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Autor: J. D. H. Temme
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Titel: Verfehltes Leben
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 1, S. 1–4
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1857
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Fortsetzungsroman // Hefte 14–17
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[1]

Verfehltes Leben.

Nach wirklichen Erlebnissen vom Verfasser der „neuen deutschen Zeitbilder.“


I.
Die Schwestern.

Es war ein schwerer Druck, der in den Jahren 1806 bis 1812 auf dem deutschen Vaterlande lastete. Er war um so schwerer, und die Geschichte wird für immer diese Zeit als eine um so traurigere bezeichnen, als gerade am meisten, am dienstfertigsten und selbst am fanatischsten Deutsche es waren, die der fremden Gewalt zur Unterdrückung des deutschen Volkes dienten. Sonst und anderswo ist das gemeinsame Leiden ein festes Band zum innigen Zusammenhalten, zu gegenseitiger Treue, zur gemeinschaftlichen Kräftigung, zum gemeinsamen Widerstande gegen den Druck. Die willfährigsten Schergen jenes fremden Druckes waren Deutsche, deutsche Beamten der fremden Machthaber. So gesellte sich zu gemeinsamen Leiden das gegenseitige Mißtrauen; so wurde das Unglück des Volkes so ungeheuer groß; so wuchs aber auch zu Riesengröße und Riesengewalt die allgemeine Erbitterung, der Zorn, die Wuth des Volkes empor. Solche Früchte sah das Jahr 1813.

An einem Morgen gegen Ende April des Jahres 1810 standen in einem, zu dem damaligen Königreiche Westphalen gehörigen Landstädtchen vor einem Wirthshause desselben zwei Gensd’armen beisammen. Der Eine war ein Vorgesetzter, der Andere ein Untergebener. Dieses Verhältniß kündigten nicht nur die Schnuren auf der Uniform des Ersteren an, sondern auch sein gewandteres, freieres Benehmen, während der Andere in seiner kahleren, aber noch immer sehr kleidsamen Uniform steif, gehorsam, eckig da stand. Freilich konnte diese Verschiedenheit im Aeußeren auch einen andern Grund haben. Der Vorgesetzte war, wie Physiognomie und Sprache zeigten, ein Franzose und der Untergebene ein Deutscher. Wie in jener traurigen Zeit die deutschen Beamten der Fremdherrschaft die dienstfertigsten und fanatischsten Diener dieser Herrschaft waren, so waren die Franzosen es, die sie am gründlichsten verachteten, und sich wahrlich keinen Zwang anthaten, wenn sie Gelegenheit hatten, diese Verachtung an den Tag zu legen. Auch der französische Gensd’arm behandelte den Deutschen mit einem leichten, verächtlichen Uebermuthe und der Deutsche wurde um so eckiger und serviler.

„Aber glauben Sie mir, Herr Sergeant, der Mensch sah gerade so aus, wie jener verfolgte Advokat.“

„Ah bah, Monsieur Sebald, ich erinnere mich der Sache nicht mehr.“

„Erinnern Sie sich nur, Herr Sergeant, der eine Advokat, der Doktor Kamps aus Osnabrück, hatte in der Betrunkenheit Seine Majestät den Kaiser geschimpft.“

„Ah bah, un ivrogne!“

„Einen Spitzbuben, einen Tyrannen!“

„Betrunken!“

„Nun, nun, Herr Sergeant, er wurde dafür doch erschossen.“

„Narr! Wollte nicht widerrufen; wollte nicht einmal vor dem Kriegsgericht sagen, daß er betrunken gewesen sei.“

„Diese Verstocktheit!“

„Bah, war doch ein besserer Charakter, so anders, als die andern Deutschen.“

„Und nun war, als er die schändlichen Worte gesprochen, der andere Advokat, der Stuve, bei ihm gewesen und hatte ihm stillschweigend zugehört. Er sollte auch vor das Kriegsgericht gestellt werden, aber seine Freunde hatten ihn auf die Seite geschafft. Er wurde mit Steckbriefen verfolgt, und doch hat man seitdem nichts wieder von dem gefährlichen Menschen gehört. Ich wollte nun aber wetten, daß es derselbe ist, den ich vorhin auf meiner Patrouille gesehen habe, und der mit der Frau und dem Kinde auf dem Wege hierher ist.“

„Ah, Sie wollen wetten, Monsieur Sebald. Wetten ist keine Gewißheit!“

„Aber Sie haben die Steckbriefe, Herr Sergeant; sehen Sie die nur nach, so haben wir die Gewißheit.“

„Nichts, nichts, Monsieur Sebald; wie sollte der Mann sein so dreist, und kommen hierher? Ist unglaublich.“

„Da ist der Wagen, Herr Sergeant.“

In der That kam ein Wagen, eine gewöhnliche Reiselohnkutsche, die Straße heraufgefahren, nach dem Wirthshause zu, vor dem die beiden Gensd’armen standen.

Der Sergeant wollte nicht darauf achten und fortgehen. Ein an sich geringfügiger Umstand machte jedoch den gewandten und erfahrenen französischen Gensd’arm stutzig, und wurde die Veranlassung, daß er stehen blieb, den Wagen zu erwarten. Sein Begleiter blieb natürlich bei ihm.

Als der Wagen noch etwa dreißig bis vierzig Schritte entfernt war, hatte sich aus dem Schlage das Gesicht eines Mannes vorgebeugt, um auf der Straße, wahrscheinlich nach dem nahen Wirthshause, sich umzusehen. Die Augen des Mannes hatten die beiden Gensd’armen gesehen, und plötzlich, in demselben Augenblicke, fast wie unwillkürlich, war der Kopf des Mannes in den Wagen zurückgeflogen.

Zwar kam er gleich wieder nachlässig zum Vorschein, und die Augen sahen mit völliger Unbefangenheit umher, und blieben sogar mit eben so vollkommener Sorglosigkeit und Gleichgültigkeit auf den Gensd’armen haften, die unmittelbar vor der Thür des Wirthshauses standen, an welchem allem Anscheine nach der Kutscher mit [2] den ermüdeten Pferden halten wollte; allein der feine Franzose war einmal aufmerksam geworden, und es war ein Mißtrauen in ihm aufgestiegen, das ihn nicht wieder verlassen zu wollen schien.

„Ach, sehen Sie, Herr Sergeant,“ sagte der deutsche Gensd’arm. „Sie bleiben ja doch; die Sache wird Ihnen auch verdächtig.“

„Schweigen Sie, Gensd’arm Sebald, und thun Sie nichts ohne meinen bestimmten Befehl. Verstehen Sie?“

Der Wagen fuhr vor dem Wirthshause vor und hielt an. Ein Herr und eine Dame stiegen in gewöhnlicher Reisekleidung aus. Bedienung hatten sie nicht bei sich. Die Dame, als sie ausgestiegen war, wandte sich nach dem Innern des Wagens zurück, und nahm sanft ein schlafendes Kind heraus, ein bildhübsches Mädchen von drei bis vier Jahren, das sie auf ihren Armen in das Haus trug. Der Herr folgte ihr in dieses.

Weder der Herr noch die Dame hatten um die beiden Gensd’armen sich bekümmert, nicht einmal nur mit einem einzigen Blicke sich nach ihnen umgesehen. Desto aufmerksamer hatten die Gensd’armen namentlich den Herrn beobachtet, und wie der Gensd’arm Sebald seiner Sache schon längst, wenigstens bis zu einer Wette, gewiß sein wollte, so schien auch in dem Sergeanten eine Ahnung, eine Erinnerung, ein Verdacht auf einmal wach geworden zu sein und nach und nach immer klarer und lebendiger zu werden.

„Gensd’arm Sebald,“ sagte er zu seinem Begleiter, „eilen Sie zu meinem Bureau, und holen Sie die Steckbriefe aus dem Sommer des Jahres 1809.“

„Aber die Geschichte mit den beiden Advokaten passirte ja erst im verflossenen Winter.“

„Thun Sie, was ich Ihnen befehle. Sie bringen die Papiere in die Schenkstube da drüben. Ich werde mich dahin begeben, um die Fremden unter Aufsicht zu behalten. Sie kommen von hinten in das Haus, um kein Aufsehen zu erregen.“

Der Gensd’arm Sebald ging die Strasse hinunter. Der Sergeant verlor sich in einem gegenüberliegenden Hause.

Die beiden Reisenden, die in das Wirthshaus eingetreten waren, schienen sowohl nach ihrer Kleidung, als auch im Uebrigen, nach ihrem Aeußeren, den höhern Ständen anzugehören. Der Herr war eine große, schöne Figur, etwas geschmeidig und doch von einem gewissen strengen, militairischen Anstand. Er war brünett, das fein geschnittene, längliche Gesicht etwas blaß, die Augen schwarz, lebhaft, durchdringend. Er schien in der Mitte der dreißiger Jahre zu stehen. Die Dame mochte fünf bis sechs Jahre jünger sein, also am Ende der zwanziger oder im Anfange der dreißiger Jahre. Sie war nicht minder schön, wie der Mann, hoch gewachsen, etwas mager; glänzend schwarzes Haar, glänzend schwarze Augen, der Teint außerordentlich zart, die Züge des Gesichts außerordentlich fein geformt. Herr und Dame sahen angegriffen aus; war es von der Reise? War es von ihrem Leben überhaupt? Ein stets umherschweifender, unruhiger Blick des Mannes, ein manchmal trauriger, dann wieder grollender, aber gleichfalls stets unruhiger Blick der Frau ließen beinahe das Letztere vermuthen.

Sie ließen sich ein Zimmer anweisen, nur zum Ausruhen für eine oder anderthalb Stunden, während der Kutscher die Pferde fütterte.

Eine Aufwärterin, vielleicht eine Tochter oder andere Anverwandte des Hauses – sie waren in dem Wirthshause eines sehr kleinen Landstädtchens – führte sie eine Treppe hinauf. Sie wollte der Dame das schlafende Kind abnehmen; die Dame gab es nicht ab, um es nicht zu wecken. Das Kind schlief so süß in ihren Armen, und sie sah mit so unendlicher Liebe und Sorge auf das schlafende Kind.

Oben auf dem Gange führte die Aufwärterin die Reisenden zu einer Thür. In dem Augenblicke, als sie diese aufschließen wollte, sah sie aus dem Hintergrunde des Ganges einen Herrn in mittleren Jahren hervorkommen. Sie hielt im Aufschließen der Thür ein, mit großer Neugierde den Herrn erwartend. Schon von weitem rief sie ihm, freilich mit sorgfältig gedämpfter Stimme, entgegen:

„Wie geht es drinnen, Herr Doktor?“

Der Gefragte zuckte die Achseln.

„Schlecht, sehr schlecht.“

„Haben Sie gar keine Hoffnung?“

„Gar keine! Rettung ist völlig unmöglich.“

„Das ist sehr traurig!“

„Gewiß.“

Der Herr ging die Treppe hinunter. Er hatte mit vieler Theilnahme, mit einer gewissen Bewegung gesprochen.

Die Aufwärterin war sichtlich traurig, bekümmert geworden; sie schloß still die Thür auf, und ließ die Reisenden eintreten.

Der fremde Herr hatte die kurze Unterredung mit einiger Ungeduld angehört. Die Dame hatte ihr Aufmerksamkeit geschenkt, ob aber auch Theilnahme, zeigten wenigstens ihre Gesichtszüge nicht.

„Besorgen Sie uns ein Frühstück,“ sagte der Herr zur Aufwärterin.

Die Aufwärterin ging. Die Dame legte das schlafende Kind auf ein Bett, das in dem Zimmer stand, und blieb schweigend vor demselben stehen. Sie schien nur das Kind zu betrachten; wer sie genau beobachtete, mußte aber bemerken, daß ihre Blicke eigentlich nicht ohne einige Unruhe ihrem Begleiter galten.

Der Herr ging sehr unruhig im Zimmer umher. Es war, als wenn bisher der Druck eines unerträglichen Zwanges auf ihm gelastet habe, den er auf einmal nach der Entfernung der Aufwärterin von sich warf. Er gesticulirte mit den Armen und mit den Händen, warf den Kopf vor und zurück, und murmelte dabei heftige, aber unverständliche Worte.

Die Dame hatte sich zuletzt nur zu ihm gewandt und seine heftigen, hastigen Bewegungen verfolgt. Sie unterbrach diese.

„Gregoire, bist Du in Gefahr?“

„Ich?“ wiederholte etwas höhnisch der Mann.

„Du bist es also nicht?“

„Warum sprichst Du blos von mir, nicht auch von Dir?“

„Wenn ich zugleich von mir sprechen müßte, so müßte ich auch dieses Kind einschließen, und für so schlecht kann ich Dich nicht halten, daß Du das arme Kind in solcher Weise elend machen könntest.“

„Welches Geschwätz wieder! Bist Du in Gefahr, so hast Du selbst Dich hineingebracht, nicht ich!“

„Antworte mir, ob wir verfolgt werden?“

„Weiß ich es?“

„Warum erblaßtest Du bei dem Anblicke der Gensd’armen? Warum bist Du jetzt in dieser großen Aufregung?“

Der Mann antwortete nicht, wenigstens nicht direkt.

„Es ist ein Hundeleben, das man führt!“ rief er.

„Das weiß Gott!“ bestätigte mit einem schweren Seufzer die Frau. „Und dieses arme Kind muß schon so früh in das elende Leben hineingeworfen werden!“

Der Mann fuhr zornig auf: „Warum hast Du immer nur Sorgen für das Kind?“

Diesmal antwortete die Frau nicht.

„Und von seinen eigenen Eltern!“ fuhr sie in ihrer Klage um das Kind fort.

„Auch von Dir!“ rief höhnisch lachend der Mann. „Endlich warst Du einmal aufrichtig.“

Die Frau wandte sich plötzlich mit einem zornfunkelnden Blicke zu dem Manne. Sie hatte eine bittere Bemerkung, wahrscheinlich einen schweren Vorwurf auf den Lippen. Sie brachte sie nicht vor. Das Gesicht des Mannes war blässer, seine Unruhe war zu einer unverhohlenen Angst geworden; das sah sie. Auf einmal verließ sie das Bett, an dem sie vor dem Kinde stand, sie sprang auf den Mann zu und schloß ihn leidenschaftlich in ihre Arme.

„Gregoire, Du weißt, wie ich Dich liebe. Wir sind in Gefahr; entdecke Dich mir. Nimm mir die Angst, die mir das Herz zerdrückt, für Dich und für unser Kind.“

Der Mann blieb kalt, zurückstoßend.

„Wirklich auch für mich?“

„Auch für Dich, auch für Dich! Du weißt, wie ich das Kind liebe, wie mein Herz an dem theuren Wesen hängt. Aber nicht minder hängt es an Dir. Glaube mir, ich schwöre es Dir!“

„Du fühlst selbst, daß Deine Liebe der Schwüre bedarf, damit sie Glauben finde.“

„Hast Du denn immer nur diesen Spott, diese Qual für alle meine Liebe?“

„Immer! Ich erinnere mich noch sehr wohl der Zeit, da ich so Dich fragen mußte; ich war der Narr dazu.“

Die Frau wollte ihm etwas erinnern. Schnell rief er ihr zu: „Schweig; es kommt Jemand. Zeige keine Aufregung, wenn wir nicht verloren sein sollen.“

„Also wir sind wirklich in Gefahr?“ fragte noch einmal die Frau.

[3] Diesmal antwortete der Mann: „Ich hoffe nicht.“

„Du fürchtest also?“

„Ich habe Feinde.“

„Du hast wieder etwas gemacht? Du hast es mir verhehlt?“

„Sei unbesorgt, man wird nichts gegen mich wagen. Ich weiß zu viel, und das weiß man.“

Unmittelbar vor der Thür draußen wurden Schritte hörbar. Die Frau setzte sich zu dem Kinde an das Bett; der Mann stellte sich vor einen an der Wand hängenden Kupferstich, die Schlacht von Austerlitz darstellend, und sah mit gleichgültiger Miene auf das Bild. Die Thür öffnete sich, und die Aufwärterin brachte das Frühstück herein. Sie stellte es auf den Tisch und trat dann in jener zutraulichen Weise, die man in den Dörfern und kleinen Landstädten nicht selten antrifft, zu der Dame an das Bett des Kindes. Sie sah mit unverstellter Freude das schlafende Kind an.

„Welch’ ein schönes Kindchen!“ rief sie. „Und wie es so ruhig schläft! Wie ein kleiner Engel.“

„Es hat Gottlob einen gesunden Schlaf,“ erwiederte die Dame.

„Ach,“ fuhr die Aufwärterin mit einem Seufzer fort. „da hinten im Hause liegt auch ein Engel, dem es aber nicht so gut geht. Sie wird es wohl nicht lange mehr machen.“

„Sie haben eine Kranke im Hause?“ fragte die Dame. „Ich hörte Sie schon vorhin darüber sprechen.“

„Mit dem Arzte, der gerade von ihr kam. Er hat keine Hoffnung mehr. Wir sind Alle recht traurig im ganzen Hause.“

„Die Kranke ist eine Angehörige des Hauses?“

„O nein, eine Fremde, die erst seit drei Tagen hier ist.“

„Eine Reisende?“

„Sie kam mit der Post an. Sie war unterwegs plötzlich sehr krank und elend geworden, so daß sie nicht weiter konnte und hier liegen bleiben mußte.“

„Doch nicht allein?“ fragte die Dame, die sich unwillkürlich für das Schicksal der Kranken zu interessiren schien.

„Ganz allein,“ antwortete die Aufwärterin. „Aber sie hat hier die beste Aufnahme und Pflege gefunden. Die Mamsell, die Tochter vom Hause, hat sich ihrer sogleich angenommen; sie weicht nicht mehr von ihrem Bette. Die arme kranke Dame ist auch so gut, und noch so jung und so schön. Aber, mein Gott –“

Die Aufwärterin brach auf einmal im Tone der höchsten Verwunderung ab, starrte die Dame an, mit der sie sprach, blickte vor sich nieder und starrte wieder die Dame an.

„Was ist Ihnen?“ fragte diese.

„O, nichts.“

„Es schielt Ihnen plötzlich etwas aufzufallen?“

„Ach, ich täuschte mich wohl; es war nichts. Und doch –“

„Nun?“

„Es kam mir auf einmal vor, als wenn die Kranke einige Aehnlichkeit mit Ihnen habe. Aber ich habe mich wohl geirrt; jetzt ist es nicht mehr so.“

Die Theilnahme der Dame schien sich doch gesteigert zu haben. „Jung ist die Fremde?“ fragte sie.

„Recht jung noch,“ antwortete die Aufwärterin. „Vielleicht kaum zwanzig Jahre alt. Und so schön!“

„Und sie kam allein?“

„Ganz allein.“

„Hatte sie eine weite Reise vor?“

„Sie soll weit hergekommen sein und wollte auch noch weit. Sie war schon krank abgereist. Unterwegs, in dem alten Postwagen und den kalten Nächten, die wir in der letzten Zeit hatten, hat sie sich erkältet; sie hat anfangs nicht darauf geachtet; es ist schlimmer mit ihr geworden, bis sie zuletzt hier nicht mehr weiter konnte. Der Arzt sagt, sie habe die galoppirende Auszehrung. Sie habe die Krankheit schon seit einiger Zeit in der Brust getragen; die Beschwerden der Reise, die Erkältung, und auch wohl frühere Leiden der armen Mamsell hätten die Krankheit so furchtbar stark und so auf einmal tödtlich gemacht. Nun muß sie hier so allein, so entfernt von allen ihren Anverwandten und Freunden sterben. Es ist wohl recht traurig.“

„Sehr traurig,“ wiederholte die Dame mit einem fast ängstlichen Blick auf ihr Kind, das so ruhig vor ihr auf dem Bette schlief. Beinahe wie mechanisch setzte sie die Frage hinzu: „Weiß man den Namen der Fremden?“

„O ja,“ antwortete die Aufwärterin. „Sie hat einen Paß bei sich, und heißt Mamsell Andreä.“

Die Dame fuhr mit einem lauten Schrei von ihrem Sitze auf. „Allmächtiger Gott!“ rief sie.

„Sie kennen sie?“ fragte die Erstere.

Der Herr, der bei dem Namen der Fremden sich plötzlich entfärbt, aber auch eben so schnell sich wieder gefaßt hatte, warf der Dame einen strengen, befehlenden Blick zu und sagte gleichzeitig in dem ruhigsten Tone seiner Stimme zu ihr:

„Wie kannst Du Dich bei dem Namen erschrecken? Er findet sich häufig. Ich denke, wir frühstücken, damit wir bald wieder aufbrechen können.“

Aber die Frau ließ sich weder durch die Worte noch durch den Blick beruhigen. „Woher kommt die Fremde?“ fragte sie die Aufwärterin.

„Das weiß ich nicht; ich habe nicht darauf geachtet.“

„Wissen Sie ihren Vornamen?“

„Marie Antoinette steht im Paß.“

„Um Gotteswillen! Und sie sieht mir ähnlich?“

„Gewiß, gewiß. Ich meine, wenn die arme Mamsell nicht so krank wäre, sie müßte Ihnen zum Verwechseln gleichen.“

„Sie ist es; es kann kein Zweifel sein. Es ist –“

„Antoinette!“ sagte befehlend und verweisend der Mann.

