berühmter Sterblichen niemals leere Wiege – ist Verona. Lang ist die Reihe großer Veroneser: Vitruv, Plinius, Catull, Nepos, Titus, Vespasian, Fracastor, die Scaliger, Cagliari, Paul Farinato, Volta und Maffei sind allbekannte Namen. Auch Romeo und Julie. Es wäre Verrath am Genius der Dichtkunst und der Liebe, wollte ich sie übergehen, selbst wenn sie, was nicht der Fall ist, mehr Shakespeare, als der Geschichte angehörten.

Verona, geschirmt von der Alpen hohen Mauer, liegt am Rande des immer blühenden und duftenden Edens der lombardischen Ebene, zu beiden Seiten der Etsch, welche mit jugendlichem Ungestüm, den Tyroler Ursprung nicht verleugnend, ihre klaren Fluthen zwischen den Häusermassen hinrollt. Die Stadt hat über 9000 Häuser, eine Größe, welche ihrer jetzigen Bevölkerung, die 45,000 nicht übersteigt, kaum angemessen ist. Die entlegenen Stadttheile haben ein etwas verfallenes Ansehen und sind menschenleer.

In den hochgelegenen Gärten, dicht am Kastel, genießt man den vortheilhaftesten Ueberblick über diesen Ort, der schon zur Zeit des August berühmt war. Von diesem Standpunkte aus gesehen, (dem nämlichen, der zur Aufnahme des Stahlstichs diente,) stellt Verona und seine Umgebung ein wirklich großes und anziehendes Gemälde dar. Ueber die Masse ihrer krummen und unregelmäßigen, düstern Straßen ragen mehr als hundert schlanke Thürme und breite Dome, dazwischen hohe Zypressen zu tausenden, und rund umher ist eine freundliche, fruchtbare, unabsehliche Landschaft. Wenige Ansichten können reizender seyn.

Verona’s Glanzperiode ist das Mittelalter, wo es kurze Zeit eine bedeutende Rolle spielte. Im 12. Jahrhundert, als die meisten der Städte Oberitaliens, durch den Handel reich geworden, ihre Fürsten verjagten und die Freiheit gewannen, eroberte auch Verona seine Unabhängigkeit. Es richtete die Republik auf. Diese dauerte nicht. Innere Uneinigkeit ging Hand in Hand mit dem äußern Glück, und im Streite der Parteien fand die Herrschsucht der Einzelnen