Vernünftige Gedanken einer Hausmutter (19)

Textdaten
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Autor: C. Michael
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Titel: Vernünftige Gedanken einer Hausmutter.
19. Ein Gruß
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 10, S. 161–163
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1883
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Vernünftige Gedanken einer Hausmutter.[1]

Von C. Michael.
Nr. 19. Ein Gruß.

Ein Gruß ist ein gar eigen Ding – so wenig ist er, und doch oft so viel! Er ist ein kleines Wort, eine flüchtige Geberde, ein Hauch, ein Blick, oft nur der Ton eines längst verklungenen Liedes, der Duft einer Blume, ein vergilbtes Blatt mit halb verlöschten Schriftzügen. Solche stumme Grüße erschüttern uns in tiefster Seele, wenn sie plötzlich hinein klingen in das Alltagsleben. [162] Aber auch Grüße giebt es, die sich weich und heilend um das Herz legen und das Leid von Jahren auslöschen – oft ist es ja nur ein Wort, ein einziges Wort.

„Ein kleines Wörtchen,
Wie schwer man’s spricht!
Sie kann’s nicht finden;
Er sagt es nicht.

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Sie sitzt und weinet,

Und er geht fort;
Sie litten ein Leben
Nur um ein Wort!“

Vielleicht wär’s gar nicht einmal nöthig gewesen, es zu sprechen, das schwere: „Vergieb!“; ein Blick, ein Händedruck hätte auch genügt, aber – – –

Da seht ihr, was ein Gruß vermag. „Sie litten ein Leben“, weil sie ihn versäumten, die beiden armen Verblendeten. O, es ist etwas gar Schönes und Wunderbares um das Grüßen!

Sehen wir es uns nun aber zuerst in seiner alltäglichen Form an! Vergeht doch kein Tag, an dem nicht Jedes von uns – Robinson auf seiner Insel etwa ausgenommen – Worte des Grußes zu sprechen hätte. Aber so verschieden wie wir Menschen geschaffen sind, so verschieden ist auch unser Grüßen; kaum Einer grüßt genau wie der Andere.

Gebt nur Acht, wo etwa in größerer Versammlung neue Ankömmlinge begrüßt werden! Hastig reißt da der Eine den Hut vom Kopf; der Andere lüftet ihn nur kaum merklich. Händeschüttelnd begrüßt man sich hier, und da drüben thut’s eine steife Verbeugung. Wollt ihr aber hinhorchen – die begleitenden Worte sind nicht weniger verschieden.

Und geht es nicht gerade ebenso mit dem Schreiben?

Gleichgültig, fast mechanisch setzen tausend Menschen das gewohnte „Besten Gruß!“ unter tausend Briefe, ein Anderer aber überlegt schon stundenlang die wichtigen Fragen: Ob ich „sie“ denn wohl grüßen lasse? Ob ich es wage? Und in welchen Ausdrücken thu ich es?

O, wage es nur immerhin, du schüchterner, bescheidener Jüngling! Ein Gruß kann unter Umständen unsäglich beglücken! – „Er grüßt mich! – Er denkt also mein – immer noch!“ – Wie oft schon sind solche Worte heimlich herausgequollen aus vereinsamten Herzen, und in manches Dasein haben sie das entflohene Sonnenlicht zurückgezaubert.

Dem Gruß eng verbunden ist der Kuß, und besonders wir Frauen sind oft nicht im Stande, den einen vom anderen zu trennen. Freilich – warum reimen sie auch so hübsch auf einander? Sie müssen doch wohl zusammen gehören!

Gewiß gehören sie zusammen, aber nur in Augenblicken überwallender Zärtlichkeit. Wer je ein geliebtes Wesen nach längerer Trennung oder nach überstandenen Gefahren wieder gesehen hat, der weiß, was es heißt, wenn uns die theuren Arme fest umschließen mit Gruß und Kuß! Aber jenes mechanische Küssen rechts und links, bei jeder Veranlassung, jenes theatralische Küssen, möchte ich sagen, bei dem sich die Lippen oft kaum berühren, nicht viel besser dünkt es mich als das stereotype „Küß d’ Hand“ der Wiener Bevölkerung. Nur muß man bei solchem Freundschaftskuß auch noch still halten und kann das Gesicht nicht ablehnend wegziehen wie die Hand. Man muß das Küssen geduldig über sich ergehen lassen, ein Dutzend Mal vielleicht, wenn man „Thee-Abend“ oder gar „Geburtstag“ hat.