Aber die Frau war in immer heftigere Aufregung gerathen. „Es ist meine Schwester!“ rief sie. „Meine arme Schwester, Krank, elend, sterbend. Und allein! In der Fremde! Mich sendet der Himmel ihr zu.“

„Antoinette, wie kann eine bloße Vermuthung Dich so außer Dir bringen?“

„Ich muß zu ihr. Führen Sie mich zu ihr.“

„Du wirst Dich vorher genauer erkundigen,“ sagte der Mann laut. Leise aber setzte er hinzu: „Ich beschwöre Dich, Du wirst uns Alle unglücklich machen.“

Die Frau achtete auch auf seine Beschwörung nicht. „Eilen Sie,“ drängte sie die Aufwärterin. „Eilen Sie zu der Kranken. Fragen Sie, ob sie aus Würzburg komme. Und wenn sie von dort kommt –“

Der Mann warf ihr einen vernichtend drohenden Blick zu. Sie stutzte einen Augenblick, dann fuhr sie leidenschaftlich fort: „Und wenn sie von dort kommt, so sagen Sie ihr, daß ihre Schwester hier sei, Antoinette Andreä. Eilen Sie. Kehren Sie schnell zurück. – Oder nein, ich begleite Sie sofort. O, diese Unruhe ist tödtlich!“

Sie wollte mit der Aufwärterin das Zimmer verlassen. Der Mann hielt sie gewaltsam zurück.

„Antoinette,“ flüsterte er ihr zu, „weißt Du, daß die Gensd’armen mir auf den Fersen folgen?“

„Fliehe,“ erwiederte die Frau; „aber laß mich, ich muß zu ihr!“

„Du willst mich verlassen?“

„Ich kann meine sterbende Schwester nicht allein lassen.“

„Du wolltest auch Dein Kind verlassen?“

„Mein Kind?“ rief die Frau.

Der Gedanke, auch ihr Kind verlassen zu müssen, schien sie plötzlich an den Boden zu fesseln. „Nein, nein, mein Kind bleibt bei mir.“

„Aber ich –?“

Der Mann sprach die Worte in demselben Tone des Vorwurfs, in welchem er ihr vorhin ihren Mangel an Liebe vorgehalten hatte. Auf einmal wurde die Frau ruhiger, ihr Blick klarer.

„Warten Sie draußen auf mich, Jungfer,“ sagte sie zu der Aufwärterin. „Ich folge Ihnen sogleich.“

Die Aufwärterin verließ das Zimmer. Die Frau richtete sich in fast gebieterischer Stellung vor dem Manne auf.

„Gregoire,“ sagte sie, äußerlich ruhig, beinahe kalt, „Du hast mich elend gemacht, mich und das arme Kind dort. Ich bringe Dir ein Opfer, daß ich noch bei Dir bleibe. Willst Du Unmenschliches von mir verlangen, so zerreiße ich alle Bande zwischen Dir und mir.“

„Ah,“ höhnte der Mann, „Du hast die Schwester wiedergefunden! Aber weißt Du, ob sie Dich aufnehmen wird? Doch was frage ich? Sie liegt im Sterben. Du willst nur so en passant eine Erbschaft in Besitz nehmen.“

Die Frau sah ihn verächtlich an. Auf einmal aber verlor sich auch der Hohn des Mannes. Es schien plötzlich ein Gedanke in ihm aufzusteigen. In seinen Augen zeigte sich ein vorüberfliegender Glanz; aber es war ein widerwärtiger Glanz.

[4] „Geh’,“ sagte er, seinerseits jetzt drängend, zu der Frau. „Halte Dich nur nicht länger auf, als nöthig.“

Die Frau schien den Gedanken zu errathen, der ihn beschäftigte. Sie sah ihn nicht mehr verächtlich, aber mit einer tiefen Trauer an, und als ihre Augen von ihm zu dem schlafenden Kinde hinüberglitten, füllten sie sich mit Thränen. Sie hauchte einen Kuß auf die Lippen des Kindes und verließ das Zimmer. Wenn sie einen festen Willen hatte, so war sie nicht zugleich sorglos.




Ein trauliches Stübchen des Wirthshauses, hinten nach dem Garten, fern von allem Geräusche der Straße wie des Hauses gelegen, war zu einem Krankenzimmer geworden. Das einzige Fenster war mit einem dichten Vorhange versehen, so daß man sich in einer Art von Halbdunkel befand. In diesem Halbdunkel herrschte die tiefste Stille; man hätte das leiseste Summen einer Mücke hören müssen, wenn solche in dem Zimmer gewesen wäre. Man konnte meinen, nur der Tod sei hier, er sei so eben hier eingekehrt; aber er sei still und sanft eingekehrt, wie der Engel des Todes, und habe Allem, was lebend dagewesen, still und sanft die Augen zugedrückt: so still, so ruhig, und so heimlich war es in dem Stübchen.

Dennoch zeigte das Halbdunkel zwei lebende Wesen. Eine zum Erschrecken blasse und abgemagerte Kranke lag im Bette. Trotz der Blässe und Magerkeit erkannte man ihre Jugend und ihre Schönheit. Man erkannte aber auch, daß Jugend und Schönheit hier unrettbar dem nahesten Tode geweihet waren. Die Augen der Kranken waren geschlossen; der Todesengel hatte sie noch nicht zugedrückt; sie warteten noch auf seinen letzten, stillen, sanften Druck. Sie warteten darauf, die Kranke schlief nicht. Sie war im Gegentheil unruhig. Ihre Augäpfel bewegten sich unter den geschlossenen Lidern; ihre Brust wogte, als wenn sie von erstickender Luft zu voll sei; ihre Lippen schienen vergebens nach erfrischender Luft zu haschen. Zu einer weiteren Bewegung war der unruhige, nicht von dem Kampfe mit dem Tode, aber von der Erwartung des Todes ergriffene Körper zu schwach.

Vor dem Bette zu dem Haupte der Kranken saß ein frisches, blühendes junges Mädchen von achtzehn bis neunzehn Jahren. Das Bild des Lebens und des Todes so unmittelbar beisammen! Das blühende Mädchen achtete mit einer liebenden Sorgfalt auf jede Bewegung der Sterbenden. Eine Schwester hätte nicht liebevoller, nicht achtsamer sein können. Es war die Tochter des Hauses, die der, vor wenigen Tagen krank und elend, allein und hülflos angekommenen Fremden seitdem die Theilnahme und Pflege einer Schwester widmete.

Die Stille der Krankenstube wurde nach einer Weile unterbrochen. Die Kranke war plötzlich ruhiger geworden. Die Augen bewegten sich nicht mehr; die Lippen schlossen sich leise. Ein stiller Friede, eine wie heilige Verklärung schien sich nach und nach über die ganze Gestalt zu ergießen. Das Gesicht bekam eine natürliche Form, bestimmtere Züge zurück; eine feine Röthe zeigte sich sogar, auf den Wangen wie auf den Lippen. Die Kranke schlug die Augen auf, ein paar große, schwarze Augen, glänzend wie von einem himmlischen Glanze. Nahete sich ihr der Todesengel, um den Leib von seinen Leiden zu erlösen, den Geist in die seligen Gefilde des Himmels hinüberzutragen?

Wie schön, wie irdisch und zugleich wie überirdisch schön war diese Sterbende! Die großen glänzenden Augen wandten sich zu der Freundin, die vor dem Bette saß. Der nahe Tod hatte schnell die beiden Herzen befreundet.

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Autor: J. D. H. Temme
Titel: Verfehltes Leben
aus: Die Gartenlaube 1857, Heft 2, S. 17–20
Fortsetzungsroman – Teil 2

[17] „Liebe Therese,“ sagte die Kranke mit einer klaren, milden, freundlichen Stimme, „geben Sie mir Ihre Hand.“

Sie war zu schwach der Freundin die Hand hin zu reichen. Das Mädchen nahm dieselbe sanft, doch sah man zugleich Verwunderung, Freude und Zweifel in ihrem Auge gemischt leuchten.

„Ihre Hand ist warm,“ erwiederte sie, „und Sie sind auch seit einer Viertelstunde so ruhig geworden.“

„Ja, meine Liebe,“ lispelte die Kranke. „Meine Hand ist wieder warm und meine Brust frei. Sie verlassen mich doch nicht? Es ist nur noch eine Viertelstunde.“

„O mein Gott, liebe, theure Marie!“

„Es ist der Tod, der sich mir nahet; ich fühle ihn. Es ist mir so leicht, so frei. Nicht wahr, Sie verlassen mich nicht?“

„Wie könnte ich –?“

„Ich möchte nicht gern so ganz allein sterben. Der liebe Gott wird es Ihnen lohnen, daß Sie bei mir ausharren. Einst –. Aber weinen Sie nicht, Therese, sein Sie freundlich. Ich möchte in dem letzten Augenblicke die schöne Welt so recht schön und freundlich sehen. So, trocknen Sie die Thränen; und nun, wie ist der Himmel draußen?“

„Die Sonne scheint.“

„Und ist die Luft warm?“

„Ungewöhnlich warm heute.“

„Das ist schön, dann sind Sie wohl so freundlich, den Vorhang von dem Fenster zu ziehen.“

Die Freundin stand auf und befreite das Fenster von dem Vorhange. Der blaue Himmel leuchtete, die Sonne schien hell und freundlich in das Zimmer hinein. Draußen unter dem Fenster befand sich ein Aprikosenstock, ein Zweig mit den rothen Blüthen sah durch dasselbe. Die Augen der Kranken wurden glänzender, und die feine Röthe ihres Gesichts lebhafter.

„Die Luft draußen ist warm, sagten Sie, liebe Therese?“

„Sehr schön warm.“

„O, dann öffnen Sie auch das Fenster, damit ich noch einmal die frische, freie Frühlingsluft einathmen kann, den süßen Duft jener Blüthen!“

Die Freundin sah unentschlossen bald auf das Fenster, bald auf die Kranke. Die Kranke bemerkte es.

„Oeffnen Sie nur, Therese, es wird mir nicht mehr schaden.“

Die Freundin öffnete das Fenster. Der blaue Himmel glänzte heller in das Stübchen, die Sonne schien wärmer hinein, die Blüthen des Aprikosenstockes sandten ihren süßesten Duft. Das Aeußere der Kranken belebte sich mehr und mehr; schneller und schneller trat der Tod heran. Ihr Inneres schien in demselben Verhältnisse klarer und ruhiger zu werden; sie ließ voll in ihre Brust die freie, frische Frühlingsluft, den süßen Duft der Blüthen einziehen. Dann fuhr sie mit ihrer freundlichen milden Stimme zu der Freundin fort:

„Falten Sie mir die Hände, Therese; ich will mein letztes Gebet verrichten. Aber weinen Sie nicht, meine Freundin.“

Die Freundin konnte die Thränen kaum noch zurückhalten, die gewaltsam hervordringen wollten, aber nur unter Zittern konnte sie die Hände der Sterbenden falten. Die Sterbende betete still, und die Freundin mit ihr. Das Gebet war beendet.

„Und nun, meine liebe Freundin, meine letzte Bitte an Sie. Oeffnen Sie meinen Koffer dort. Rechts in ihm werden Sie ein kleines Mahagonikästchen finden. Der Schlüssel steckt darin. Schließen Sie es auf. Ganz oben liegt ein Brief, den nehmen Sie und setzen sich damit dicht an das Bett, recht dicht zu mir, und lesen ihn mir vor. Während des Vorlesens werde ich einschlafen, mit dem Gedanken an ihn, bis zur Wiedervereinigung mit ihm. O, drüben gibt es ja keine Zeit!“

In einer Ecke des Stübchens stand ein Reisekoffer, den die Freundin öffnete. Sie fand das Kästchen und schloß es auf. Es lagen nur Briefe darin. Den obersten nahm sie heraus und setzte sich damit an das Bette der Sterbenden, dicht vor diese.

Mit der Kranken war unterdeß eine Veränderung vorgegangen. Aus ihrem Gesichte war plötzlich alle Röthe gewichen; die Leichenfarbe lag darauf, aber eine außerordentlich weiße, klare, durchsichtige. Die Augen waren größer geworden, fast geisterhaft groß; ihr Glanz war noch da, aber er schien ein völlig überirdischer zu sein. Der Tod stand an dem Bette. Nur noch wenige Minuten, und er hatte hier sein Werk vollbracht.

Die Freundin entfaltete den Brief und las:

„Meine liebe Marie! Wie vielen Schmerz und wie viele Freude hat mir Dein Brief gebracht. Ich habe mich lange sammeln müssen, ehe ich Dir antworten kann. Ich mußte es auch, als ich Deinen Brief erhielt, als ich Deine theuern Schriftzüge in meinen Händen hatte, zum ersten Male wieder seit Jahren. Du lebtest noch, das war gewiß. Du liebtest mich noch, auch das war gewiß, denn Du lebtest ja. Aber gehörtest Du noch mir? Warst Du noch mein? Du warst es, Du bist es. Du bist es geblieben in allen Deinen Drangsalen, in allen Deinen Leiden. Und wieviel, wie schwer hast Du gelitten! Mit welcher Geduld, mit welcher Ergebung, mit welcher wahren Seelengröße! Wie [18] selbstsüchtig war ich dagegen gewesen! Fern in dem fremden Norden, flüchtig, ohne Freund, getrennt von allen meinen Lieben, ohne Nachricht von ihnen, und sie ohne Nachricht von mir, meine theure, ehrwürdige Mutter und Du, meine über Alles geliebte Marie! Mein braver König im Exil mit zerrissener Krone; die edle Königin mit dem zerrissenen Herzen, wie bald wird es, muß es völlig brechen. Mein Vaterland –. Aber kann auch nicht dieser Brief in fremde Hände fallen, wie die anderen? Ich hatte gemeint, meine Leiden, mein Schmerz müsse weit Alles übertreffen, was das Schicksal Schweres über Euch verhängen könne. Wie selbstsüchtig war ich! Wie unendlich größer, tiefer, schwerer war Dein Leiden, Du Engelgute!

„Möge es sein Ende gefunden haben, möge nur Glück und Freude für Dich blühen! Wir Alle hier kennen keinen anderen Gedanken, ich, meine Mutter, die gute Emma. Wie freuen sie sich, Dich kennen zu lernen, Dich mit mir in ihre Arme zu schließen, Dich mit mir zu lieben!

„Du kommst, Du willst den weiten Weg allein machen, Du willst mich keiner Gefahr aussetzen, die mich, den Confinirten, nothwendig treffen müsse, wenn ich Dich abholen wollte. Dir drohe in der gegenwärtigen ruhigern Zeit keine erdenkliche Gefahr. Ich habe mit meinen Lieben hier Alles überlegt; Du hast Recht. Ich könnte es vielleicht wagen. Dir entgegenzukommen, aber wenn ich entdeckt würde, so wäre mein Loos das Innere von Frankreich, vielleicht gar Cayenne, immer eine neue, langjährige, wahrscheinlich gar immerwährende Trennung von Dir. Du hast Recht; es wäre Vermessenheit, so viel, Alles, auf das Spiel zu setzen. So mußt Du denn allein kommen; und, o, meine liebe Marie, komm’ nur recht bald. Die Bäume knospen schon, die Luft ist schon warm und mild geworden; der Frühling kommt so schön heran. Mit seinem ersten sanften Wehen, mit seinem ersten fröhlichen Lauten ziehst Du bei uns ein.

„So schreibst Du auch, Du willst Deine Reise antreten, sobald Du diesen Brief erhältst. Thue das, aber reise vorsichtig; bewahre Deine theure Gesundheit. Ich meine ohnehin immer, es sei nicht Alles, wie es sein müsse, Du seiest nicht ganz so wohl, wie Du schreibst. Deine Schriftzüge sind so klar und fest wie je; dennoch, wenn ich sie betrachte, ist es mir, als rufe jeder Buchstabe mir zu: mich hat eine leidende Hand, ein bleiches Bild geschrieben. Und wäre es ein Wunder, wenn es anders wäre, nach allen Deinen Leiden, bei Deinem zarten Körper? O, laß recht, recht bald Dein schönes, frisches, blühendes Bild die Buchstaben und alle meine schwarzen Ahnungen Lügen strafen!

„Deine Reiseroute kennst Du. Bis Holzminden fährst Du mit der Post, welche des Nachts dort ankommt. Von heute über vierzehn Tage an – früher ist Dein Eintreffen nicht möglich – wird in dem dortigen Gasthofe fortwährend ein Zimmer für Dich bereit sein. Du wirst die Nacht dort ausruhen, ein Bote wird sogleich nach Deiner Ankunft hierher zum Gute abgehen, und am andern Morgen wird der Wagen bei Dir sein, Dich abzuholen. Wenn es Dir möglich ist, so sendest Du mir vor Deiner Abreise noch ein paar Zeilen.

„Und nun, meine liebe, meine theure, meine einzig geliebte Marie, lebe wohl. Lebe wohl, und möge der Himmel Dich behüten bis zu unserem baldigen, glücklichen Wiedersehen. Wiedersehen nach so langer, bitterer, schmerzvoller Trennung! Ich kann Dir nicht sagen, wie mir das Herz schlägt bei dem Gedanken des Wiedersehens. Gott im Himmel, behüte meine theure Marie, führe sie glücklich in meine Arme. Ich habe keinen andern Gedanken, kein anderes Gebet mehr. Lebe wohl bis zum Wiedersehen! Meine gute Mutter fügt noch einige Zeilen bei. Lebe wohl. Dein, ewig Dein Hermann.“

„Ewig,“ lispelten leise die Lippen der Sterbenden.

Sie hatte während des Lesens die Augen geschlossen, und dann ohne Bewegung gelegen. So hatte sie zugehört; oder hatte sie nicht mehr zugehört? Las die Freundin den Brief einer Leiche vor? Die geschlossenen Augen, das unbeweglich stille Gesicht, die halb geöffneten Lippen, die schneeweiße Wachsfarbe des Todes, die auf der Brust gefalteten Hände, Alles kündigte eine Leiche an.

„Ewig,“ lispelten die Lippen. Sie lebte noch.

„Lese ich auch das Andere?“ fragte die Freundin.

Die Sterbende wollte eine bejahende Bewegung machen. Sie war zu schwach. Die Freundin glaubte, die Lippen ein leises Ja lispeln zu hören und las weiter:

„Meine herzlich geliebte Tochter! Ich muß die Zeilen meines Hermann mit einigen Worten an seinen Engel begleiten. –“

Die Leserin mußte einhalten; draußen wurde leise an die Thür gepocht. Sie stand auf, um nachzusehen, wer da sei. Vorher warf sie einen Blick auf die Kranke; diese lag unverändert ruhig. Die Freundin öffnete fast unhörbar die Thür, trat hinaus, und zog sie eben so leise hinter sich zu.

Nach etwa einer halben Minute kehrte sie mit einem besorgten, ängstlichen, beinahe erschrockenen Gesichte zurück. Ihr erster Blick fiel wieder auf die Kranke. Diese lag noch völlig so, wie sie sie verlassen hatte. Aber lebte sie noch? Die Freundin beugte sich über sie, um sich zu überzeugen. Sie fühlte den noch eben bemerkbaren Hauch der sterbenden Lippen, und wurde ängstlicher. Sie kämpfte mit einem schweren Entschlusse. Ihr Auge ruhete traurig, mitleidig auf der Sterbenden. Sollte sie diese Ruhe stören, die Todesruhe, die letzten Augenblicke der so sanft, so selig hinüber Scheidenden? Und doch mußte sie es, und zwar sogleich. Es waren ja nur noch wenige Augenblicke ihr zugemessen.

„Liebe Marie,“ sagte sie sanft.

Die Kranke bewegte leise die Lippen, wie zum Zeichen, daß sie zuhöre.

„So eben,“ fuhr die Freundin fort, „ist hier eine Dame eingetroffen, die Sie kennt. Sie steht vor der Thür; darf sie eintreten?“

Die Kranke suchte eine Bewegung zu machen; ihre Anstrengung war vergebens.

„Die Fremde steht Ihnen nahe,“ sprach die Freundin vorsichtig weiter. „Sie wünscht so sehr, Sie zu sehen, und bittet dringend darum. Sie ist, so sagt sie, Ihre Schwester Antoinette.“

Die Sterbende riß wild die Augen auf; die gefalteten Hände fuhren auseinander.

Welche Kraft hat das starke Gefühl des Herzens! Es überwältigt selbst den Tod, es treibt ihn zurück, wenn auch nur auf wenige, kurze Momente. Oder trat er mitleidig, barmherzig zurück vor dem innigen, tiefen Herzensgefühle? Der Tod mitleidig, barmherzig? wie oft ist er es, und wie freundlich!

Die Sterbende starrte mit den großen, schon zum Tode geschlossenen Augen die Freundin wild, verwirrt an. Sie wollte sich aufrichten, aber dazu reichte die wiedergewonnene Kraft nicht aus. Sie konnte nur sprechen, wenngleich sehr schwach.

„Antoinette!“ sagte sie, und wie sie das Wort aussprach, nahm der wilde, verwirrende Blick ihres Auges den Ausdruck des Schreckes, beinahe des Entsetzens an. Allein schnell wurde er wieder milder, ruhiger. „Sie komme,“ sagte sie.

Die Freundin öffnete langsam, leise die Thür.

„Treten Sie ein,“ flüsterte sie hinaus, „aber sein Sie ruhig, ich beschwöre Sie.“

Die Fremde trat ein. Die Sterbende hörte sie, wandte das Auge nach ihr und sah sie.

Das Auge hatte seinen überirdischen, verklärten, seligen Glanz wiedergewonnen. Einen Augenblick lang, sls es die Fremde sah, kehrte der Ausdruck irdischen Schmerzes, hinein, dann aber war es wieder verklärt, selig. So ruhete es auf der Fremden. Diese hatte sich zusammengenommen. Es mußte dazu großer Kraft bedurft haben, gegenüber der Leidenschaftlichkeit dieser Frau. Sie hatte diese Kraft, aber ihre Thränen hatte sie nicht zurückhalten können. Mit diesen beugte sie sich sanft über die Kranke, und drückte einen weichen Kuß auf die beinahe schon erkalteten, von den erneuten Schlägen des Herzens noch einmal schwach erwärmten Lippen.

Es war ein sonderbarer Anblick, diese beiden Schwestern, die sich so plötzlich, so unerwartet trafen, an dem Todesbette der Einen, die sich, vielleicht nach vieljähriger Trennung, wiederfanden, um sofort für immer wieder von einander gerissen zu werden. Die Form, alle Züge des Gesichtes, einander zum Verwechseln ähnlich, nicht blos ähnlich, ununterscheidbar gleich, dieselben. Und doch, wie unähnlich, wie verschieden waren sie! Vielleicht nicht blos in diesem Augenblicke, vielleicht schon immer! Auch die Eingetretene, Antoinette, war blaß und abgemagert; auch ihre großen, schwarzen Augen hatten einen kranken, müden Blick. Aber hatte die Haut ihres Gesichtes je so wunderbar fein, klar und durchsichtig sein können, wie die der Sterbenden? Waren diese Augen jemals jener überirdischen, seligen Verklärung fähig gewesen? Hatte jemals das ganze Gesicht so unendlich still, erhaben, edel sein können? Nein! [19] sprach entschieden auch das mildeste Urtheil, und es dachte unwillkürlich an ein unbändiges Herz, an wilde Begierden, an ein wildes Leben.

„Meine arme, arme Marie!“ sagte mit dem Tone des innigsten, aber gewaltsam zurückgehaltenen Schmerzes die eingetretene Schwester.

„Antoinette, Du bist es?“ hauchte die Sterbende mit Milde und mit Liebe.

Die Milde und die Liebe zerrissen das Herz der Schwester, zerbrachen alle die mühsam errungene Kraft. Sie fiel vor dem Bette auf die Knie, ergriff die Hand der Sterbenden, und drückte sie leidenschaftlich an ihre Lippen.

„O, meine Marie, meine Marie, und Du liebst mich noch! Du kannst mich noch lieben! Du hast nicht –“

„O, Madame, was haben Sie versprochen,“ ermahnte die Freundin.

Die Schwester nahm sich von Neuem zusammen; sie lächelte ruhiger, mit dem Ausdrucke des innigsten Dankes, der Sterbenden zu. Die Sterbende sah sie verklärter, seliger an.

Im Himmel, sagt die Bibel, ist mehr Freude über einen Sünder, der Buße thut, denn über neunundneunzig Gerechte.

Als wollte es diese Freude des Himmels aussprechen, sah das Auge der Sterbenden vergebend, segnend, glücklich auf die knieende Schwester. Einen Augenblick nachher war es glanzlos, gebrochen. Die Schwester knieete vor einer Leiche.

Man hatte keinen Kampf gesehen, man hatte keinen Laut gehört, nicht einmal einen letzten Seufzer.

Welch’ ein schöner Tod!

Die Freundin drückte das gebrochene Auge zu, und faltete wieder die erkalteten Hände! Sie konnte es diesmal ohne Zittern und ohne Weinen. Aber als es geschehen war, fiel sie in heftigem Schluchzen, in lautem Weinen vor dem Bette nieder. Doch in dem sanften, frommen Mädchen konnte der heftige Ausbruch des Gefühles nicht lange anhalten.

„Lassen Sie uns beten für den Engel,“ sagte sie zu der Schwester. „Es wird auch Sie aufrichten.“

Sie betete, still, wie sie vorhin mit der Todten gebetet halte. Mit ihr betete die Fremde.

Nach einer langen Zeit erhob sich das fromme, besonnene Mädchen.

„Es ist Mancherlei zu besorgen für die Todte,“ sagte sie. „Ich werde es ordnen, wenn Sie es mir überlassen wollen.“

Die Fremde nickte ihr Zustimmung zu.

Bald nachher erhob auch sie sich, küßte noch einmal der Todten die Stirn, die Lippen, die Hände. Sie wurde gefaßter, ruhiger; trocknete ihre Thränen, und konnte mit einem stillen Blicke die Entschlafene betrachten. Dabei fielen ihre Augen auf ein entfaltetes Papier, das auf dem Fußende des Bettes lag. Es war der Brief, den die Freundin der Gestorbenen vorgelesen hatte. Sie warf, wie mechanisch einen Blick hinein. Die Worte, die sie las, erregten ihre Aufmerksamkeit. Sie nahm den Brief auf, las ihn vom Anfange bis zum Ende, mit wachsender Aufmerksamkeit, zuletzt gespannt.

Auf einmal ging sie mit heftigen, beinahe sich überstürzenden Schritten in dem Stübchen umher. Aber wie verändert war sie plötzlich! Wie furchtbar, wie zum Entsetzen verändert! War das die Schwester, die noch vor wenigen Augenblicken auf das Tiefste erschüttert an dem Sterbebette gestanden und dann vernichtet, aufgelöst zusammengebrochen war? Keine Spur mehr von einer Trauer, einem Schmerze. Ein wilder Blitz leuchtete plötzlich in dem dunklen Auge, die Brust keuchte, wie unter einer schweren Bürde, die Lippen warfen sich auf, wie von einem wilden Entschlusse. „Mein Kind – mein Kind,“ rief sie mehrere Male und ihre Schritte wurden hastiger; sie durchrannte die Stube. Mitten im Laufe hielt sie inne. Ein Kampf schien in ihr zu toben. Wollte ein besserer Entschluß jenen wilden zurückdrängen? „Nein, nein,“ rief sie in voller Aufregung, „fort von ihm, der mein Leben, der das meines Kindes vergiftet!“ Sie nahm das Papier wieder auf, das sie auf einen Tisch geworfen hatte, und durchflog es. Der wilde Entschluß hatte den Sieg davon getragen; ihr Auge schoß dunkle feindliche Blicke. Die Blicke trafen die Leiche, die Schwester, die dahingeschiedene Schwester.

Wie unähnlich waren die beiden Schwestern wieder. Jenes stille, selbst von dem Todeskampfe verschonte, selig schlafende, edle Antlitz! Dieses Gesicht, von heftiger Begierde, wilder Leidenschaft, einem furchtbaren Entschlusse entstellt, verzerrt, zerrissen! Sie trat an die Leiche heran, ergriff die kalte Hand und hauchte einen langen, langen Kuß darauf. „Vergib, vergib,“ rief sie leise. Dann warf sie die Augen in dem Zimmer umher und suchte etwas. Auf dem geöffneten Koffer der verstorbenen blieben sie haften. Sie flog zu ihm; sie langte hinein, ihn zu durchwühlen. Ihr Blick fiel auf das Mahagonikästchen. Sie griff danach und sah die Briefe, mit denen es gefüllt war. Sie nahm einige heraus und besah die Aufschrift. Der wilde, feindliche Blick ihres Auges kehrte wilder, feindlicher zurück. Sie zog die sämmtlichen Briefe hervor, setzte sich damit an einen Tisch und entfaltete und las sie, einen nach dem andern, in der Ordnung, in welcher sie gelegen hatten. Sie vertiefte sich in sie immer mehr; sie vergaß alles Andere. Nichts in der Welt schien mehr für sie da zu sein, als die Papiere, die sie verschlang; nicht ihr Reisegefährte, den sie in dringender Gefahr der Verfolgung verlassen hatte; nicht ihr Kind, das bei ihm allein zurückgeblieben, nicht die Schwester, die vor wenigen Minuten verschieden war. Und sie saß so nahe bei der Leiche. Eilig der Stube sich nähernde Schritte störten sie. Sie warf die Briefe in das Kästchen zurück und stellte dasselbe wieder auf seinen Platz in dem Koffer. Die Freundin der Verstorbenen kehrte zurück; sie war eilig, verlegen, verstört.

„Madame, das ist ein schwerer Tag für Sie. Die Gensd’armen verhaften in diesem Augenblicke Ihren Gemahl, wenn der Herr, mit dem Sie gekommen sind, Ihr Gemahl ist.“

Wiederum blitzte es in den Augen der Fremden auf. War es der Blitz plötzlicher Freude! Dann war es der Blitz einer entsetzlichen Freude. Er hielt kaum eine Sekunde an. Nicht Heuchelei verdrängte ihn; es war ein anderes Gefühl, stärker, weil vielleicht unmittelbarer als jene Freude, das sich auf einmal in ihrem Gesichte aussprach.

„Mein Kind!“ rief sie.

Sie stürzte, alles Andere um sich her wieder vergessend, aus der Stube, sie flog zu dem Zimmer, in dem sie ihren Reisegefährten und ihr Kind zurückgelassen hatte. Nur das Kind war noch da. Es schien erst in dem Augenblicke erwacht zu sein, als sie eintrat. Seine schönen Augen leuchteten ihr mit freundlichem Lächeln, seine runden Aermchen streckten sich ihr mit süßem Verlangen entgegen. Sie schloß es in ihre Arme und küßte es.

„Wo ist der Vater?“ fragte das Kind.

Die Frau trat an das Fenster und sah auf die Straße. Dort wurde ihr Reisegefährte von zwei Gensd’armen fortgeführt. Er sah nach dem Fenster zurück, gewahrte sie und warf ihr einen schnellen, sprechenden Blick zu: „Ich verrathe Dich nicht!“

Sie schien sich auf einmal leicht, sehr leicht zu fühlen. „Er ist verloren,“ murmelte sie, „er geht in den Tod!“ Sie schloß das Kind fester in ihre Arme; sie küßte es heißer, inniger.

„Du sollst glücklich werden, meine süße Agnes.“




II.
Die Verlobten.

Der Monat Mai sandte die schönsten Blüthen des Frühlings mit ihrer Farbenpracht und ihrem Dufte in Feld und Flur und Wiese und Wald, also auch in Deutschlands Fluren und Wälder. Aber er fand keine fröhlichen Herzen, und er konnte die Herzen nicht fröhlich stimmen. Ueberall in dem schönen Lande und auf allen Schichten seines braven, herrlichen Volkes lastete der Druck des fremden Despotismus, vielfach niederdrückend, gar lähmend, freilich nirgend erdrückend, tödtend, meistens vielmehr still stärkend die nur augenblicklich geschwächte Kraft, stählend den nie gebrochenen Muth, anfeuernd den nur äußerlich niedergehaltenen Geist, und so vorbereitend jene großen Thaten, durch die nach wenigen Jahren das Volk die fremde Tyrannei von sich abschüttelte.

Etwa anderthalb Meilen von Holzminden, oberhalb dieses Städtchens an der Weser lag in einer malerischen Gegend das Schloß Harthausen. Es lag auf einer mäßigen Anhöhe, mit der Aussicht in eine weite Strecke des Thales, auf die Krümmungen des schönen Stromes oberhalb, und unterhalb und auf die vorspringenden Parthien des Sollingerwaldes. Es war ein Besitzthum der verwittweten Generalin von Rixleben, deren Mann in preußischen Diensten gestanden hatte, aber schon vor längerer Zeit, [20] vor der unglücklichen Katastrophe von 1806, gestorben war. Die Generalin lebte seitdem in diesem Schlosse.

Sie lebte hier sehr zurückgezogen und einsam. Manches trug hierzu bei. Ihr Mann hatte ihr kein anderes Vermögen hinterlassen, als das Gut Harthausen; wie wohl erhalten dieses nun war, so war es doch nur klein und gab geringe Einkünfte. Die Wittwenpension, die die Generalin von der preußischen Regierung bezog, war seit dem unglücklichen Jahre 1806 um die Hälfte heruntergesetzt worden. Andererseits hatte die Generalin nur ein Kind, einen Sohn, den bis vor kurzer Zeit seine Pflicht und das Schicksal stets entfernt von ihr gehalten hatten. So hatte sie auf Schloß Harthausen allein gelebt, blos in Gesellschaft einer Nichte, Emma von Rixleben, einer Tochter ihres verstorbenen Schwagers, der als Rittmeister, gleichfalls in preußischen Diensten, vor mehreren Jahren gestorben war. Sie hatte die Waise schon als kleines Kind zu sich genommen.

Seit einigen Wochen lebte auch ihr Sohn bei ihr. Hermann von Rixleben hatte, wie sein Vater, sich der militairischen Laufbahn gewidmet. Schon in seinem vierzehnten Jahre war er, nach der damaligen militairischen Adelssitte, als Junker in ein Regiment eingetreten. Er hatte sich bald durch Kenntnisse, Diensteifer und vielfältig bewiesenen großen Muth ausgezeichnet. Ein fester, großherziger Charakter hatte ihn überall beliebt gemacht. Im Jahre 1806 befand er sich, erst sechsundzwanzig Jahre alt, bereits mit dem Range eines Stabskapitains in der Generaladjutantur. Nach der Schlacht bei Jena kam er in das Hauptquartier des Königs. Er blieb hier während der Schlachten von Eylau und Friedland. Er zeichnete sich auch in diesen aus, sowohl durch seine militairischen Kenntnisse, wie durch seine kaltblütige Umsicht und eine allgemein bewunderte persönliche Tapferkeit. Der König belohnte ihn durch die Ernennung zum Major und durch Verleihung des Ordens pour le mérite; das letztere bekanntlich eine überhaupt sehr seltene Auszeichnung in der preußischen Armee; das Erstere eine seltene Auszeichnung für einen jungen Mann von kaum achtundzwanzig Jahren. Nach dem Tilsiter Frieden mußte er dem Könige nach Memel folgen. Hier konnte er indeß nicht lange bleiben.

Der junge, lebhafte Offizier, tief ergriffen von dem Unglücke seines Königs und seiner Königin, in deren unmittelbarer Umgebung er lebte, nicht minder grollend über das Elend, in dem sein Vaterland unter der fremden Gewaltherrschaft seufzte, hatte sich öfters ohne Scheu und Hehl über das französische Regiment und den französischen Kaiser insbesondere auf eine Weise ausgesprochen, die allerdings für seine Stellung unvorsichtig war, und die, durch Spione hinterbracht, von dem Kaiser Napoleon als eine staatsverrätherische aufgefaßt wurde. Die Folge war, daß von Seiten Frankreichs an die preußische Regierung das Verlangen gestellt wurde, den Major von Rixleben auszuliefern, damit er vor ein französisches Kriegsgericht gestellt und erschossen werde. Es war das damals so der Gebrauch der Franzosen in Deutschland. Ob es gesetzlich und recht war, darauf kam es dem Stärkeren gegenüber dem Schwächeren nicht an, damals nicht, wie auch später nicht.

Daß er nicht ausgeliefert wurde, verstand sich von selbst. Er flüchtete nach Rußland. Als ein treuer und ausgezeichneter Diener seines Königs fand er dort anfangs eine wohlwollende Aufnahme. Aber der Haß des französischen Kaisers verfolgte ihn bald auch dahin, und die russische Freundschaft mit Preußen war von jeher die politische Freundschaft des Stärkeren gegen den Schwächeren, Freundschaftsdienste stets verlangend, selten erwiedernd, wenn es convenirt, die ganze Freundschaft verleugnend, wenn sie nicht mehr convenirt. Der Major von Rixleben wurde zwar auch von russischer Seite nicht ausgeliefert, aber er wurde desavouirt und seinem Schicksale überlassen. So war er ein verlassener Flüchtling in Rußland.

Dabei lebte er in einer fast völligen Abgeschiedenheit. Eingegrenzt in die Gouvernementsstadt Twer, erhielt er von Allem, was sich in der Welt zutrug, keine andere Kunde, als die ihm russische Zeitungen brachten. Kein Brief gelangte zu ihm. Freilich war auch kein Brief übergekommen, den er absandte. Wohin französische Hände unmittelbar reichen konnten, waren zu damaliger Zeit in allen Postbureaux schwarze Kabinette eingerichtet. Anderswo waren, wo es nur irgend darauf ankam, bestochene französische Spione. Rußland war wahrlich davon nicht ausgenommen. So blieb er in seiner Einsamkeit ohne alle Kunde von den Seinigen in Deutschland, wie diese ohne Kunde von ihm geblieben waren. Erst gegen das Ende des Jahres 1809 war es ihm gelungen, auf Umwegen einen Brief, in dem er seine ganze traurige Lage schilderte, in die Hände Friedrich Wilhelm’s III. gelangen zu lassen. Das Herz des Königs war tief betrübt über das harte Schicksal seines treuen Dieners. Er leitete sofort Schritte ein, es zu mildern. Sie führten zu einem glücklichen Resultate. Im März 1810 durfte der Major von Rixleben aus seiner Verbannung nach Deutschland zurückkehren, freilich unter sehr beschränkenden Bedingungen. Er durfte nicht wieder in den preußischen Dienst treten, nicht einmal die preußischen Staaten berühren, und mußte seinen Aufenthalt auf dem Gute seiner Mutter, Harthausen, nehmen, das er nicht weiter als in einem Umkreise von zwei Meilen verlassen durfte. Die benachbarte Stadt Holzminden war ihm unbedingt verboten.

Er lebte seitdem auf dem Gute der Mutter, aber nur unter der strengsten polizeilichen Aufsicht. Die Regierung des Königreichs Westphalen war, wie eine der humansten, so jedenfalls die urbanste der Napoleonischen Regierungen. Der Herr von Rixleben wurde daher unmittelbar persönlich von der Polizei wenig belästigt. Desto strenger bewachten diese jeden seiner Schritte. Gensd’armen und Polizeiagenten umgaben und umschwärmten das Gut Harthausen, bei Tag und bei Nacht, offen in ihrer Uniform, versteckt unter allerlei Bekleidung. Höhere Beamte von Kassel, die früher von der Generalin von Rixleben und dem Gute Harthausen kaum Notiz genommen hatten, kamen jetzt oft dorthin, freilich nur gelegentlich, auf einer Geschäftsreise verirrt oder von dem schlechten Wetter übereilt, auch wohl um der Frau Generalin ihre Verehrung zu bezeugen, oder unter irgend einem anderen Vorwande. Ueber ihre eigentliche Absicht war Niemand im Zweifel.

Der Herr von Rixleben hatte im Winter von 1806 auf 1807 in Königsberg in Preußen, wo er sich damals im Hauptquartier des Königs aufhielt, die Tochter eines an der dortigen Universität lehrenden Professors kennen gelernt. Maria Andreä zählte damals achtzehn Jahre. Wie durch große Schönheit, so war sie auch ausgezeichnet durch Reichthum und Bildung des Geistes, Sanftmuth des Herzens und Anmuth ihres ganzen Wesens. Die Herzen des liebenswürdigen jungen Mädchens und des gefeierten jungen Offiziers hatten sich bald gefunden. Sie schlugen bald in einer Liebe zusammen, die für dieses Leben nur der Tod lösen konnte. Im Sommer 1807, vor der Schlacht von Friedland, hatten sie sich zum letzten Male gesehen. Der Herr von Rixleben mußte dem Könige nach Tilsit, dann nach Memel folgen und von da kurz nachher nach Rußland flüchten. Bis dahin hatten sie fleißig mit einander korrespondirt. Von da an waren die Briefe gegenseitig nicht mehr übergekommen, nur mit Ausnahme eines einzigen.

Der Professor Andreä war erst seit dem Jahre 1805 in Königsberg; er hatte vorher an der Universität Erlangen gelehrt. Das rauhe, nordische Klima Königsbergs sagte dem schwächlichen Gelehrten nicht zu. Er nahm zu Ostern des Jahres 1808 mit Freuden einen Ruf an die Universität Würzburg an. Das Schreiben, in welchem Marie Andreä diese Nachricht ihrem Verlobten meldete, hatte er noch erhalten. Dies war seine letzte Nachricht von ihr.

Die erste Zeile, die er nach seiner Rückkehr aus Rußland schrieb, war an seine Verlobte nach Würzburg gerichtet. Mit welcher Angst harrte er auf die Antwort. Sie kam, war aber schmerzlich für ihn und doch so beglückend. Die Geliebte lebte und liebte ihn noch. Auch sie hatte eine traurige, mitunter schreckliche Zeit verlebt; ihr Vater war gestorben, ihre Mutter war schon längst todt, ein früher Auszehrungstod hatte sie fortgerafft. Der Vater hatte ihr kein Vermögen hinterlassen; sie stand nach seinem Tode allein und hülflos da, und mußte sich durch Unterricht und weibliche Arbeiten für Andere kümmerlich ernähren. Dabei war sie öfters kränklich. Hatten Leiden, zu sehr angestrengtes Arbeiten und mancherlei Entbehrungen ihren Körper geschwächt oder hatte die Krankheit der Mutter sich auf sie fortgeerbt?