Da muß ich schon gestehen, ein herzhafter Händedruck ist mir lieber. Dabei kann man sich so hübsch in die Augen sehen und die Freude oder den Schmerz des Grußes darin lesen. Ist aber unsere Begegnung gleichgültig oder frostig gewesen, dann bringt noch beim Scheiden die dargereichte Hand einen Anflug von Wärme in die Situation.

Die Temperatur-Scala des Gruß-Thermometers ist überhaupt eine überaus feine; ein einziger Grad herunter – und aus schönen Augen werden Thränen erpreßt! Oder gar ein „kalter“ Gruß von Seiner Excellenz dem Minister, von dem Herrn Rector, von der „Gnädigen“, welch ein Schrecken! Auch ein vergessener oder überhörter Gruß kann viel Unheil anrichten, nicht nur beim Militär, wo er geradezu ein Verbrechen ist.

Schwierig ist ferner oft die Frage, wer von zwei sich Begegnenden zuerst zu grüßen hat, und in der Art, wie sie gelöst wird, documentirt sich Herablassung oder Dünkel, Entgegenkommen oder Ablehnen, Grobheit oder Höflichkeit.

Man erzählt sich, daß der Bürgermeister von X. kürzlich folgendes vertrauliche Schreiben an den dortigen Amtmann richtete:

„Verehrtester! Wollen Sie wohl gütigst dahin wirken, daß Ihre Frau Gemahlin die meinige bei eventuellen Begegnungen zuerst grüßt, um unliebsame Auseinandersetzungen zu vermeiden, von welchen ich in meiner Häuslichkeit viel zu leiden habe. Ihr …“

Die Antwort lautete:

„Hochgeschätzter! Leider bin ich nicht in der Lage, Ihrem Wunsche zu entsprechen, da ich nicht weniger unter dem Pantoffel stehe als Sie!“

Gar interessante Studien über das Grüßen kann man auf Bahnhöfen machen, wenn man etwa dazu verurtheilt ist, mehrere Züge kommen und gehen zu sehen, ehe der „rechte“ eintrifft.

Hören wir ein wenig zu: „Leb wohl!“, „Gott mit Dir!“, „Reise glücklich!“ Hier küssen sich ein paar Freundinnen wieder und immer wieder; dort sehen wir ein zärtliches Ehepaar in unlöslicher Umarmung – gerade vor der Coupéthür, zur Verzweiflung des Schaffners, der umsonst versucht, sich durch höfliche Worte Bahn zu machen. Andere Gruppen eilen in lautem Gespräch an uns vorüber. Bekannte ziehen den Hut vor einander oder legen grüßend zwei Finger an die Krämpe; „Ade“ und „Willkommen“ fliegen herüber und hinüber; Taschentücher wehen aus dem forteilenden Zuge; ein höflicher Bureaudiener nimmt dem eben ankommenden Chef mit dem altmodischen „Schamster Diener“ die Reisetasche aus der Hand. „Hab’ die Ehre!“ grüßt das modische Herrchen dort drüben, läßt uns aber leider im Unklaren darüber, worin die Ehre besteht, die er „hat“.

„Ich empfehle mich“ oder kürzer „Pfehl’ mich“ hören wir in den verschiedensten Tonarten als Abschiedsgruß. Superhöfliche Commis gebrauchen dieses Wort häufig auch als Begrüßungsformel bei unserem Eintritt in den Laden, wo es dann einen recht komischen Eindruck macht.

Das „Grüß Dich Gott!“ klingt uns mit herzlichem Tone entgegen; es ist der ureigentliche Gruß Oesterreichs. Und „Pfitt Di God!“ macht der Bauersmann aus dem alten „Behüte Dich Gott!“.