Textdaten
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Autor: J. D. H. Temme
Titel: Verfehltes Leben
aus: Die Gartenlaube 1857, Heft 3, S. 33–36
Fortsetzungsroman – Teil 3

[33] Der Herr von Rixleben hatte sie eingeladen, sofort zu seiner Mutter nach Harthausen zu kommen. Sie sagte in ihrer Antwort das zu, und wurde seitdem mit heißer Sehnsucht auf Schloß Harthausen erwartet, und zwar nicht blos vom Major; die Generalin, die den einzigen Sohn über Alles liebte, schien der Ankunft der künftigen Schwiegertochter beinahe mit noch mehr Ungeduld zu harren, als er selbst. Diese Ungeduld war zugleich mit einem gewissen geheimnißvollen Wesen verknüpft, als wenn sie eine recht große Ueberraschung beschlossen habe.

Schon waren acht Tage des Monats Mai verstrichen. In den ersten Tagen des Aprils halte der Major die Einladung an seine Braut abgesandt, und in der Mitte desselben – der Postenlauf in Deutschland war damals noch ein langsamer – war ihre Antwort eingegangen, daß sie in den nächsten drei Tagen abzureisen hoffe, daß sie seiner Anweisung gemäß reisen, und ihr Eintreffen in Holzminden ihm von dort aus unmittelbar nach ihrer Ankunft anzeigen werde. Seitdem waren drei Wochen vergangen. Schon seit zehn Tagen hätte die so heiß Ersehnte angelangt sein können, und war noch nicht da; auch keine Zeile war von ihr eingetroffen, durch welche ihr Ausbleiben entschuldigt oder erklärt worden wäre. Man hatte seit jenen letzten wenigen Zeilen, in denen sie ihre nahe Abreise ankündigte, nicht die geringste Nachricht von ihr. Die Bewohner des Schlosses Harthausen befanden sich in großer Unruhe, der Major in einer fast peinlichen. Er stand jeden Morgen schon mit dem Anbruche des Tages auf, kleidete sich rasch an und ging den Weg nach Holzminden hinunter, um dem Boten zu begegnen, der, der Abrede gemäß, unmittelbar nach der Ankunft seiner Braut von dort abgeschickt werden sollte. Spätestens um drei Uhr in der Nacht – zu jener Jahreszeit also schon des Morgens – mußte der Postwagen in Holzminden anlangen, und um vier Uhr spätestens mußte der Bote abgehen können. Die anderthalb Meilen zwischen der Stadt und dem Gute waren auf dem allerdings beschwerlichen Wege, der durch Gebirge und Waldung führte, in zwei bis drittehalb Stunden zurückzulegen. Um sechs oder halb sieben Uhr konnte der Bote in Harthausen sein; um halb sechs, manchmal schon um fünf Uhr, konnte er dem ihm entgegen gehenden Major begegnen. Der Major ging ihm jeden Morgen bis sechs, halb sieben Uhr entgegen; kein Bote begegnete ihm. Getäuscht zurückgekehrt, wartete er noch bis neun, zehn Uhr, bis der tägliche Briefbote aus Holzminden kam; immer vergebens. Der Briefbote gab sein Packet ab; auch dieses brachte keine Zeile von ihr, keine Zeile über sie, und die Unruhe um sie wurde mit jedem Augenblicke peinlicher, für den Major fast unerträglich.

Wieder hatte der Major von Rixleben seine gewöhnliche Morgenwanderung auf dem Wege nach Holzminden angetreten; er hatte schon früh halb fünf Uhr das Schloß verlassen; jetzt war es acht Uhr Morgens und er war noch nicht zurück.

Die Generalin von Rixleben saß mit ihrer Nichte Emma auf der Terrasse an der Rückseite des Schlosses, in der schönen, frischen Morgenluft ihr Frühstück verzehrend. Erstere war eine schöne, alte Dame; ihr Gesicht zeigte große Güte, ihr Benehmen anspruchslose Einfachheit. Ihre Nichte Emma war ein, wenn auch nicht schönes, doch hübsches junges Mädchen von kaum etwas mehr als fünfzehn Jahren, noch mehr Kind als Jungfrau, mit einem frischen Gesichte, mit leicht schmollenden Lippen und mit melancholischen, schwärmerischen Augen.

Die Aussicht von der Schloßterrasse gehörte zu den reizendsten an jenen herrlichen Ufern der Weser. Geradeaus, den Strom hinunter, konnte man weit dessen durch Aecker und Wiesen und Buschwerk sich windenden Lauf verfolgen. Rechts, jenseits des Flusses bedeckten die hohen, dunklen Bäume des Sollingerwaldes weithin sich erstreckende und hoch sich erhebende Berge, die bald keck bis dicht an das Wasser vorsprangen, bald in langen und tiefen Schluchten zurücktraten. Links dehnte sich eine reich bebaute Landschaft aus mit weiten Feldfluren, freundlichen Dörfern, von weißen Wegen und Landstraßen vielfach durchschnitten. Unmittelbar vor der Terrasse lag der wohlerhaltene Schloßgarten.

Die Generalin und ihre Nichte blickten starr in die Gegend hinein, aber sahen nichts von deren Schönheiten. Ihre Augen folgten nur unruhig dem Laufe des Stromes, an dessen linker Seite durch offenes Acker- und Wiesenland der Weg von Holzminden sich zog, weiter unten in einem Gehölze und dann hinter Anhöhen sich verlierend. Die Blicke der Generalin verriethen neben der Unruhe zugleich Besorgniß. Die Unruhe der Nichte schien bald mit einer gewissen hastigen Ungeduld verbunden, bald auf kurze Zeit in einem stillen, wie schmerzlichen Nachsinnen sich zu verlieren. Beide saßen schweigend neben einander. Auf einmal flog die Nichte heftig in die Höhe.

„Da kommt Hermann!“ rief sie, indem ihr Gesicht sich verfärbte.

„Ist er wieder allein?“ fragte die Generalin. „Meine Augen tragen nicht so weit.“

„Es ist Jemand bei ihm.“

[34] „Endlich –“

„Es ist der gewöhnliche Briefbote.“

„Irrst Du Dich nicht?“ fragte die Generalin. „Der Briefbote kommt vor neun Uhr nicht; nur dann kommt er früher, wenn zufällig die Fahrpost ganz ausgeblieben ist, und er mithin auf das Ausgeben ihrer Briefe nicht zu warten braucht.“

„Ich erkenne ihn genau,“ versetzte die Nichte. „Er trennt sich so eben jetzt von Hermann, und schlägt den Weg nach dem Dorfe ein.“

„Er wird die Briefe für das Schloß an Hermann abgegeben haben.“

„Von ihr wird keine Nachricht dabei gewesen sein. Hermann geht langsam, verstimmt.“

„Der arme Hermann!“

„Und die arme Marie!“ setzte das Mädchen hinzu. „Es muß ihr ein Unglück, ein großes Unglück begegnet sein.“

„Auch ich fürchte das.“

„Tante, wenn sie gestorben wäre! Ich habe so schwere Ahnungen.“

„Du bist leicht aufgeregt, Emma!“

„Der arme Hermann! Und die arme Marie! O, Tante, es muß entsetzlich sein, so fern von dem Geliebten, so allein zu sterben –“

„Kind,“ sagte die Generalin, halb verwundert, halb von der Angst des Mädchens mitergriffen, „wie kommst Du zu solchen Gedanken?“

„Und,“ fuhr die Kleine fort, „so nahe am Ziele, nach so langem Harren, so schwerem, bitterem Leiden. Wie unglücklich muß diese gute Marie gewesen sein! Wie liebe ich sie! Nein, nein, sie kann nicht gestorben sein. – Wie will ich sie lieben!“

Ein Herr schritt durch den Garten die Terrasse herauf; es war der Major von Rixleben. Ein hoher, stolzer Mann, mit festen, aber nicht harten Gesichtszügen, mit einem etwas finsteren, aber nur schwermüthig finsteren Blicke. Man sah es ihm an, daß er viel gelitten, aber auch, daß er seine Leiden stets mit Kraft und Würde getragen habe. Trotzdem hatte er nicht wehren können, daß das Leiden ihm ein älteres Aussehen über seine Jahre hinaus gegeben hatte. Ein kräftiger und ein schöner Mann war er gleichwohl noch immer.

Die Nichte sprang ihm entgegen; die Generalin folgte ihr. Er küßte diese, und reichte jener die Hand.

„Der Weg war wieder vergebens, Hermann?“

„Ich weiß es nicht, Mutter!“

„Wie?“

„Ich bin in einer großen Unruhe; der Postwagen ist in Holzminden nicht angekommen. Dagegen ist die Nachricht eingetroffen, daß er zwischen Carlshafen und Lauenförde umgeworfen und die Achse gebrochen habe. Bis er reparirt sei oder bis andere Wagen herbeigeschafft worden, haben die Reisenden liegen bleiben sollen. Vor Mittag erwartet man sie nicht in Holzminden.“

„Man hat also Nachricht von ihnen? Auch ob eine Dame unter ihnen war?“

„Der Briefbote wußte nichts davon.“

„Armer Hermann, ich kann mir Deine Unruhe denken.“

Die Nichte Emma hatte aufmerksam, beinahe mit angehaltenem Athem zugehört. Auf einmal trat sie rasch zu dem Major und ergriff dessen Hand.

„Hermann, Du mußt Gewißheit haben; Du selbst darfst nicht nach Holzminden; ich fahre hin. Ist Marie nicht unter den Reisenden, so kehre ich auf der Stelle zurück; ist sie aber da, so führe ich Deine Braut in Deine Arme.“

Sie sprach leidenschaftlich und lächelte, während ihre Augen glänzten, als wenn sie feucht wären.

„Immer so heftig, Emma,“ warnte besorgt die Generalin.

„Du erlaubst mir doch, hinzufahren, liebe Tante?“

„Wenn Hermann nichts dagegen hat –“

„Hermann –!“ Sie sah ihn bittend mit den feucht glänzenden Augen an.

„Fahre, mein gutes Kind.“

Emma eilte in das Schloß, den Wagen zu bestellen. Die Generalin und der Major folgten ihr langsam.

Kurz vorher hatte sich Folgendes zugetragen: An der andern Seite der Weser, etwas oberhalb des Schlosses, befand sich eine Fähre zur Vermittelung des Verkehres zwischen den benachbarten Dörfern und Gütern zu beiden Seiten des Stromes. Aus den Bergen des Sollingerwaldes führte eine schmale Bergstrecke dahin. In dieser Strecke war eine einspännige Bergchaise näher gekommen; sie fuhr bis an das Fährhaus. Dort stieg eine einzelne Dame aus; ein Reisekoffer wurde von dem Kutscher aus dem Wagen getragen. Der Kutscher empfing dann von der Dame seine Bezahlung, und kehrte mit seiner Chaise in das Gebirge zurück.

Unmittelbar darauf trat der Fährmann aus seinem Häuschen; er wechselte ein paar Worte mit der Dame, zog den Fährkahn näher an das Ufer, hob den Koffer der Dame auf, legte ihn in den Kahn, sprang’ in diesen, half der Dame einsteigen, stieß von dem Ufer ab und ruderte nach dem gegenüberliegenden, in der Richtung des Schlosses Harthausen.

Die Dame hatte sich still auf eine Bank in dem Nachen gesetzt, und saß auch während der Ueberfahrt schweigend, hatte aber schon vor dem Einsteigen forschende Blicke auf das Schloß und dessen Umgebung geworfen; zuweilen wiederholte sie diese während der Fahrt. Meist aber waren ihre großen schwarzen Augen in tiefem Nachsinnen auf das Wasser gerichtet, so nachdenklich, so starr, so versenkt, als wenn sie in den Wogen oder unten in dem dunklen Gründe des Stromes ihr Schicksal, ein dunkles, schweres Schicksal suche. Dabei war sie äußerlich vollkommen ruhig; ihr Busen bewegte sich nicht, kein Seufzer drängte sich über ihre Lippen; unterdeß war das andere Ufer erreicht. Die Dame sprang leicht aus dem Nachen. Der Fährmann befestigte sein Fahrzeug mit einer Kette an einem Pfahle; dann folgte er der Dame mit ihrem Koffer. Es mußte das schon vorher so mit ihm verabredet sein.

Der Nachen hatte dicht an dem Garten angelegt, der das Schloß umgab. In der Nähe befand sich in der Hecke ein Pförtchen; zu diesem führte der Fährmann die Dame. Es war nicht verschlossen. Beide traten in den Garten und schlugen den Weg zum Schlosse ein; der Schiffer mit dem Koffer auf der Schulter ging voraus, die Dame folgte ihm. In dem Garten war Niemand. Das Schloß war fast fortwährend durch Bäume und Strauchwerk verdeckt.

Die Dame folgte dem Fährmann mit sicherem Schritt. Ihre Augen suchten nur das Schloß, und schienen die Fenster, die Mauern durchbohren zu wollen, wenn es zuweilen hinter den Bäumen durch das Strauchwerk hervorsah. Wie vorhin in den Wellen und auf dem Grunde des Stromes, schien sie jetzt ihr Schicksal hinter den Mauern, in dem Inneren des Schlosses zu suchen.

Sie wurde unruhiger, ihr Gesicht war von einer eigenthümlichen, fast leichenähnlichen Blässe überzogen. Einige Schweißtropfen standen auf der Stirn, sie schienen trotz der Wärme des Maimorgens kalt und kältend zu sein. Die Augenhöhlen schienen sich zu erweitern, ein dunkelblauer, beinahe bräunlicher Rand umgab sie. Ihr Busen hob sich; schwer drängte der Athem sich zwischen den weit geöffneten Lippen hervor. Als der Pfad einmal eine kleine Anhöhe hinanführte, mußte sie ihre Schritte einhalten; es war, als wenn die Kniee ihr brechen, der Athem ihr ausgehen wolle. Sie raffte sich zusammen, und folgte mit erneueter Kraft dem Fährmanne. Ihr Auge blickte durchbohrender, finsterer nach dem Schlosse, aber es blickte fortwährend mit einem unwandelbar festen Entschlusse.

Sie erreichte die Terrasse vor dem Schlosse, und stand auf derselben Stelle, auf der wenige Minuten vorher die Generalin mit ihrem Sohne und ihrer Nichte gestanden hatte. Auch dort wurde sie von Niemandem bemerkt. Sie hielt einen Augenblick an, sie war noch etwa zehn Schritte von dem Schlosse und der Thür entfernt, die in dasselbe hineinführte. Sie warf plötzlich einen wilden, einen wie zwischen Leben und Tod suchenden Blick auf das Schloß, auf die Thür; dann drehete sie sich wie unwillkürlich, rasch und heftig um. Ihr Auge schweifte zurück in die Gegend, aus der sie gekommen war, es schweifte in derselben Richtung weiter, den Strom hinauf, über die hohen Berge des Solling hinüber. Widersprechende Gedanken schienen ihr Inneres zu durchfliegen; Entschlüsse schienen in ihr mit einander zu kämpfen; aber das Alles dauerte nur einen Augenblick. Ihr Auge blickte wieder finster, und der unwandelbar feste Entschluß, der sich vorher darin ausgesprochen hatte, stand deutlich in dem blassen Gesichte.

Sie setzte den Fuß wieder voran, dem Schlosse zu, langsam, aber fest und sicher. In dem Schlosse war Alles still; niemand [35] zeigte sich, auch an den Fenstern nicht. In dem Augenblicke, als die Dame die Schwelle der Thür überschreiten wollte, bog um eine Ecke des Schlosses ein Wagen und fuhr auf den Perron der Terrasse. Im Nu stürzte eilig aus dem Schlosse, durch die nämliche Thür, in welche die Dame eintreten wollte, ein junges hübsches Mädchen; es war Emma von Rixleben, die Nichte der Generalin.

Sie flog überrascht vor der Dame zurück. Die Fremde hielt ruhig ihre Schritte an. Emma hatte sich schnell erholt, und nahete sich der fremden Dame; aber wie sie eben überrascht zurückgeflogen war, so wäre sie jetzt, von einem anderen Gefühle plötzlich ergriffen, beinahe noch einmal zurückgewichen. Sie sah in ein selten so regelmäßiges, schönes Gesicht; aber die Farbe dieses Gesichtes war von einer erschreckenden Blässe; die feinen Lippen waren in diesem Augenblicke fast violett; die großen, schwarzen Augen stierten wie verwirrt, wie in einen bodenlosen Abgrund, vor sich hin. Vor wem stand das unschuldige und unbefangene, mit der Welt und ihren Leidenschaften und Lastern und all’ ihrem Treiben noch unbekannte Kind? Welche Gefühle, welche Begierden, welche Leidenschaften regten das Innere dieser Fremden bis zu solchem Ausdrucke, bis zu solcher Entstellung ihres Aeußeren auf? Und welche Gedanken, welche Gefühle regte der Anblick plötzlich in dem Innern des jungen Mädchens wach? War es Furcht, Entsetzen, Haß, Widerwillen? War es vielleicht noch zugleich ein anderes Gefühl? Jedenfalls konnte sie nur mit Widerstreben sich der Fremden nahen.

Dieser schien der Eindruck nicht zu entgehen, den sie auf das Mädchen machte; auch der Grund schien ihr nicht unklar zu sein. Sie belebte und milderte schnell den Blick ihrer Augen, und hatte eine solche Gewalt über sich und ihr Aeußeres, daß sie auch sofort ihrem ganzen Gesichte einen anderen Ausdruck, selbst seiner Farbe einen Anhauch von Leben verleihen konnte.

„Emma?“ fragte sie freundlich das Kind, das mit fragendem Blicke, aber zu scheu vor ihr stand, um ihrer Frage auch durch Worte Ausdruck zu geben.

Bei dem so freundlich ausgesprochenen Namen fuhr das Mädchen heftig zusammen; aber gewaltsam raffte sie sich auch sofort wieder auf.

„Also Marie?“ rief sie. „Sie sind Marie? O endlich, endlich! Wie wird Hermann sich freuen!“

„Wo ist er?“ fragte die Fremde.

„Kommen Sie! Kommen Sie! Ich führe Sie zu ihm. Ich hatte es ihm ja versprochen, und war auf dem Wege zu Ihnen, Sie abzuholen!“

Sie hatte die Hand der Dame ergriffen und wollte sie mit sich fortziehen, in die Thür, in das Haus. Aber auf einmal stürzte eine Fluth von Thränen aus ihren Augen, sie preßte wie krampfhaft in ihren Händen die beiden Hände der Dame, sie drohete umzusinken. Die Fremde hielt sie in ihren Armen, und legte sie an ihre Brust; sie selbst zitterte heftig.

„Was ist Ihnen, meine liebe Emma?“

Das Mädchen schlug die Augen zu ihr auf; sie begegnete einem liebevollen Blicke.

„Werden Sie mir nicht böse,“ bat sie. „Die Ueberraschung! Meine Heftigkeit! Die Tante muß mich oft darüber schelten; auch Hermann. Aber sein Sie mir nur nicht böse. Wir lieben sie Alle so sehr! Auch ich, auch ich! O, wie wird Hermann sich freuen, wie werden wir Alle glücklich leben!“

Sie hatte sich vollkommen wieder erholt und aufgerichtet, war auch ruhiger geworden. „Kommen Sie,“ fuhr sie fort, „ich führe Sie gleich zu Hermann, er ist bei seiner Mutter. Ich löse mein Versprechen; wie wird er überrascht werden; erst in zwei Stunden konnte man uns erwarten.“

„Sie wußten hier von meiner Ankunft?“ fragte die Dame.

„Wir hatten nur gehört, daß der Postwagen umgeworfen habe. Hermann war in großer Unruhe. Um ihn desto eher aus der Ungewißheit zu reißen, beschloß ich, Ihnen entgegen zu fahren. Sie wissen, er darf nicht.“

„Gutes Kind!“

„Sie waren also wirklich in dem Wagen?“

„Ich es war.“

„Und Sie haben keinen Schaden genommen bei dem Unfall?“

„Gottlob, nein!“

„Aber wie können Sie schon hier sein? Nach unserer Berechnung wären Sie zu dieser Zeit kaum in Holzminden eingetroffen?“

„Ich miethete in Lauenförde einen Wagen, in dem ich direkt durch das Gebirge hierher fuhr.“

„Das haben Sie schön gemacht.“

Emma war wieder das völlig unbefangene Kind, das über Plaudern die heftigsten Gefühle der Augenblicke vorher vergessen konnte. So führte sie die Dame in das Haus, und durch den Flur zu einer Thür.

„Dort,“ sagte sie, „dort ist Hermann bei der guten Tante. Lassen Sie uns leise gehen, wir wollen Beide überraschen.“

Je unbefangener und ruhiger das Kind wurde, desto unruhiger wurde wieder die Fremde. Sie schien jetzt sich Gewalt anthun zu müssen, um nicht umzusinken; sie drückte jetzt krampfhaft die Hand des Kindes, das sie führte, und zitterte heftig und immer heftiger. Ihr Gesicht wurde wieder leichenblaß; sie schien auf einmal alle ihre Gewalt über sich verloren zu haben. Die Thür hatten sie erreicht, Emma riß dieselbe auf.

„Marie ist da!“ rief sie in das Zimmer hinein.

Der Major saß mit der Generalin im Sopha, in einem Gespräche begriffen. Beide sprangen bei dem Rufe auf.

Die fremde Dame stand noch in der Thür, halb hinter dem jungen Mädchen, das sie führte; der Major konnte sie nur halb sehen. Sie sah den hohen, kräftigen, stolzen, schönen Mann, und neben ihm die schöne, ehrwürdige alte Dame. Ihr Auge irrte unstät auf den beiden edlen Gestalten. Auf einmal schien es sich mit einem Nebel zu bedecken; es starrte, als wenn es nichts mehr sähe; sie war dem Umsinken nahe.

„Marie, meine Marie!“ rief der Major.

Er war auf sie zugeflogen, hatte sie in seinen Armen aufgefangen, und trug nun die Ohnmächtige auf das Sopha.

„Marie, meine theure, meine geliebte Marie!“

Sie schlug die Augen wieder auf; sie lag in seinen Armen, an seiner Brust; er bedeckte sie mit seinen Küssen.

„Hermann, mein Hermann!“ lispelte sie.

Der Major jauchzte auf. „O, endlich höre ich auch Deine Stimme wieder.“

Sie umfing ihn mit ihren Armen und erwiederte seine Küsse.

„Ich habe Dich wieder!“

„Nichts soll uns mehr trennen.“

„Nichts!“ sagte die Generalin, die an der Seite des Paares stand.

Marie erhob sich; die Generalin schloß sie in ihre Arme. „Mein theures, theures Kind!“

„Gütige Mutter meines Hermann, schenken Sie auch mir Ihre Liebe.“

„Auch Deine Mutter, meine Marie! Wir Alle lieben Dich, Du edle Dulderin. Wie viel hast Du gelitten, um Hermann’s willen, und ich wußte es nicht; ich wußte nicht, wo Du warst, und konnte Dich nicht trösten, nicht aufrichten, nicht lieben!“

Marie hatte sich erholt; ihr Gesicht hatte wieder Farbe, ihre Augen wieder Glanz bekommen. Die Generalin schien sich in den Anblick des schönen Mädchens zu verlieren.

„Wie bist Du schön, Marie!“ rief der Major.

„Ich bin sehr gealtert,“ erwiederte sie erröthend. „Ich fürchtete, Du müßtest mich um zehn, anstatt um drei Jahre älter wiederfinden.“

Der Major sah sie prüfend an. „In der That,“ sagte er, und er erblaßte plötzlich, als wenn er einen tiefen Stich in das Herz bekommen habe. Aber schmerzlich lächelnd setzte er schnell hinzu: „Konnte es anders sein? Drückt in solcher Zeit nicht ein Jahr schwerer als zehn andere? Auch ich habe gealtert. Wie sehr wirst Du mich verändert gefunden haben!“

„Ich sehe nur meinen theuern Hermann, der so unglücklich war, dessen Leben fortan, wenn es nach meinen Wünschen geht, nur Glück sein soll.“

Man sah nur Glück in den schönen Gesichtern des Paares; nur Glück umstrahlte das würdige Gesicht der Generalin.

Aber in einem andern Gesichte zeigte sich der Ausdruck einer tiefen, schmerzlichen Trauer. Emma von Rixleben nahete sich nicht der Gruppe der Glücklichen. Sie stand am Fenster, allein, verloren wie in ahnende, schwer ahnende, ängstliche Träume. Und wer sie so sah, mußte meinen, sie sei plötzlich, in dem kurzen Zeitraume von wenigen Minuten, aus einem unbefangenen Kinde zu einer Jungfrau gereift, deren Herz schon angefangen habe, bange und leidend zu schlagen.

[36] Es war am Abend desselben Tages. Die Liebenden saßen beisammen auf dem Sopha in dem Zimmer der Mutter; nur Emma war bei ihnen. Sie erzählten einander aus der traurigen Vergangenheit, ihre Leiden, ihre Drangsale, aber auch ihre Hoffnungen. Sie waren glücklich in der Erinnerung, auch in der Erinnerung an die Leiden.

Emma hörte ihnen still zu. Sie war glücklich mit ihnen. Jene schwarzen Ahnungen, jene ängstlichen Träume schienen aus ihrer Brust völlig verschwunden zu sein.

Die Erinnerung an die vergangenen Tage führte die Liebenden auch auf ihre letzte Trennungsstunde zurück. Sie hatten sich in Königsberg zum letzten Male gesehen.

„Erinnerst Du Dich, Hermann?“ fragte Marie. „Es war gegen sieben Uhr Abends, als wir Abschied von einander nahmen auf eine so lange, so unglückliche Zeit. Mein Vater wohnte damals auf der Klapperwiese, in der Nähe des Philosophendammes. Wie oft hatten wir über die sonderbaren Namen lachen müssen, und auch über die sonderbaren Gestalten mit den hohlen Gesichtern und wüsten Haaren, die immer so tiefsinnig auf dem Philosophendamme umherwandelten, und von denen Jeder ein Kant sein wollte. Wie anders, wie schwer war uns an jenem Abende um’s Herz. Wir suchten uns gegenseitig und uns selber Muth zuzusprechen, die Trennung könne höchstens ein halbes Jahr dauern; es müsse ja nothwendig bald eine bessere Zeit kommen; die furchtbare Schlacht, der Du entgegen gingst, müsse eine glückliche Entscheidung bringen. Aber im tiefen Innern unserer Seele stand dennoch der Unglaube, und wir konnten in unseren Worten keinen Trost finden.“

„Wie Du jede Einzelnheit noch so genau weißt,“ sagte der Major.

„Kann man solche Augenblicke, und überhaupt eine solche Zeit vergessen? Ich muß aber auch aufrichtig sein. Du weißt, ich habe stets gewissenhaft mein Tagebuch geführt.“

„Und Du besitzest es noch?“

„Gewiß.“

„Wir werden uns oft daran erfreuen und erheben. Aber wir haben bisher fast nur von meinen Schicksalen gesprochen, erzähle Du auch nun von Dir.“

„Mein Leben war einfach.“

„Einfach in Leiden –“

„Warum Dich damit betrüben? Und gerade heute, in den ersten Stunden unseres Wiedersehens?“

„Doch Eins hast Du mir noch nicht mitgetheilt, den Grund Deines langen Ausbleibens.“

Marie sann nach. Der Schatten einer schmerzlichen, schreckhaften Erinnerung zog über ihr schönes Gesicht.

„Es war ein trauriger?“ fragte der Major.

„Ein sehr trauriger. Eine der schwersten Stunden, nein, bis jetzt die schwerste Stunde meines Lebens. Aber Du hast Recht, ich darf Dir nichts verhehlen. Ich hatte eine ältere Schwester; Sie hieß Antoinette –“

„Eine Schwester? Ich habe nie von ihr gehört.“

„Mein Vater hatte verboten, auch ihren Namen nur noch zu nennen. Sie sollte seine Tochter, sie sollte meine Schwester nicht mehr sein. So vermied ich auch gegen Dich, von ihr zu sprechen.“

Der Gedanke an sie war auch ein so trauriger. Sie war schon früh das Opfer der Verführung eines Nichtswürdigen geworden, eines französischen Offiziers. Sie hatte mit ihm das väterliche Haus verlassen, und war ihm ohne den Segen des Vaters in die Welt gefolgt. Es war mit ein Grund seines frühen Todes. Wir erfuhren sehr bald, daß der Verführer wegen unehrenhaften Betragens den Abschied erhalten habe, und als Spion und Betrüger umherziehe. Antoinette kehrte nicht zu uns zurück. Später hörten wir nichts weiter von ihr. Unmittelbar vorher, als ich zu Dir abzureisen im Begriffe stand, erhielt ich die Nachricht, daß sie krank und verlassen in einem kleinen Städtchen an der sächsischen Grenze liege. Ich eilte zu ihr, und komme von ihrem Todtenbett. Sie hatte von ihrem Verführer nicht lassen können. Eine wunderbare Gewalt hatte sie an ihn gefesselt, in Noth und Elend. Elend und Gram und Vorwürfe hatten sie aufgezehrt.“

Die Erzählende weinte bei der traurigen Erinnerung. Der Major drückte ihr mitleidig die Hand. Sie sah ihn dankend an. Aber auf einmal bedeckte Leichenblässe ihr Gesicht. Ihr Blick war dem Auge Emma’s begegnet, und sie hatte in einen wie elektrisch zündenden Strahl eines plötzlichen, furchtbaren Mißtrauens getroffen.

Die Generalin trat in das Zimmer; sie war in Feierkleidung. Die gute Dame hätte sofort an dem, freilich damals sehr einfachen Hofe ihrer vormaligen Herrin, und noch immer angebeteten, schönen Königin Louise in Berlin erscheinen können. Auch ihr Gesicht hatte den Ausdruck des Feierlichen und zugleich des Geheimnißvollen. Geheimnißvoll war ihr Walten schon den ganzen Tag seit der Ankunft der Verlobten ihres Sohnes gewesen, wie man freilich auch schon seit vierzehn Tagen hatte beobachten können, daß sie irgend etwas Geheimes vorhabe.

„Meine Kinder,“ sagte sie zu den Liebenden, „ich habe eine recht große Bitte an Euch, die Ihr mir nicht abschlagen dürft. Ich habe mich so lange darauf gefreut, schon seit dem Tage Deiner Ankunft, Hermann; und wie oft schon weit früher; es ist ja einer der Lieblingsgedanken des Mutterherzens.“ Sie sah freundlich lächelnd die Liebenden an. „Und Ihr fragt nicht einmal, worin meine Bitte bestehe? Ein Zeichen, daß Ihr sie errathen habt.“

Sie hatte Recht darin. Der Major wagte nicht, geradezu in die Augen seiner Verlobten zu sehen. Diese hatte verschämt die Augen zu Boden gesenkt.

Auch Emma hatte die Bitte errathen. Sie saß blaß und zitternd da; ihr Blick heftete sich mit einer beinahe fast tödtlichen Angst auf die Verlobte ihres Vetters.

Der Major wollte seiner Mutter antworten. Auf einmal sprang das junge Mädchen auf.

Textdaten
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Autor: J. D. H. Temme
Titel: Verfehltes Leben
aus: Die Gartenlaube 1857, Heft 4, S. 45–48
Fortsetzungsroman – Teil 4

[45] „Tante!“ rief Emma, wie in einer Angst, die sie gar nicht mehr zurückhalten konnte, die sie jede Rücksicht, alles Andere um sie her vergessen ließ. „Tante, ein Wort! Höre mich!“

Hermann sah sie verwundert an. Seine Verlobte erblaßte; sie warf einen Blick voll Entsetzens auf das Kind; sie schien plötzlich in einer nicht geringeren Angst zu sein, als das Mädchen selbst.

Die Generalin war nur mit ihrem Plane beschäftigt.

„Nachher, Emma,“ sagte sie, und zu den Liebenden fuhr sie fort: „Ihr habt mich errathen, Ihr willigt ein. Ziehe Deine beste Uniform an, Hermann; Dich, meine Marie, werde ich selbst schmücken; Du, Emma, wirst uns begleiten. Aber Du hattest mir etwas zu sagen. Was war es?“

Das Mädchen war auf einmal wieder eine ganz Andere.

„Nichts!“ antwortete sie kurz, fast trotzig, und stürzte aus dem Zimmer.

„Was war ihr?“ fragte die Generalin. „Hat sie etwas mit Euch gehabt?“

„Nicht das Geringste, Mutter. Ich habe sie schon oft so sonderbar gefunden.“

„Seit einiger Zeit,“ sagte die Generalin, und es schien, als wenn plötzlich eine sonderbare Ahnung sie durchbebe. „Laßt uns gehen; meine Kinder.“

„Du willigst ein?“ fragte der Major seine Verlobte.

Sie fiel erröthend an seine Brust.

„Dein Wille ist der meinige.“

Der Major küßte sie dankbar. Die Generalin verließ mit der künftigen Schwiegertochter das Zimmer. Der Major folgte ihnen. –

Etwa eine Viertelstunde später kamen der Prediger des Dorfes und der Maire der Gemeinde mit zwei Zeugen in das Schloß. Der alte Bediente der Generalin führte sie in den großen Prunksaal, den dieselbe zu der Feierlichkeit, die sie im Geheimen vorbereitet, festlich hatte schmücken lassen.

Wenige Minuten nach ihnen trat Emma von Rixleben in den Saal. Sie war festlich, aber einfach gekleidet; nur weiß, eine einzige weiße Rose zierte ihr dunkles Haar; ihr Gesicht war fast so wie ihr Kleid und wie die Rose; aber sie war vollkommen ruhig, und zeigte keine Spur einer Aufregung oder Unruhe mehr. Nur ein tiefer, stiller Ernst war über ihr ganzes Wesen verbreitet. Sie begrüßte schweigend die Anwesenden, und stellte sich dann still erwartend an ein Fenster.

Der Major trat ein. Er trug seine Paradeuniform als preußischer Major; er war das Bild der stolzen und kräftigen männlichen Schönheit, in der kleidsamen blauen Uniform mit den rothen Rabatten, den dicken silbernen Epauletten; auf der Brust trug er an dem schwarz und weißen Bande das blau emaillirte achtspitzige Kreuz des preußischen Ordens pour le mérite. Er konnte stolz auf seine Uniform und auf diese Auszeichnung sein, denn er hatte sie verdient durch manche That der Tapferkeit, und hatte ihnen stets Ehre gemacht. Die anwesenden Männer beugten sich ehrfurchtsvoll vor dem Manne mit diesen Zeichen der Ehre und des Verdienstes.

Der Major, nachdem er die Fremden gegrüßt hatte, begab sich zu seiner Cousine; er gab ihr die Hand, und drückte die ihrige sanft; sie erwiederte den Druck leise, mit einem sehr leichten Zittern.

„Bist Du glücklich, Hermann?“ fragte sie ihn.

„Ich bin es, mein Kind.“

„O, sei es immer!“

Sie trat schweigend wieder an das Fenster; der Major stellte sich neben sie. Die Erwartung der bevorstehenden, von der Generalin so unerwartet hervorgerufenen Handlung schien Alle doppelt feierlich gestimmt zu haben.

Die Flügelthür des Saales öffnete sich, und die Generalin schritt, die Braut an der Hand führend, in den Saal. Auch sie war einfach gekleidet, ebenfalls nur weiß; aber das weiße Kleid war von kostbarer schwerer Seide, und der Kranz weißer Myrthen, den sie in dem schönen Haare trug, bestand aus glänzenden edlen Steinen; es war ein alter Familienschmuck, den die Generalin durch trübe, schwere Zeit hindurch sorgsam bewahrt hatte. Die Braut war reizend schön in dem einfachen und doch reichen Anzuge; eine feine Blässe der Verwirrung, eine leise Röthe jungfräulicher Scham schienen zu wetteifern, das schön geformte Gesicht noch reizender, noch anziehender zu machen.

Der Major ging ihr entgegen, und nahm ihren Arm. Sie schien überrascht, als sie den stolzen, hohen Mann in der glänzenden Uniform, mit dem blitzenden Stern auf der Brust sah. In seinem Auge strahlte Glück bei dem Anblicke der schönen Braut; man meinte, kein schöneres Paar sehen zu können. Er führte sie an den Tisch, auf welchem der Gemeindebeamte sein Civilstandsregister aufgelegt hatte; die Generalin stellte sich neben sie.

Emma blieb am Fenster; sie schwankte einen Augenblick, ob sie gleichfalls dem Tische sich nahen solle. Als sie sah, daß Niemand auf sie achtete, blieb sie; aber wie sie selbst nicht beachtet [46] wurde, war ihre Aufmerksamkeit desto gespannter auf Alles gerichtet, was sich in dem Saale zutrug. Der Maire begann sein Amt.

„Herr Hermann Friedrich Wilhelm von Rixleben, gewesener Major in königlich preußischen Diensten, gegenwärtig wohnhaft auf dem Gute Harthausen, in der Gemeinde Harthausen, Sie haben die Absicht, sich ehelich zu verbinden mit dem anwesenden Fräulein Marie Antoinette Andreä aus Würzburg?“

„Ja,“ sagte der Major.

„Und auch Ihr Wille ist diese Verbindung, Fräulein Marie Antoinette Andreä?“

„Ja,“ sagte die Braut.

„Zur Bekräftigung Ihres ausgesprochenen Willens zeichnen Sie beide Ihre Namen in dieses Buch ein; Ihre Verbindung ist dadurch nach den Gesetzen des Landes fest und unwiderruflich geschlossen; Sie, der Herr Bräutigam, zeichnen zuerst ein. Vorher muß jedoch noch eine Formalität erfüllt werden. Den Geburtsschein des Herrn Bräutigams hat die Frau Generalin mir bereits übergeben, aber nun fehlt noch der der Fräulein Braut.“

Emma von Rixleben hatte mit angehaltenem Athem jedes Wort des Beamten angehört. Als er des Geburtsscheines der Braut erwähnte, malte sich die höchste Spannung in ihrem Gesichte; sie war leichenblaß; alles Blut war plötzlich zu dem Herzen zurückgeströmt, das ihr zu zerspringen drohete. Mit glanzlosen, wie erstorbenen Augen starrte sie nach der Braut, nach jedem Zuge ihres Gesichtes, nach jeder ihrer Bewegungen; sie war unwillkürlich unbewußt bis an den Tisch getreten, bis unmittelbar hinter die Braut, letztere hatte sich verfärbt, als der Beamte des Geburtsscheines erwähnte.

„Ach, ich hatte nicht an ihn gedacht.“

Es entstand ein momentanes verlegenes Schweigen. In den Augen Emma’s leuchtete ein dunkel glühender Blick; ihr Herz schlug fast hörbar; sie mußte gewaltsam die Hand darauf drücken; von der Braut verwandte sie keine Sekunde lang das Auge.

„Ist der Schein unumgänglich nöthig?“ fragte der Major.

„Unumgänglich!“

„Und Du hast ihn vergessen, Marie?“

„Nur hier; er ist oben in meinem Reisekoffer.“

„Kann ich ihn finden? Erlaubst Du –?“

Die Braut kämpfte eine Sekunde lang mit sich.

„Ich bedauere, daß Du Dich bemühen sollst,“ erwiederte sie dann zustimmend.

Der Major eilte zum Saale hinaus; die Braut sah ihm ziemlich unruhig nach; die Generalin war etwas verstimmt geworden, als wenn sie, die für Alles gesorgt hatte, sich Vorwürfe machte, an dieses Erforderniß nicht gedacht zu haben.

Jetzt trat eine verlegene Stille im Saale ein. Emma blickte mit derselben Spannung, mit welcher sie bisher nach der Braut gesehen hatte, zu der Thür, durch welche der Major zurückkommen mußte.

Dieser kehrte, ein Papier in der Hand haltend, alsbald zurück; sein Gesicht war beglückt, und aus dem der Braut verschwand nun auch der letzte Zug von Unruhe. Er überreichte das Papier dem Gemeindebeamten, welcher es genau prüfte.

„Es ist in Ordnung,“ sagte er.

Emma von Rixleben war seinen prüfenden Blicken gefolgt; als er die Worte sprach, schien sie plötzlich, wie nach einer großen, schweren Anstrengung zusammenzubrechen; sie machte eine rasche Bewegung nach der Braut, und streckte ihre Hände aus, als wenn sie die derselben fassen wolle. Ihr Blick war bittend; ihre Lippen bewegten sich; es war, als wenn sie der Braut ein großes Unrecht abbitten wolle. Aber auf einmal leuchtete in ihrem Auge wieder jener dunkelglühende Blick eines furchtbaren Mißtrauens; sie kehrte zu ihrem Platze an dem Fenster zurück, und sank dort auf einem Stuhle nieder.

Das Brautpaar unterschrieb; Beide mit fester, sicherer Hand. Der Geistliche sprach darauf den Segen der Kirche über sie. Dem neuen Ehepaare wurden nun die Glückwünsche dargebracht.

Als Emma von Rixleben sie ausgesprochen hatte, warf sie sich in die Arme der Generalin und sagte: „Du bist jetzt glücklich, Tante, weil es Hermann ist; nun bedürft Ihr meiner hier nicht mehr. Du wolltest mich schon so lange nach Berlin zu meiner weiteren Ausbildung schicken. Jetzt thust Du es, nicht wahr?“

Die Generalin von Rixleben schüttelte etwas nachdenklich den Kopf, aber sagte es ihr für den Augenblick zu.




Ⅲ.
Die Ehegatten.

Die Majorin von Rixleben saß in ihrer Kinderstube. Wie freundlich, wie lieblich, wie schön ist es in einer Kinderstube! Sie ist der Aufenthalt der Engel dieser Erde; der sichtbaren, der hellen, lachenden Lockenköpfchen, und der unsichtbaren, die ihnen der Himmel zu ihrem Schutze zusendet. Wie doppelt lieblich, heimlich und schön ist die Kinderstube, wenn sie zugleich die Stube der Mutter ist! Zu jenen unsichtbaren Engeln der Kinder hat sich dann ihr freundlichster, ihr liebevollster Schutzengel gesellt, die Mutter mit ihrem Herzen voll unendlicher Liebe, Treue und Aufopferung. Die Kinderstube der Frau von Rixleben war zugleich die Stube der Mutter.