Da, im fernsten Winkel des geräumigen Wartesaales, wird er auch gesprochen, dieser schönste aller Abschiedsgrüße. Eine ältere Frau sitzt dort neben dem blühenden Sohn, der von ihr ziehen soll, auf lange unbestimmte Zeit, in weite Ferne. Still hält sie die Hand des Jünglings zwischen ihren beiden, und sieht ihn unverwandt an, das liebe Bild fest, recht fest zu halten in der Erinnerung. Da ertönt das dritte Läuten. Schnell erhebt sie sich und spricht leise:

„Gott behüte Dich, mein Kind!“

Der junge Mann legt ihr das Tuch fester um die Schultern und beugt sich nieder zu einem letzten Kuß auf ihre bebenden Lippen:

„Gott behüte Dich, Mutter!“

Fort ist er, und ruhig schreitet die Frau durch die schwatzende, lärmende, nach Trägern oder Wagen rufende Menge. Keiner von allen diesen Menschen braucht es ja zu wissen, daß sie ihr Letztes auf der Welt hergegeben hat und nun allein ist, ganz allein; nur „Er“, in dessen Hut sie soeben das geliebte Kind empfohlen hat, nur „Er“ darf die Thränen sehen, die daheim im einsamen Stübchen fließen. Und auch das schmerzliche Zucken um des Sohnes Lippen, der jetzt so eifrig zum Wagenfenster hinausblickt und doch nichts gewahrt von den vorüberfliegenden Bildern, sieht nur Einer, der „dort Oben“. Befriedigt denken Mutter und Sohn daran, daß Jedes seinen Schmerz so gut zu verbergen gewußt hat vor dem Andern, obwohl es ein schmerzlich bewegtes war, dieses letzte „Gott behüte Dich!“

Vom Bahnhof laßt uns in den Gesellschafts- oder Ballsaal blicken! Wir sind zu allererst gekommen und können sie nach einander eintreten sehen, die tanzlustigen oder auch – tanzunlustigen Jünglinge, die geputzten Damen und Dämchen. Jeder und Jede grüßt, aber in wie verschiedener Weise thun sie es! Anders ist das herablassende Kopfneigen der gewiegten Ballschönheit, anders wieder das schüchterne Knixen des halbflüggen Backfischchens, und wie verschieden sind die Verbeugungen der Herren, wie verschieden ihre Begrüßungen unter einander! Wer Charakterstudien liebt, hat da ein weites Feld: er kann Stolz und Bescheidenheit, Haß und Liebe, Herzlichkeit und bittere Ironie, [163] Verehrung und Geringschätzung herauslesen aus der Art des Grüßens und kann ziemlich sichere Schlüsse ziehen über das Verhältniß, welches zwischen den einzelnen Menschen besteht, die sich da – anscheinend so harmlos! – gegen einander neigen und beugen. In nichts zeigt sich ja unser Charakter so deutlich, als im Lachen oder im Grüßen.

In vielen Gegenden Deutschlands herrscht noch der Brauch, sich vor und nach dem Essen zu begrüßen. Bürger und Bauer würden dort meinen, es sei Gift in der Schüssel, wenn nicht jeder Tischgast sein: „Gesegnete Mahlzeit!“ darüber gesprochen hätte. In höheren Kreisen läßt man wohl auch das erste, gerade das bedeutsamste, Wort hinweg und sagt nur: „Mahlzeit!“

„Wünsche wohl zu speisen!“ oder: „Wohl bekomm’s!“ hört man nur noch selten und dann blos scherzweise sagen.

„Prosit!“ sagt man sich jetzt fast nur noch beim Jahreswechsel und beim Trinken, seltener, wenn Jemand geniest hat.

Sehr floriren jetzt die Toaste oder Begrüßungsreden bei Festschmäusen. Sie haben etwas Ansteckendes, Berauschendes, wie jede gemeinsame Kundgebung einer größeren Menschenzahl. In noch erhöhterem Maße wirkt es begeisternd, wenn das Volk einem beliebten Redner Beifall jauchzt oder sein gekröntes Oberhaupt jubelnd begrüßt. Solch ein vieltausendstimmiges „Lebehoch!“, der Gruß eines ganzen Volkes, hat etwas unendlich Großartiges.

In Deutschland begrüßt man sich am häufigsten durch das Nennen der Tageszeit: „Guten Morgen!“, „Guten Tag!“ oder „Guten Abend!“. Als letzten dieser Grüße wünschen wir uns gegenseitig eine „Gute Nacht!“.