Es war im Herbste des Jahres 1811 an einem Nachmittage. Die Frau von Rixleben saß mit zwei lieblichen Kindern in der Stube; das eine, ein Knabe von sieben bis acht Monaten, war ein prächtiges Kind, dessen braunes Haar schon begann sich zu locken, das schon längst das freundliche Gesicht und die süße Stimme der Mutter kannte und gewohnt war, den Augen derselben zuzulächeln und an dem Schnurrbarte des Vaters zu zausen. Der Knabe saß auf einer Decke am Boden des Zimmers; mit ihm spielte ein bildschönes Mädchen von etwa fünf Jahren, ein ewiges freundliches und glückliches Lächeln. Fast glücklicher als die Kinder war die Mutter.

Die Mutter?

Wer in jener Gegend, in einer Umgebung vieler Meilen, von ehelicher Liebe und ehelichem Glücke sprach, der sprach von dem edlen Major von Rixleben und seiner schönen, liebenswürdigen Gattin; das Glück ihrer Ehe wurde erhöht durch die innige Eintracht, in der sie mit der Generalin zusammen lebten.

In der äußern Lage des Majors hatte sich fast nichts geändert. An einen Wiedereintritt in den preußischen Militärdienst war für ihn nicht zu denken gewesen; er hatte auch keine Schritte dieserhalb gethan; nach der damaligen politischen Situation mußte er sogar fürchten, auch in der preußischen Armee für den Dienst des fremden Unterdrückers verwendet zu werden; der russische Feldzng zeigte dies später in der That: Kam über kurz oder lang eine Zeit, in der seine Dienste seinem Vaterlande und dem König nothwendig waren, so konnte er alsdann noch immer früh genug auf dem Platze sein. Von Seiten des Kasseler Hofes waren ihm einige Male Anerbietungen gemacht, in die westphälische Armee einzutreten; man hatte, um den Mann von so hervorragender Persönlichkeit, von so großem Rufe der Tapferkeit, der militairischen Einsicht und der Treue, und von so allgemeinem Vertrauen weit im Lande, zu gewinnen, ihm eins der schönsten Regimenter der wirklich schönen westphälischen Armee angeboten, man hatte ihm sogar die Generalsepauletten in nahe Aussicht gestellt; er lehnte aber alle Anerbietungen mit der offenen Erklärung ab, daß er schon als ehemaliger preußischer Offizier mit seinem Gefühle, wie mit seinen Grundsätzen es unvereinbar finde in ein Heer einzutreten, das immerhin, wenn auch nicht unmittelbar, einen Theil derjenigen Armee bilde, durch welche sein ehemaliger Kriegsherr besiegt worden sei. Man hatte diese offene Erklärung geehrt, und eine Folge war in der That gewesen, daß die offene und geheime polizeiliche Aufsicht, unter der er seit seiner Rückkehr aus Rußland stand, weniger streng geworden war. Dies war die einzige Veränderung seiner Lage seit seiner Verheirathung.

Er hatte schon vorher die Bewirthschaftung des Gutes Harthausen übernommen, und sich ihr mit Eifer gewidmet; seine junge Frau ging ihm bald mit Eifer darin zur Hand. Wie er die eigentlichen landwirthschaftlichen Arbeiten leitete und beaufsichtigte, so leitete sie das Hauswesen und besorgte fast ausschließlich die Führung der Bücher und der Korrespondenz; wie sie ihm im Eifer nicht nachstand, so stand sie auch in Geschick ihm würdig zur Seite: dabei war sie ihrer Schwiegermutter immer eine kindliche Freundin.

Die Generalin hatte Emma bald nach Berlin gebracht. Sie war an ihren Umgang, an die Liebe des Kindes gewöhnt gewesen, und sollte sie seit ihrer Rückkehr kaum einen Tag vermissen, denn [47] die Schwiegertochter hatte sie ihr durch ihr klares, stilles, stets eben so liebes als ehrfurchtsvolles Wesen vollkommen ersetzt.

„Mit Marie ist ein neuer Engel in unser Haus gekommen,“ sagte sie oft zu ihrem Sohne, und der Major küßte glücklich und dankbar seine Mutter und seine Frau; und die schöne junge Frau strahlte in dem Glanze und der Liebe des Glückes.

Das Glück der Familie war nur einmal getrübt worden, und zwar durch den am 19. Juli 1810 erfolgten Tod der schönen und edlen Königin Louise von Preußen; dem preußischen, dem deutschen Lande, einem großen Theile von Europa kam diese herbe Trauerkunde unerwartet. Der Major von Rixleben, der in der Nähe der Dulderin zur Zeit ihrer schwersten Leiden, ihres tiefsten Grames gelebt, hatte der erschütternden Botschaft lange in banger Erwartung entgegengesehen.

Im März des Jahres 1811 beschenkte die Majorin von Rixleben ihren Gemahl mit einem gesunden, schönen Knaben, und an dem Glücke der Familie schien nun nichts mehr zu fehlen. Am Tage nach der Geburt des Kindes saß der Major an dem Bette seiner Gattin, ihre Hand in der seinigen haltend; die Blicke Beider waren auf das vor ihnen in seiner Wiege schlummernde Kind gerichtet. Als der Major sich nach seiner Frau umwandte, sah er ihre Augen voll Thränen; sie mußte schon eine Zeit lang still geweint haben.

„Marie,“ sagte er sanft, „das sind keine Thränen des Glücks. Warum weinst Du?“

„Es ist nichts, mein Geliebter.“

„Dich drückt etwas; verhehle es mir nicht!“

„Kann man nicht weinen an der Wiege eines neugeborenen Kindes? Das Mutterherz blickt gern weit, und nur zu gern ängstlich in die Zukunft hinein.“

„Das war es nicht, Marie!“

„Was hat nicht der Vater dieses süßen Kindes tragen und dulden müssen? Was kann nicht dem Kinde bevorstehen? Wir leben in einer traurigen Zeit!“

„Marie, das war es nicht; Deine Thränen hatten einen andern Grund, Sie fließen noch; sie sprechen etwas Anderes aus; könntest Du es mir verbergen? Hier, an der Wiege unseres erstgeborenen Kindes? In dieser Stunde, da wir von seiner Zukunft, seinem Glücke sprechen?“

Die Thränen der Mutter flossen wirklich noch; sie sprachen auch etwas Anderes aus. Die Majorin kämpfte mit sich selbst.

„Schütte mir Dein Herz aus, Marie, was es auch sei.“

Sie ergriff leidenschaftlich seine Hand und drückte sie an ihr Herz. „Ja, Hermann, ich habe etwas auf dem Herzen; ich muß es Dir entdecken. Wirst Du mir verzeihen können?“

„Alles, Alles, meine gute Marie, wenn es möglich wäre, daß [je] meine Lippen das Wort Verzeihung zu Dir sprechen müßten.“

„Ich hatte eine Schwester,“ preßte die Majorin hervor; „sie war so unglücklich. Wir haben schon manchmal von ihr gesprochen. Ich habe Dir nicht Alles von ihr gesagt. Ihre schwerste Stunde war ihre letzte.“

„In dieser schweren Stunde sandte der Himmel Dich ihr, als ihren tröstenden und aufrichtenden Engel.“

Die Frau schüttelte den Kopf. „Nein,“ rief sie heftig, „ich konnte sie nicht trösten, ich konnte sie nicht aufrichten; ich –“

Sie mußte abbrechen, um sich zu sammeln. Nach einer Weile fuhr sie ruhiger fort: „Ich will es Dir ohne Umschweife mittheilen. Die Unglückliche hinterließ ein Kind, ein liebliches, blühendes Mädchen von etwa drei Jahren. Sie mußte es allein in der Welt zurücklassen, in dem zarten Alter –“

Der Major war sehr ernst geworden.

„Marie,“ unterbrach er sie, „warum hatte das Kind Deiner Schwester –?“ Sie ließ ihn nicht ausreden.

„Ich weiß, was Du sagen willst; Du hast Recht zu Deinen Vorwürfen; aber mache sie mir nicht, nur nicht in dieser Stunde. Es war ein unglückliches Kind einer Unglücklichen, und hatte Niemanden in der Welt als mich. Aber wer war diese Unglückliche? Wer war ich? Durfte ich in das Haus Deiner Mutter, die ich nicht, die mich nicht kannte, ein fremdes Kind, ein Kind der –“

Sie konnte das Wort nicht aussprechen, das schon auf ihren Lippen schwebte. Der Major wollte ihr etwas erwiedern; sie kam ihm aber zuvor.

„Ich weiß wieder Deine Einwendungen, habe sie auch schon hundert, ja tausend Mal mir selbst gesagt. Ich kannte ja Dich, und lernte das gütige Herz Deiner Mutter, schon am ersten Tage, als ich hier ankam, kennen. Ich war von diesem Tage an keine Fremde mehr im Hause; ich habe mir das täglich, fast stündlich gesagt; aber ich konnte nicht.“

„Und das Kind?“ fragte der Major, noch immer ernst.

„Siehst Du, Hermann, meine Furcht war gegründet! Ich habe unrecht gethan, und Du verzeihst mir nicht?“

Die Worte, der bittende Blick, von dem sie begleitet wurden, zerbrachen die allerdings dünne Kruste eines bitteren Gefühls, die sich um das Herz des Majors, er wußte selbst nicht, wie und warum, plötzlich angesetzt hatte.

„Ich hatte Unrecht, meine gute Marie,“ sagte er; „verzeihe Du mir!“ Er küßte ihre Hand. „Und nun, wo ist das Kind?“

„Ich brachte es zu braven Leuten, denen ich mein Erspartes gab. Sie versprachen, das Kind zu halten, wie das ihrige; ich war überzeugt, daß sie ihr Versprechen halten würden, und sie haben es gehalten; denn nach ihren Nachrichten, die ich mir vierteljährig von der Post in Holzminden abhole, ist das Kind immer schöner und blühender geworden. Verzeihst Du mir auch diese Heimlichkeit?“

„Ich sollte es nicht,“ entgegnete der Major freundlich, „weil Du Dir dadurch anderthalb Jahre lang das Herz so schwer belastet hast!“

Am zweiten Tage nachher hatte der Major den alten treuen und sorgsamen Bedienten der Generalin in einem bequemen Wagen fortgeschickt; seiner Frau hatte er nichts davon gesagt, nur mit seiner Mutter hatte er vorher eine Unterredung gehabt. Vierzehn Tage darauf war die Taufe des neugeborenen Knaben. Der Major führte seine Gattin in den Prunksaal des Schlosses, in welchem die feierliche Handlung vorgenommen werden sollte; die Wärterin trug den Knaben vor ihnen her. Als sie eintraten, war die Generalin anwesend; an ihrer Hand hielt sie ein wunderschönes Kind, ein Mädchen von etwa fünf Jahren. Das Kind sah die Majorin, starrte diese an, wollte dann auf sie zufliegen, blieb aber zweifelhaft stehen und blickte fragend die Generalin an, schauete dann wieder auf die Majorin.

Die Majorin von Rixleben starrte das Kind an, Leichenblässe überzog ihr Gesicht, ihr ganzer Körper erbebte; sie wankte und suchte nach einem Gegenstande, sich daran zu halten. Ihr Mann stand an ihrer Seite; nach ihm griff sie nicht, er mußte sie in seinen Armen auffangen.

„Agnes!“ rief die Frau.

Das Kind riß sich von der Hand der Generalin los. „Mutter! Mutter!“ schrie es laut, und flog zu der Majorin. „Meine Mutter, meine Mutter!“ rief es wieder und reichte mit seinen Aermchen, mit seinen Händchen zu ihr hinauf.

Die Majorin hatte sich gefaßt. „Meine süße, meine liebe Agnes!“

Sie küßte die frischen Lippen des Kindes, und preßte das schöne Köpfchen mit den blonden Locken an ihr Herz.

„Ja, ich bin Deine Mutter!“

Sie wandte sich an ihren Gatten.

„Ich darf es sein, Hermann? Die Arme hält mich dafür, denn die Aehnlichkeit mit der Verstorbenen täuscht sie. Sollen wir ihr den glücklichen Glauben nehmen?“

Der Major umarmte seine Gattin.

„Nie! Du wirst ihre Mutter, ich werde ihr Vater sein.“

„Hermann, Hermann, wie werde ich Dir je dankbar genug sein können für alle Deine Güte, für alle Deine Liebe für mich? Gibt es eine glücklichere Frau, als ich bin? Gibt es einen braveren Mann als Du bist?“

War sie wirklich glücklich?

Sie saß in ihrer Stube, die zugleich Kinderstube war. Die Kinder spielten zu ihren Füßen. Sie war beschäftigt, Schühchen für den kleinen Friedrich zu stricken, der schon auf der Erde kriechen konnte und bald anfing zu laufen. Sie sah mit stillem Glücke auf die Kinder, die so fröhlich und glücklich waren.

Die kleine Agnes liebte den Knaben mit der vollsten mütterlichen Schwesterliebe ihres Alters von fünf Jahren. Der Knabe konnte nicht sein ohne die zärtliche Schwester.

Der Major trat in die Stube. Er stand überrascht, selig, vor dem schönen Bilde der Mutter mit ihren Kindern, das er doch täglich sah. Er küßte die Gattin, und ließ sich am Boden [48] zu den Kindern nieder und spielte mit ihnen. Einige Zeitungen hatte er auf den Tisch gelegt. Einen schon offenen Brief übergab er seiner Gattin.

„Von der Mutter,“ sagte er.

Die Generalin war schon seit drei Wochen nach Berlin verreist, um ihre Nichte Emma von dort zurückzuholen. Emma hatte nicht darum gebeten, aber ihre Briefe hatten schon längst eine seit einiger Zeit sich steigernde Schwermuth ausgesprochen. Nach einer Berathung mit ihrem Sohne und ihrer Schwiegertochter hatte die Generalin daher beschlossen, sie nach Harthausen zurückzunehmen. In dem glücklichen Familienkreise, in der frischen Landluft, hoffte man, werde auch sie wieder frischer und fröhlicher werden. Die Generalin hatte sich entschlossen, selbst sie von Berlin abzuholen, um dort, wo sie längere Zeit gelebt hatte, zugleich alte Freunde und Bekannte zu begrüßen.

Die Majorin las den Brief der Schwiegermutter. Der Inhalt schien sie zu überraschen.

„Mittwoch?“ sagte sie. „Wir haben ja heute Mittwoch. Sie käme also heute?“

„So ist es. Der Brief hat sich verspätet. Weil er von Berlin kommt, wird man Geheimnisse darin vermuthet, und ihn in irgend einem der schwarzen Kabinette, vielleicht in Kassel selbst, angehalten haben. Indeß mag man es. Ich freue mich, Emma wiederzusehen.“

„Auch ich. Aber Hermann, wir werden Anstalten zu ihrem Empfange treffen müssen. Die Mutter freut sich so sehr über solche kleine Aufmerksamkeiten. Um welche Zeit, glaubst Du, werden sie eintreffen?“

„Nach dem Briefe waren sie heute Nacht in Seesen; vor sieben Uhr heute Abend können sie hier nicht ankommen. Uebrigens habe ich schon einige Anordnungen zu ihrem Empfange getroffen. Thor und Terrasse werden geschmückt, ebenso der Flur, die Treppe.“

„Die Zimmer der Mutter und Emma’s werde ich übernehmen.“

„Ich werde die Leute dazu bestellen.“

Der Major ging wieder.

„Die Kinder und Du,“ sagte er im Weggehen, „seid immer im vollen Schmucke der Schönheit und Liebenswürdigkeit.“

Die Majorin schien, so lange ihr Mann da war, sich einigen Zwang angethan zu haben. Nach seiner Entfernung wurde sie unruhig, träumerisch. Sie nahm den Brief wieder auf, den der Major zurückgelassen hatte; sie las ihn wiederholt.

„Warum ist mir denn, als müsse mit dem Briefe das Unglück zu mir getreten sein? Daß das Kind zurückkommt? – Kind? – Ist sie noch ein Kind? War sie es noch vor anderthalb Jahren, als ich kam? War das die Liebe eines Kindesherzens zu dem schönen, edlen, stolzen, tapfern Mann, der so unglücklich gewesen war? Und diese Schwermuth jetzt? Und – welche Blicke, welche ahnende, welche furchtbar ahnende Blicke warf sie auf mich? Was sieht schärfer, als die Liebe, als die Liebe des reinen, unschuldigen, des unverdorbenen Herzens?“

Ihr Blick fiel auf die Kinder, auf den Knaben, aber auch auf das fünfjährige Mädchen. Sie sprang wie entsetzt auf.

Was war es, was sie so entsetzt in die Höhe trieb? Die Kinder spielten doch so fröhlich, so glücklich.

Sie sprang zu dem Mädchen, nahm sein Lockenköpfchen in ihre Hände, und drückte es an ihr Herz, wie an dem Tage, als sie das Kind wiedergefunden hatte. Aber sie drückte es ängstlich an ihr Herz, als wenn es wieder von ihr gerissen werden sollte. Bittere Thränen fielen in die Locken des Kindes.

„Nein, nein, mein Kind! Du bist dennoch mein Engel, und Du wirst es bleiben. Für Dich, für Dein Glück habe ich ja das Alles gethan. Für Dich habe ich die Ruhe, die Ehre, das Glück des edelsten Mannes auf das Spiel gesetzt. Nein, nein, Du kannst nicht mein, nicht sein böser Dämon werden. Du bist unser Engel, Du wirst es bleiben, auch jener gegenüber. Du wirst mein Schutzengel gegen sie werden, mit Deinem Engelsgesicht, mit deinem engelgleichen Herzen; Du bist eben so unschuldig, so rein wie sie!“

Sie ließ das Kind sanft los, und führte es zu dem Knaben zurück. Die Kinder spielten wieder miteinander.

Die Majorin saß noch lange träumend da. Während ihrer Träume hatten ihre Hände unwillkürlich nach den Zeitungen gefaßt, die der Major bei seiner Ankunft auf den Tisch gelegt hatte. Unbewußt warf sie einen Blick in eines der Blätter.

Ein lauter, ein furchtbar lauter Schrei! Sie warf das Blatt fort, wie wenn sie eine giftige Schlange von sich schleudere. Sie sprang auf, und starrte wie wahnsinnig nach dem weggeworfenen Blatte. Die kleine Agnes flog zu ihr. Sie stieß das Kind von sich, denn sie wußte nicht, was sie that. Der kleine Knabe weinte; sie hörte es nicht.

Wieder griff sie nach dem Zeitungsblatte; ihre bebenden Hände vermochten es kaum zu halten. Ihre Augen suchten die Stelle wieder auf, von der sie so entsetzt zurückgeflogen waren; der wilde, wirre Blick fand sie.

„Also doch, doch!“ rief sie. „Heute, heute, gerade heute! Mit ihr, mit dem Briefe tritt das Unglück zu mir. Das Unglück?“

Sie konnte sich nicht mehr aufrecht halten, und mußte sich setzen. Dann las sie laut. Noch hatte sie Alles um sich her vergessen, und wußte noch immer nicht, was sie that.

„Mainz, im September. Vor einigen Tagen ist es einem der gefährlichsten Verbrecher gelungen, durch gewaltsamen Ausbruch aus der hiesigen Citadelle zu entweichen, in welche er, zur lebenswierigen Baugefangenschaft verurtheilt, eingesperrt war. Gregoire Lauterbach, Elsasser von Geburt, früher Offizier in der kaiserlichen Armee, wegen Betrügereien aus dieser ausgestoßen, hatte darauf längere Zeit ein vagabondirendes Leben geführt, und von großartigen Betrügereien und Prellereien, besonders auch von verrätherischen Diensten gelebt, die er den Feinden des Kaisers als Spion leistete. Vom Kriegsgerichte zum Tode verurtheilt, war er durch die unerschöpfliche Huld Seiner Majestät des Kaisers zu lebenslänglicher Festungsstrafe begnadigt worden. – Bis jetzt sind alle Schritte zu seiner Wiederergreifung vergeblich gewesen. Sein Signalement folgt hier unten.“ –

Die Majorin las nicht weiter. Das Blatt entfiel ihrer Hand; sie sank bewußtlos in den Stuhl zurück. Die Arme hingen schlaff an ihrem Körper herunter; ihre Augen starrten bewußtlos vor sich hin; man konnte sie für eine Leiche halten. War sie wirklich ohne Bewußtsein, oder war ihr Geist mit Entwürfen, Plänen, Entschlüssen beschäftigt? Gewiß war, daß die Gegenwart nicht für sie existirte. Sie sah nicht die Thränen ihrer Tochter; sie hörte nicht das Weinen des Knaben. Lange lag sie so.

Langsam erhob sie sich, aber mit festem, entschlossenem Wesen. Ihr Gesicht war noch sehr blaß; aber auch in ihm sprach sich ein fester Entschluß aus.

Sie zog die Klingel. Ihr Mädchen trat ein.

„Ich lasse meinen Mann zu mir bitten.“

„Bei dem gnädigen Herrn ist ein Fremder,“ entgegnete das Mädchen.

Die Majorin stutzte; denn ihr Mann bekam selten Besuch.

„Schon lange?“ fragte sie.

„Seit etwa zehn Minuten.“

„Ein Fremder? Haben Sie ihn gesehen?“ fragte die Majorin etwas unruhig, zögernd.

Die Antwort des Mädchens versetzte sie noch mehr in Unruhe.

„Der Fremde,“ lautete die Antwort, „war groß und ging etwas rasch. Er suchte, ich war gerade im Flur, sein Gesicht vor mir zu verbergen, und fragte ohne Weiteres nach dem Zimmer des gnädigen Herrn.“

„Sie können gehen,“ sagte die Majorin, anscheinend ruhig zu dem Mädchen. „Wenn der Fremde fort ist, melden Sie es mir.“

Das Mädchen entfernte sich.

Die Majorin hatte ihre Ruhe verloren; aber nur ihre Ruhe; ihr Entschluß war ihr geblieben; er war ihr fest geblieben; es schien ein großer zu sein. Ihr Auge blickte stolz, während sie mit großen, hastigen Schritten die Stube maß.

Nach längerer Zeit öffnete sich die Thür. Nicht ihr Mädchen trat ein, aber ihr Mann.

Sein Gesicht hatte den Ausdruck tiefen Ernstes und Nachdenkens. Er sah beinahe mit einer gewissen Sorge und Bekümmerniß auf seine Frau, wie auf die Kinder.

Textdaten
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Autor: J. D. H. Temme
Titel: Verfehltes Leben
aus: Die Gartenlaube 1857, Heft 5, S. 57–63
Fortsetzungsroman – Teil 5 // Schluß

[57] Die Majorin war zusammengefahren, als sie ihren Mann plötzlich sah. Sie schritt ihm entgegen. Man sah es ihrer Miene an, sie wollte ihren Entschluß sofort ausführen. Aber sie sah den fremden, ungewohnten Ausdruck seines Gesichtes, und blickte ihn forschend an. Die Worte, die sie auf den Lippen hatte, drängten sich zurück.

Der Major schien nur mit seinen Gedanken beschäftigt zu sein. Er gewahrte die Aufregung nicht, in der sie sich befand.

„Marie,“ hob er rasch und unruhig an, „zum ersten Male fehlte mir Dein verständiger Rath. Ich habe ohne ihn etwas unternommen, wenigstens versprochen, was mich beunruhigt. Ich muß mich Dir anvertrauen.“

Die Worte der Frau drängten sich mehr zurück: ihr Entschluß blieb ihr ja.

„Es bereiten sich,“ fuhr der Major fort, „ernste politische Begebenheiten vor. Die Pläne des Unterdrückers unseres Vaterlandes werden hochfliegender. Er eilt, die höchste Spitze seiner Macht, seines Glanzes, seines Ruhmes zu erklimmen, um desto eher und desto tiefer in den Abgrund zu stürzen. Bald wird die Zeit des Handelns für das deutsche Volk sich nahen. Für die Einzelnen ist die Zeit des Vorbereitens schon da. Ich habe Dir von dem Tugendverein erzählt, der noch vor meiner Verbannung nach Rußland oben in Preußen gestiftet wurde. Ich gehörte zu seinen Gründern. Er hatte später, auf Verlangen des französischen Kaisers, aufgehoben werden müssen; ich aber hatte gemeint, er sei wirklich aufgehoben. Aber die Treue der Diener des Königs war stärker gewesen, als der von dem Fremden erzwungene Befehl. Der Bund besteht noch, und wirkt im Verborgenen. In diesem Augenblicke war ein Abgesandter von ihm bei mir; er kam unmittelbar[WS 1] von meinen tapfern Freunden, den Obersten Gneisenau und Boyen. Man rechnet auf mich. Ich soll in diesem Theile Deutschlands im Geheimen organisiren, damit auf einen großen Ruf der dem deutschen Vaterlande treu gebliebenen Fürsten das Volk sich wie ein Mann erhebe. Ich habe meine Mitwirkung zugesagt. Marie, billigst Du es?“

Die Majorin hatte ihre Unruhe verloren, während ihr Mann sprach. Sie war mit lebhafter Theilnahme seinen Worten gefolgt, und sah ihn mit stolz blitzenden Augen an. Aber in den Stolz hatte sich Wehmuth, Trauer gemischt.

„Du wirst einer großen Sache dienen, Hermann, und Du wirst ihr begeistert dienen; Du wirst Dir neuen Ruhm und neuen Dank erwerben, zu dem Danke Deines Königs den Dank Deines befreiten Vaterlandes.“

„Aber Marie, wenn der Plan mißlingt, wenn er vorzeitig verrathen wird, so habe ich Dein, unserer Kinder Glück und Zukunft zerstört, vernichtet!“

„Mein –? O, mein Hermann, was bin ich, was ist der Einzelne, wenn es das ganze Vaterland gilt? Und unsere Kinder? Sie stehen in der schützenden Hand des Himmels. Einmal wird, muß unser schönes Vaterland aus den Ketten dieser fremden Unterdrücker wieder befreit werden; dann wird auch unsern Kindern der Dank, das Glück der Freiheit nicht fehlen. Du hast Recht gethan, Hermann. O, werde groß, werde glücklich!“

In ihren Augen standen Thränen. Sie streckte die Arme nach ihm aus; sie wollte ihn umfangen, sich in seine Arme werfen, aber sie vermochte es nicht.

Der Major drückte sie an seine Brust.

„Ich wußte es!“ rief er stolz und glücklich. „Du bist das edelste, das größte, das aufopferndste Herz! Wie liebe ich Dich!“

„Und ich Dich!“ rief die Unglückliche, hingerissen von ihrem innersten Gefühle. „Ich, ich –“

Sie wollte ein Wort aussprechen, sie vermochte es nicht. Wie konnte sie in diesem Momente ihr, sein Glück zerstören, für immer, mit dem furchtbarsten Schlage?

„Und Ihr werdet nicht unglücklich werden,“ rief der Major. „Wir werden Alle glücklich sein, der Geist des Vaterlandes, des Muthes, der Tugend wird uns beschützen.“

Er zog die Gattin auf das eine Knie, und setzte seinen Knaben auf das andere. Die kleine Agnes stellte sich zwischen Beide; sie umarmten sich Alle.

Ein Bedienter öffnete leise, aber eilig die Thür. Er sah etwas verstört aus. „Ich suche den gnädigen Herrn.“

„Was gibt’s?“ fragte der Major.

„Kann ich den gnädigen Herrn allein sprechen?“

„Sagen Sie hier, was Sie haben.“

„In der Nähe des Schlosses,“ berichtete der Diener etwas geheimnißvoll ängstlich, „sieht man mehrere Gensd’armen umherschleichen.“

Vor anderthalb Jahren, vor einem Jahre noch war das nichts Ungewöhnliches gewesen. Jetzt hatte man schon seit langer Zeit keine Gensd’armen mehr in oder um Schloß Harthausen gesehen. Der Major stutzte. Er mußte nothwendig an den geheimen Besuch denken, der vor kaum einer Viertelstunde ihn verlassen hatte. Er wechselte einen Blick mit seiner Gattin; diese war sehr blaß geworden.

[58] „Fürchte nichts,“ flüsterte er ihr zu. „Ich werde mich selbst überzeugen.“ Er stand auf. Sie wollte ihn zurückhalten.

„Bleibe, Hermann, ich beschwöre Dich!“

„Für mich sehe ich keine Gefahr,“ erwiederte er ihr. „Ich kehre bald zurück.“

Er verließ mit dem Bedienten die Stube; die Majorin blieb mit den Kindern zurück, und spielte mit ihnen. Sie schien so die Rückkehr des Gatten erwarten zu wollen. Es verbreitete sich immer mehr eine große Ruhe über ihr ganzes Wesen; es war die Ruhe des großen und festen Entschlusses.

Ihr Spiel mit den Kindern wurde unterbrochen, gestört. Die Thür des Zimmers öffnete sich wieder, sehr leise, sehr langsam. Ein männliches Gesicht blickte in die Stube, und gleich darauf trat Jemand ein.

Es war ein Mann in den mittleren Jahren, von großer, aber etwas zusammengesunkener Gestalt, mit einem Gesichte, das ehemals gewiß schön, lebhaft, geistvoll gewesen war, das aber jetzt nur noch Züge der körperlichen und moralischen Verkommenheit aufzuweisen hatte; es drückte sich vollkommen jene unverkennbare tiefste Gemeinheit des Zuchthauses darin aus.

Die Frau von Rixleben saß mit dem Gesichte von ihm abgewendet, als er eintrat; sie hatte auch sein Nahen nicht gehört, aber die kleine Agnes sah ihn. Das Kind erschrak, als es auf einmal und so leise, so unhörbar, den fremden Mann durch die Thür hervorkommen, an der Schwelle stehen bleiben und die durchdringenden, fast brennenden Augen auf sich und ihre Mutter und ihr kleines Brüderchen gerichtet sah. Sie starrte den Mann einen Augenblick an, dann wandte sie sich ängstlich zu der Mutter, den Blick noch immer auf den Fremden gerichtet.

Die Majorin folgte dem Blick des Kindes, und auch sie sah den Fremden. Eine Stunde vorher würde seine Erscheinung ihr die eines Gespenstes gewesen sein. Jetzt aber wußte sie, daß sie einen Lebenden vor sich hatte. Aber war ihr Entsetzen nicht ein desto größeres? Trotz ihrer Ruhe, trotz aller ihrer Fassung flog sie auf.

„Ha, schon!“ rief sie. „Schon so bald, so schnell tritt das Schicksal mit seiner Vergeltung und Vernichtung zu mir!“

Sie starrte den Mann an, wie so eben das Kind ihn angestarrt hatte. Aber ihr Entsetzen dauerte nur eine Sekunde lang, dann gewann sie ihre Ruhe, ihre volle Kraft wieder.

Auch der Mann war ruhig. Er verschloß die Thür, durch die er eingetreten war, dann ging er auf die Majorin zu. Diese erwartete ihn mit festem Blicke.

„Ich sehe, Du kennst mich noch,“ sagte er. „Das ist gut; denn ich komme –“

Die Majorin unterbrach ihn, gleichfalls mit fester, ruhiger Stimme.

„Gregoire, bevor Du weiter sprichst, höre wenige Worte von mir an. Du kannst dann machen, was Du willst; Du wirst dann aber auch einsehen, daß für Dich hier wenig zu gewinnen ist.“

„Sprich,“ erwiederte der Mann kalt.

„Ich erfahre heute, in dieser Stunde,“ fuhr die Frau von Rixleben fort, „daß Du noch am Leben seist und zugleich, daß es Dir gelungen sei, aus Deiner Haft zu entwischen.“ –

„Ah, Du hattest mich wirklich für todt gehalten?“

„Mußte ich nicht?“

„Freilich, ich war zum Tode verurtheilt. Die französischen Kriegsgerichte machen verteufelt kurzen Prozeß; aber mir wurde das Leben geschenkt, denn ich hatte drüben auch manchen hübschen Dienst geleistet, wenngleich ihre Steckbriefe mich jetzt nur zum Spion ihrer Feinde machen wollen. Dank und Undank! Allein fahre fort. Du hast mich also für todt gehalten? Du warst mir wohl nachgereiset, als ich arretirt, als wir von einander getrennt wurden? Und nachdem Du den schnellen Spruch des nach meinem Blute dürstenden Kriegsgerichtes erfahren hattest, war auch Deine Liebe gesättigt, und Du machtest Dich stracks auf den Weg zu diesem schönen Schlosse, um als Deine verstorbene Schwester einen einfältigen, sentimentalen preußischen Helden zu betrügen. O, es war kein großes Kunststück, aber ein ganz ordinäres, gemeines Verbrechen, das sich mit zwanzig Jahren Zuchthaus abbüßen läßt. Du erstaunst, wie ich das Alles weiß? Man lebt auch in der engsten Haft nicht ganz abgeschlossen von der Welt. Du wirst es im Zuchthaus gleichfalls erfahren. In der Citadelle zu Mainz hatte ich einen Leidensgefährten, einen vormaligen Polizeispion, der Unglück gehabt hatte, wie ich. Der Mann wußte viel; er wußte auch, daß ein vormaliger preußischer Major in der Gegend von Holzminden, ein gefährlicher Mensch für die Ruhe und das Glück Europa’s, und daher unter strenger Aufsicht der Kasseler Polizei, eine junge, hübsche Dame, Namens Marie Antoinette Andreä, geheirathet habe. In welcher Beziehung diese schöne Dame zu mir stand, wußte er freilich nicht; aber ich wußte das, und da errieth, oder vielmehr wußte ich denn auch das andere, und – hier bin ich. – Doch verzeihe, ich sollte Dich nicht unterbrechen, und ich habe es dennoch gethan. Es wird nicht wieder geschehen. Sprich, ich werde Dich sehr aufmerksam anhören.“

Der Hohn des Menschen hatte die Klarheit und Ruhe der Frau von Rixleben nicht stören können. Sie erwiederte ihm: „Du bist offen gegen mich gewesen, ich werde es auch gegen Dich sein. Ich bin es in dieser letzten Stunde mir, Dir, unserm Kinde schuldig.“

„O, von einer letzten Stunde sprichst Du? Aber verzeihe nochmals mein Unterbrechen.“

Die Majorin fuhr fort: „Ich liebte Dich, Gregoire. Du hattest durch schlechte Künste mein junges, unerfahrenes Herz bethört; Du hattest mich boshaft verführt, Du hattest grausam mich gezwungen, das väterliche Haus zu verlassen, um Dir zu folgen. Ich liebte Dich dennoch. Bald jedoch erkannte ich Deinen Charakter, Deine Lebensweise ganz; Du lebtest nur von Verrath und Verbrechen. Ich sah zugleich, daß Du mich nicht liebtest, daß Du so mich nicht lieben konntest. Ich liebte Dich dennoch, Gregoire. Ich hoffte auf Aenderung, Besserung Deines Charakters und Lebenswandels, und dann auf Deine Liebe.“ –

„Du hattest die Güte, mir das oft zu sagen,“ fiel der Mann höhnisch ein.

„Meine Bitten, meine Thränen, meine Hoffnungen waren vergebens. Du wurdest kein Anderer, Du sankest nur noch tiefer. Du konntest freilich kaum noch anders. Dein Leben war verwirkt, Du hattest nur noch eine unstäte, flüchtige Existenz. Ich hielt treu bei Dir aus, noch mehr, ich liebte Dich noch immer, und hoffte auf einen Zufall der Rettung. Es kam anders. In dem Augenblicke, als ich meine sterbende Schwester wiederfand, wurdest Du von meiner Seite gerissen, um zum Tode zu gehen. Du warst unrettbar verloren, darüber war kein Zweifel. Ich stand allein in der Welt, und hatte Niemanden, als dieses arme, hülflose Kind, und ich selbst war arm, hülflos; aber ich dachte nicht an mich, ich hatte nur Gedanken für mein Kind. Was sollte aus ihm werden, wer sollte es vor Elend, vor Schande, vor Verbrechen retten? Da kam ein furchtbarer Entschluß in mir zur Reife, den, ich will es nicht leugnen, ein Zufall schon an dem Sterbebette meiner Schwester in mir angeregt hatte. Ich führte ihn aus, nachdem ich Dein Todesurtheil erfahren hatte. Du hast ihn errathen, Du kennst ihn. Aber höre mich weiter. Für mein, für Dein Kind war gesorgt, seine Zukunft war gesichert, aber ich desto unglücklicher geworden. Eine verworfene, gemeine Verbrecherin, die Verrätherin des bravsten Mannes, konnte ich nur einen Augenblick glücklich sein! Und dennoch mußte ich stets Glück erheucheln. Ich trug das Leben nur um meines Kindes, jetzt meiner beiden Kinder, und um des Glückes meines Gatten, dieses edlen Mannes willen, der mich liebte, der mich noch über Alles liebt. – Da erfuhr ich heute, daß Du lebst, daß Du Dich befreit hattest. Ich kannte Dich; auch wenn ich Dich nicht gekannt hätte, die Ehre, das Glück meines Mannes war gefährdet; mein Entschluß stand sofort fest. Ich habe ihn noch nicht ausführen können; in der nächsten Viertelstunde aber geschieht es. Ich entdecke meinem Manne Alles, und bitte ihn nur um Liebe für das Kind, für das ich seine und meine Ehre, sein und mein Glück geopfert habe. Er hat ein großes Herz, er wird meine Bitte erfüllen. Und nun, Gregoire, sage mir, was Dich hierher geführt hat, wenn es Dir noch der Mühe werth ist, es mir zu sagen?“

Sie endete, und sah ihn ruhig, würdevoll an. Sein Hohn war, wenigstens für den Augenblick, verschwunden. Die Würde des Herzens, das er verdorben, zerbrochen hatte, imponirte ihm.

„Und was soll aus Dir werden, Antoinette?“ fragte er.

„Frage mich nicht,“ erwiederte sie ihm. „Kann ich noch etwas für Dich thun, so sage es mir. Sonst entferne Dich von hier.“

Dem verworfenen Verbrecher hatte ein besserer Sinn nur für einen kurzen Moment imponiren können.

„Ah,“ rief er, „Teufel, Du bist klug! Beinahe hätte ich mich von Dir fangen lassen. Mit einem Bettelpfennig denkst Du mich [59] hier abzuspeisen, und dann den mit Steckbriefen verfolgten Sträfling wieder in die Hände seiner Verfolger zu spielen, und unterdeß Dich selbst ruhig in die Arme des sentimentalen großen Herzens zu legen. Nein, Madame, so wird es nicht werden. Zuerst –“

„Gregoire,“ unterbrach die Frau ihn, „Du kennst mich und die Festigkeit meiner Entschlüsse. Ich habe Dich von manchem Verbrechen zurückzuhalten gewußt, das ich vorher erfuhr.“

„Du hattest einen starren dummen Eigensinn.“

„Du weißt auch, daß ich mich gegen Dich nie verstellt habe.“

„Du hast seitdem die Komödie gelernt.“

„Bei Gott, Gregoire, ich habe kein unwahres Wort zu Dir gesprochen, kommt mein Mann in diesem Augenblicke hier herein, so werde ich in Deiner Gegenwart meinen Entschluß ausführen. Und entfernst Du Dich nicht bald – wie gern ich ihm auch die Schmach Deines Anblicks ersparte – ich lasse ihn hierher rufen.“

Der Verbrecher wurde wieder ernsthaft.

„Antoinette,“ sagte er, „ich glaube in der That, Du wärst thöricht genug dazu. Aber höre jetzt auch mich an. Ich bin nicht zu Dir gekommen, um Dein Glück, das Du hier gefunden hast, zu zerstören, sondern es vielmehr mit Dir zu theilen. Und das geht auf einem sehr einfachen Wege an. Wir setzen nur die Rollen in der Weise fort, wie Du die Deinige begonnen hast. Ich werde der Mann Deiner verstorbenen Schwester, der aus der lebenslänglichen Haft sich befreit hat, und ein ganz ordentlicher, tugendhafter Mensch geworden ist, und hier –“

„Sprich nicht weiter, Unglücklicher,“ rief mit Entsetzen die Frau. „War das nicht der empörendste Hohn, so bist Du ein Wahnsinniger!“

„Du bist eine Närrin, Antoinette. Wir werden hier glücklich werden. Dein edler Mann wird mir seinen Schutz nicht versagen –“

„Gregoire,“ unterbrach ihn wiederholt die Frau, „kein Wort weiter, oder ich rufe meinen Mann.“

„Ist das Dein Ernst?“

„Mein voller Ernst!“

„Zum Teufel, so höre vorher noch ein paar andere Worte von mir. Weißt Du, daß das Haus mit Gensd’armen umsetzt ist?“

„Sie suchen Dich schon!“

„Nicht mich, aber einen geheimen politischen Emissär, der vor einer Stunde bei Deinem Manne war, und wenn ich will, auch Deinen Mann, um ihn vorläufig in das Kastell zu Kassel und von da weiter nach Mainz zu bringen, wo an ihm sicher das Todesurtheil vollzogen werden wird, das an mir vorüberging.“

Die Majorin war erblaßt.

„Unmensch, Du hast auch schon hier den Verräther gemacht?“

Que faire? Il fort gagner la vie. Du stehst, ich kam doppelt bewaffnet zu Dir, mit der Güte und mit der Gewalt. Suche Dir jetzt aus. Noch ist Dein Mann sicher; nur jener, der bei ihm war, wird verfolgt; die Dummköpfe vermuthen ihn noch hier. Ach, Antoinette, die französische Polizei fängt an, schlecht bedient zu werden; es scheint mit der Wirthschaft zum Ende zu gehen. Nun, wofür hast Du Dich entschieden?“

Die Majorin war mit großen Schritten im Zimmer umhergegangen; sie ging entschlossen auf die Thür zu, neben welcher die Klingel hing. Der Verbrecher hatte sie nicht aus den Augen gelassen; er vertrat ihr den Weg, und hielt sie fest.

„Nicht doch, Antoinette!“

Aber der feste Entschluß hatte in dem schwachen Weibe eine ungewöhnliche Körperkraft erzeugt. Sie riß sich von ihm los, stieß ihn von sich und zog heftig an der Klingel.

Der Elende erschrak bei dem lauten Tone.

„Thörin, trotziges Geschöpf!“ rief er, „Dein sentimentaler Held könnte mich erschießen, ich bin unbewaffnet. Noch ist mir mein Leben zu lieb. Wir sehen uns wieder, heute, jeden Tag. Wisse, ich lasse Dir keine Ruhe, bis Du wieder mein bist.“ Er verschwand durch die Thür. Gleich darauf trat ein Bedienter ein.