Von hübschen Grußworten fremder Völker sind die bekanntesten, das „Chaire!“ („Freue dich!“) der alten Griechen, das „Ave!“ und „Vale!“ der Römer, durch unsere studirende Jugend noch fleißig im Brauch erhalten; dann der türkische Gruß: „Selâm aleikum!“ („Friede sei mit euch!“), der mit über der Brust gekreuzten Händen gesprochen wird. Vornehme Araber umarmen sich bei der Begrüßung und küssen dann die eigene Hand. Geringere werfen sich vor höherstehenden Personen auf die Erde und küssen deren Kleider. „Até logo!“ („Bis nachher!“) heißt der brasilianische Abschiedsgruß, und „Aloha oë!“ („Ich liebe dich!“) grüßt man auf den Sandwichsinseln. „Tenakoe!“ („Da bist du!“) sagt der Maori auf Neuseeland, während er seine Nase an der des Freundes reibt, und „Baid el bela alik!“ („Jedes Uebel sei dir ferne!“) der Araber, der dir zum Abschied wünscht: „Möge dein Schatten nie kürzer werden!“ Sehr charakteristisch sind einige Grußformen der Afrikaner: „Saku bona!“ („Wir sahen dich!“) spricht der stolze kriegerische Zuluneger, und „Tumella!“ („Sei mein Freund!“) der weiche gutmüthige Betschuane; „Sa yandre!“ („Du wachst!“) lautet der Morgengruß der Fidschi-Insulaner.

Um aber nun wieder in unser liebes Vaterland heimzukehren, erwähnen wir noch, daß es auch besondere Grüße für einzelne Körperschaften oder Gewerke hat.

„Glück auf!“ grüßt der Bergmann, „Gut Heil!“ der Turner etc. Dem Jäger, dessen Gruß „Waidmannsheil!“ ist, giebt man, da man ihm, einem alten Aberglauben zufolge, bei seinem Aufbruche zur Jagd kein Heil wünschen soll, scherzweise auch den Gruß, „er möge Arme und Beine brechen“, mit auf den Weg.

Und zum Schluß – noch ein Gruß – ein launiger für den bevorstehenden Wohnungswechsel! Der Autor des Liedchens ist mir leider unbekannt; er mag also verzeihen, daß ich ihn nicht nenne!


Sei mir gegrüßt!

So viel Noth erlebt und Plage
Heut’ der Mensch am Umzugstage,
So viel Spiegel geh’n in Stücken,
So viel Spindenfüße knicken,

5
So viel Bilder, wie an allen

Wänden von den Nägeln fallen,
So viel Porcellan in Scherben,
So viel Sammtfauteuils verderben,
So viel „kürzere“ Gardinen,

10
Die noch gestern „passend“ schienen,

So viel Uhren, die nicht geh’n,
So viel Schränke, die nicht steh’n,
So viel Tücher, wie da wischen
An bestaubten Speisetischen,

15
So viel Säcke, die zerplatzt,

So viel Politur zerkratzt,
So viel Schnüre abgerissen
Von gestickten Sophakissen,
So viel feine Marmorplatten

20
Einen Sprung „schon vorher“ hatten,

So viel Körbe, wie „nicht reichen“,
So viel Kisten ganz desgleichen,
So viel Fenster nicht geputzt,
So viel Dielen eingeschmutzt,

25
So viel Menschen seufzend harren

Auf den ersten Möbelkarren,
So viel Zimmer nicht gemalt,
So viel Miethe nicht bezahlt,
So viel Schrauben eingerostet,

30
So viel Geld dies Alles kostet,

So viel Krimskram eingebüßt – –
So viel Mal sei mir gegrüßt!


  1. Es freut uns, unseren Lesern mittheilen zu können, daß die in Deutschland mit so warmem Interesse aufgenommenen und in der Verlagshandlung der „Gartenlaube“ als Buch erschienen „Vernünftigen Gedanken einer Hausmutter“ nunmehr auch der englisch redenden Welt in einer gediegen ausgestatteten Uebersetzung dargeboten werden. Wir rufen den soeben zur Ausgabe gelangten „Practical Thoughts of a mother“ (New-York, Dood, Mead und Comp.) ein herzliches „Willkommen!“ und „Glück auf!“ zu.D. Red.