„Sobald mein Mann zurückkehrt, geben Sie mir Nachricht.“

Die Frau von Rixleben war angegriffen, erschöpft; sie mußte sich in ihren Sessel zurücklehnen, um sich zu erholen, um wieder Kräfte zu gewinnen, Kräfte für den schwersten Entschluß, für die schwerste Stunde ihres Lebens.

Die beiden Kinder spielten wieder zu ihren Füßen. Sie waren durch den Eintritt des fremden Mannes nur einen Augenblick darin unterbrochen worden, als die kleine Agnes, geängstigt durch sein plötzliches geräuschloses Erscheinen, sich an die Mutter gedrängt hatte. Das Kind hatte seinen Vater nicht wieder erkannt. Die lange Haft, der gemeine Ausdruck seines Gesichts, der ganze, zur Vollendung ausgeprägte äußere Charakter des gemeinen Verbrechers hatten ihn für das zarte Gedächtniß des fünfjährigen Kindes unkenntlich gemacht. Wohl dem armen, kleinen Wesen! Die Unterredung ihrer Mutter mit dem Manne hatte einen äußerlich ruhigen Verlauf genommen. Das Kind hatte daher nicht darauf geachtet, und sein Spiel mit dem Brüderchen wieder fortgesetzt. Die Kinder hatten Glöckchen, kleine Thiere, Häuser, Stuben. Das Mädchen baute auf, ordnete und richtete ein; der Knabe riß auseinander, zerstörte, warf umher. Das Mädchen las geduldig wieder zusammen, bauete wieder auf, ordnete wieder; der Knabe warf es wieder wild und bunt durcheinander. Beide lachten und freuten sich, und wurden nicht müde im Aufbauen und Zerstören.

Schon so früh das Bild des Lebens und Treibens der Menschen, des ewigen Aufbauens und Zerstörens des Glücks, des fremden und des eigenen! Die Kinder waren nur fröhlich und unschuldig dabei. Die unglückliche Frau sah das Spiel der Kinder; sie nahm keinen Theil daran, und konnte sie das, nach dem eben Erlebten, so nahe vor dem Ende ihres Schicksals?

Nur dieses, nur ihr Schicksal stand vor ihr: ihr vergangenes Leben, ihre Zukunft, ihre Träume über beide. Wie hatte sie als reines, unschuldiges Mädchen von sechzehn Jahren sich ihre Zukunft so rein, so unschuldig, so schön geträumt! Da war der Verführer gekommen, und hatte sie und ihr Leben vergiftet. Welches Elend hatte sie ertragen an der Seite des Verbrechers, dem sie nicht entfliehen, vor dem sie kaum sich retten konnte, daß er sie nicht in seine Verbrechen mit hineinriß! Und hatte er nicht dennoch sie zur Verbrecherin gemacht? Hatte er nicht, durch seine tägliche Frivolität, durch tägliches Beispiel, ihr Herz, ihren Sinn, ihr ganzes Wesen so durch und durch vergiftet, daß ihre reine, edle Liebe zu ihrem Kinde, das heiße Streben für dessen Wohl und Glück sie zu keinem andern Mittel greifen ließ, als zu einem empörenden, furchtbaren gemeinen Verbrechen? Konnte die böse Aussaat gute Frucht tragen? Dennoch war sie so verblendet gewesen, daß sie von einer glücklichen Zukunft geträumt hatte. Nochmals von einer glücklichen Zukunft! Ihr Leiden, ihre ewige Angst, die Angst des Gewissens, die Angst vor Entdeckung, hatte in dem ersten Augenblicke ihres Entschlusses zu dem Verbrechen klar und lebendig vor ihr gestanden. Und doch wurde sie nicht mit glücklich in dem Glücke ihres geliebten Kindes? War, nachdem sie von ihrem zum Tode verurtheilten, und wie sie glauben mußte, hingerichteten Manne befreit war, eine Entdeckung ihres Verbrechens jemals zu befürchten? Mußte nicht zuletzt auch die Stimme des Gewissens schweigen vor dem so laut redenden Zeugnisse des Glückes ihres Kindes? Sie hatte ihren Entschluß ausgeführt; sie hatte den Schritt des Verbrechens gethan; es war vorbei, unwiderruflich vorbei. Sie konnte nicht zurück, obwohl sie täglich wollte. Sie liebte den Mann, den sie betrogen hatte, und konnte nicht mehr von ihm lassen. Schon von dem Verführer hatte sie sich nicht losreißen können; ihr Herz fühlte sich an ihn gefesselt; aber welche andere, reinere, edlere Liebe erfüllte ihr ganzes Innere für den Mann, mit dem sie jetzt verbunden war! Eine reine, edle Liebe, und sie entdeckte sich ihm nicht? Sie setzte den Betrug, das Verbrechen gegen ihn fort? Er liebte sie; er liebte in ihr seine Marie; er liebte sie mit der ganzen Kraft seines kräftigen Herzens. Sein Herz war verwachsen in diese Liebe; starb diese, so mußte es mit ihr verbluten, sterben!

Konnte sie ihm ihr Verbrechen entdecken? So glaubte sie; so glaubte ihr vielleicht zu leichtgläubiges Herz, so redete vielleickt ihre eigene Liebe zu dem Manne, die Sorge für ihr Kind, bethört und bethörend dem Herzen nur zu. In dieser Bethörung wurde sie in der That glücklich; nur auf Stunden, Augenblicke; dann aber auch so glücklich, so selig! Die Gewissensqual, die Angst vor Entdeckung kam furchtbar hinterdrein, um so furchtbarer, je mehr sie sie verbergen mußte, je mehr sie nur sich glücklich zeigen durfte. Aber waren jene Stunden, nur Augenblicke des Glücks, nicht eine Bürgschaft, daß das Glück dauernder, daß es für immer zu ihr wiederkehren könne? Hatte sie nicht sogar einen Anspruch hierauf? Lebte sie nicht der strengsten Ausübung ihrer Pflicht, der Tugend, der Liebe und Sorge für ihren Mann, für ihre Kinder? – Lebte sie wirklich der Tugend, der Pflicht, der Liebe zu dem Manne, den sie noch immerfort, täglich, ja stündlich [60] betrog? Wie viele, wie unbegreifliche Widersprüche liegen in dem Innern des Menschen! Wie leicht und gern täuscht er sich absichtlich fast bei allem seinem Thun; wie leicht und gern läßt er sich von sich selbst täuschen! Aber das Schicksal, die Gerechtigkeit, die furchtbar vergeltende Gerechtigkeit läßt sich nicht von ihm täuschen. Sie konnte bei all’ jener Liebe und Pflichterfüllung sich kein dauerndes Glück schaffen durch Betrug, Verbrechen. Der Schrecken, das Elend, das Unglück mußte darauf folgen; denn sie forderte es täglich, stündlich heraus. Und es kam. Es war da. Es brach ihr nicht das Herz. Ihre starke Seele wußte es zu ertragen, wußte es würdig zu ertragen.

Sie hatte ihre Kräfte wieder gesammelt, stand auf, ging dann zu den spielenden Kindern, und sah, mit der ganzen stillen, tiefen, innigen Theilnahme, mit der sie so oft bei ihnen gestanden hatte, ihrem freundlichen Spiele zu. Aber mit der freundlichen, glücklichen Theilnahme früherer Zeit konnte sie ihnen nicht zusehen. Ein schmerzliches Aufzucken ihres Gesichts zeigte, wie sehr sie sich Gewalt anthun mußte, den heftigsten Schmerz ihres Innern zurückzudrängen. Sie beugte sich nieder zu den Kindern.

„Mütterchen will mit uns spielen,“ jubelte die kleine Agnes, in die Händchen klatschend.

„Jetzt nicht,“ entgegnete die unglückliche Mutter. „Nie mehr, nie mehr!“ setzte sie für sich hinzu; „aber stören muß ich Euer Spiel; Euer letztes Spiel, das meine Augen sehen werden.“ Sie nahm den Knaben auf den Arm, und drückte ihn an ihr Gesicht, an ihr Herz. „Lebe wohl, mein Kind, mein Friedrich, das Kind meines Glückes, meines Stolzes!“ Thränen stürzten aus ihren Augen; noch vermochte sie, diese zu trocknen. Darauf setzte sie den Knaben nieder auf die Decke, und hob die kleine Agnes auf. „Auch Du, auch Du lebe wohl! Du Kind meiner Leiden, meiner Sorge, meines Schmerzes, meines Unglückes; und doch mein geliebtes, mein über Alles geliebtes Kind! Lebe wohl, lebe wohl!“

Sie konnte ihre Thränen nicht mehr zurückhalten; wie sie krampfhaft das Kind an sich preßte und auf sein schönes, freundliches Gesicht, seine hellen Locken, seine Brust, seinem Nacken ihre heißen Küsse drückte, da strömten auch mit einer krampfhaften, nicht mehr zurückhaltenden Gewalt ihre Thränen hervor.

Gibt es einen Schmerz, der tiefer, gibt es Thränen, die bitterer wären, als der Schmerz und die Thränen einer Mutter, die den letzten Abschied von ihren Kindern nimmt?

Sie ließ den Knaben aus ihren Armen, stürzte zu der Thür, wandte sich aber noch einmal zu den Kindern um. „Lebt wohl!“ Sie riß die Thür auf. Sie wollte sich noch einmal umsehen; noch einmal, zum letzten Male sollte ihr Auge die geliebten Wesen erblicken, sie hatte aber die Kraft nicht, es auszuführen, und verließ sogleich die Stube. Einige Minuten später trat die Wärterin der Kinder ein.

„Die Mutter befiehlt, wir sollen in den Garten gehen,“ sagte sie zu der kleinen Agnes.

Sie nahm den Knaben auf den Arm, das kleine Mädchen an die Hand. So verließ sie mit den Kindern die Stube, aber alles in der ruhigen, gewöhnlichen Weise. Die Majorin mußte noch die Kraft gehabt haben, ihr in derselben Weise den Befehl zu ertheilen.

Es war nur wenige Augenblicke leer in dem Zimmer, das so lange, und doch nur so kurze Zeit die freundliche, glückliche Mutter- und Kinderstube gewesen war. Die Mutter kehrte bald darauf allein, aber gefaßter als vorher, zurück. Ihr Gesicht war zwar bleicher geworden; denn der Schmerz und die Gewalt, die sie sich anthun mußte, hatten den letzten Blutstropfen darin verzehrt; aber die Muskeln zuckten nicht mehr auf, und das Auge blickte sogar mild. Sie stellte sich vor die Decke, auf der die Kinder gespielt hatten, und sah lange still auf den leeren Platz. Manchmal bewegte sich ihr Körper wohl vorwärts, als wenn sie niederknieen, als wenn sie mit ihren Küssen und ihren Thränen die Stelle bedecken wolle, auf der so oft, zuletzt noch vor wenigen Minuten, die Kinder gesessen, gespielt hatten; aber sie versagte es sich, oder wollte sie dem aufregenden Schmerze keine neue Nahrung geben? Sie vernahm Schritte, die sich der Stube näherten, und erschrak für den Augenblick.

„Herr, stärke mich!“ betete sie, die Augen zum Himmel gerichtet; dann ging sie zur Thür.

Ihr Mann trat ein. Er stand mit heiterer Stirn vor ihr. Die Gensd’armen hatten die Umgebung des Schlosses wieder verlassen, und nach den Nachrichten, die er eingezogen, keine Verhaftung bewirkt. Der Abgesandte seiner Freunde war also nicht ergriffen.

„Du hast mich verlangt, Marie?“

Sie nahm seine Hand, und führte ihn zu dem Sopha, das in dem Zimmer stand. Ihre Hand zitterte, wenn auch nur leise. Er warf erschrocken einen Blick auf ihr Gesicht.

„Du zitterst, Marie, Du bist so blaß; fehlt Dir etwas?“

„Es wird vorübergehen, Hermann; setze Dich zu mir.“

„Aber was fehlt Dir? Dieser ungewöhnliche Ernst –“

„Findest Du mich wirklich so verändert?“

Sie sah ihn mit ihren schönen Augen mild und liebend an.

„Dein Blick ist derselbe,“ sagte er; „und so lange er mir Liebe und Glück bringt, bist Du keine Andere.“

„Du liebst mich also, Hermann?“

„Wie fragst Du?“

„Noch immer? Noch immer heute, wie je vorher?“

„Heute und immer; immer, ewig!“

„O, sage es mir noch einmal, daß Du mich liebst; nur heute, nur jetzt noch liebst, mit Deiner alten, Deiner besten, mit der vollsten Liebe Deines Herzens!“

„Kannst Du daran zweifeln, Marie?“

„O, sage es mir, ich möchte es noch einmal hören, von Deinen Lippen, in Deinen Armen, an Deinem Herzen!“

„Ja, Marie,“ sagte der Major mit dem innigsten, heiligsten Tone der Liebe, „ja, ich liebe Dich, wie ich Dich je geliebt habe; mit meiner vollsten Liebe, Dich über Alles!“

Er schlang seine Arme um sie, drückte ihr Herz an das seinige, seine Lippen auf ihre Lippen. Sie erwiederte seine Umarmung, seinen Druck, seine Küsse. Nachdem sie lange so an dem edlen, treuen Herzen geruhet hatte, entwand sie sich plötzlich seinen Armen und warf ihm einen dankbaren, glücklichen Blick zu; es war ein Blick der höchsten Seligkeit, der reinsten Liebe.

„Auch das ist vorbei,“ sagte sie dann leise für sich; „die letzte Sekunde meines Glücks. Jetzt habe ich Abschied genommen von Allem im Leben, von dem Leben.“

Sie verließ die Seite ihres Mannes. Sie setzte sich, entfernt von ihm, in die andere Ecke des Sopha’s. Er sah sie darüber erstaunt, verwundert an, und wollte ihr folgen, aber sie wehrte ihn mit der Hand zurück.

„Ich bitte Dich, Hermann, nahe mir nicht.“

Wiederholt schaute er sie beunruhigt an; aber sein Blick traf in einen klaren, würdevollen, feierlichen und doch innig bittenden Blick. Er folgte ihr deshalb nicht.

„Hermann,“ sagte sie, „was Du auch jetzt von mir hören wirst, höre mir ruhig zu; und dann, das ist meine letzte Bitte an Dich, versuche nicht, mich überreden, von meinem Entschlusse abbringen zu wollen, der unwiderruflich in mir feststeht.“

Der Major erschrak.

„Um des Himmels willen, Marie, was ist geschehen?“

„Du sollst es in wenigen Worten, ohne Vorbereitung, erfahren; ich will Dich, ich will mich nicht länger martern. Hermann, ich bin eine Betrügerin; Deine Marie starb: ich bin die verworfene, die entehrte Antoinette, eine gemeine Verbrecherin.“

Die Frau hatte einen unbegreiflichen Reichthum von Kraft. Sie hatte ihre ganze Kraft zusammengenommen, und die entsetzlichen, vernichtenden Worte ruhig, klar, ohne Versagen ihrer Stimme, ohne Beben ihrer Lippen aussprechen können. Der starke Mann neben ihr war nicht so kräftig; er war an die Lehne des Stuhles zurückgesunken. Sein ganzer Körper zitterte convulsivisch, sein Gesicht war mit der Blässe des Todes überzogen: die Augen irrten und starrten umher, als ob die Nacht des Todes sie bedecke; er war sich keines Wortes mächtig. Dieser Anblick traf die Frau erschütternd; er schien ihre Kraft zu lahmen, zu zerstören.

„Hermann,“ rief sie in tödtlicher Angst. Sie wollte zu ihm stürzen, aber ihre Kraft, ihre Gewalt über sich kehrte zurück. Sie blieb an ihrer Stelle. „Hermann,“ setzte sie mild, beruhigend hinzu, „Hermann, edler Mann, fasse Dich!“

Ein so kräftiger Mann, wie der Major, mußte sich bald erholen, wenn auch nur nach und nach.

„Marie,“ entgegnete er, mit noch zitternder Stimme, aber gefaßter, „erzähle mir, sage mir Alles.“ Aber unmittelbar darauf fuhr er fort: „doch nein, erzähle mir nichts; Du kannst es nicht, und ich würde es nicht anhören können; überdies weiß ich ja auch schon Alles. Aber schenke mir einige Minuten Geduld, daß ich [61] zur Besinnung komme! Das war ein harter Schlag!“ Dann stand er auf, ging in dem Zimmer auf und ab, um seine volle Fassung, die volle Klarheit des Geistes wieder zu gewinnen. Die unglückliche Frau blieb mit verhülltem Gesichte auf dem Sopha sitzen. Gefaßter nahete er sich ihr wieder, trat vor sie hin und sagte ernst, aber gütig:

„Marie, laß uns mit Ruhe und Besonnenheit unsere Lage betrachten, um dann eben so besonnen überlegen zu können, was zu thun ist.“ Nach diesen Worten schluchzte sie heftig auf unter dem Tuche, das ihr Gesicht verbarg.

„Du hast noch Güte, noch eine freundliche Stimme für mich?“ rief sie fragend. „Aber darf ich noch so zu Dir sprechen? Darf ich Dich noch „Du“ nennen? Darf ich den theuern Namen Hermann noch aussprechen?“

„Marie,“ fuhr er mit seiner Ruhe und Güte fort, „wir wollen uns diesen Augenblick nicht anders als für ein paar unglückliche, sehr unglückliche Gatten ansehen, die gemeinsam ihr hartes Schicksal überlegen.“

„O, wie verdiene ich das?“ Sie verhüllte ihr Gesicht, trocknete ihre Thränen. „Sprich,“ sagte sie dann, „frage, fordere Alles.“

„Die Vergangenheit,“ erwiederte der Major, „errathe und kenne ich; nur über die Gegenwart und Zukunft gestatte mir einige Fragen: was hat Dich veranlaßt, mir gerade heute diese fürchterliche Entdeckung zu machen?“

Sie erhob sich, ging an den Tisch, auf welchem noch das Zeitungsblatt lag, das er ihr gebracht hatte, übergab und zeigte ihm dann die Stelle über Gregoire Lauterbach. Er las sie.

„Antoinettens, Dein Verführer?“ rief er.

„Ja, mein Verführer; aber auch der Mann, dem ich freiwillig Jahre lang folgte. Nach den Gesetzen war er dem Tode verfallen und ich hatte ihn für todt gehalten, als ich hierher kam, und war bis zu dieser Stunde von seinem Tode überzeugt, bis Du mir heute dieses Blatt brachtest. Für mein Kind übernahm ich die Rolle meiner Schwester und begann den Betrug, den ich enden wollte, wenn die Zukunft desselben gesichert war – um meines Kindes willen allein. Ach, ich ahnete nicht, daß die Liebe [62] hinzutreten würde! Wie schlecht, welch’ eine elende, verworfene Verbrecherin bin ich nun, daß ich bis jetzt, bis zu einer solchen Veranlassung diese Rolle spielen konnte!“

„Und nun,“ fragte der Major weiter, „was war Dein Vorsatz für die Zukunft?“

„Habe ich eine Wahl? Ich verlasse Dich, verlasse Dich noch heute, in demselben Moment, in welchem Du mir noch zwei Bitten gewährt haben wirst.“

„Sprich sie aus.“

„Bleibe der Beschützer, der Vater meiner Agnes, und dann gib mir Deine Verzeihung.“

Sie hatte nur unter dem heftigsten Aufweinen die Bitten aussprechen können, und war dabei auf das Sopha zurückgesunken. Der Major antwortete ihr nicht gleich, sondern schritt wieder im Zimmer umher und suchte nach einem Entschlusse. Jetzt trat er zu ihr; ein fester Entschluß leuchtete aus seinen Blicken.

„Marie,“ sagte er –

Sie hatte bisher den Namen ohne Widerspruch angehört; die Gewohnheit hatte sie wohl in den ersten Augenblicken nicht zum Nachdenken darüber gelangen lassen. Der Entschluß, den sie in seinem Auge las, führte ihr dieses Nachdenken herbei.

„Nicht Marie,“ entgegnete sie, „entweihe den Namen nicht!“

Diese wenigen Worte erschütterten den starken Mann und seinen Entschluß.

„O, mein Gott!“ rief er, wandte sich wieder um und durchmaß die Stube, von neuem nach einem Entschlusse suchend. Denselben gefunden, kehrte er nochmals zu dem Sopha zurück. „Ich kann nicht anders, Marie,“ setzte er kleinlaut hinzu, „ich habe Alles, mein ganzes Innere geprüft, Deine und meine Lage ruhig überlegt; im Geiste das edle Herz, den klaren Verstand meiner Mutter gefragt; meinen Stolz, ja sogar meine Ehre erforscht; aber ich kann nicht anders, Marie! Nun beantworte mir nur noch eine Frage: hat jener Mensch Rechte an Dich?“

„Er ist mein Verführer, der Vater meines Kindes.“

„Hat er gesetzliche Rechte? Ist er Dein Mann?“

„Nein!“

„Wohlan, Marie, so bleibst Du mein!“

Sie sprang auf. „Nein, Hermann, –“

„Entscheide jetzt nicht, Du hast einen kräftigen Geist, der Schlag mußte Dich dennoch zu stark treffen; Du siehst noch nicht klar.“

„Auch Dich hat er getroffen, Hermann, auch Du –“

„Ich bin ein Mann; höre mich weiter –.“

„Höre vorher mich, Hermann, ich habe Dir noch nicht Alles gesagt; ich wollte Dir die Schmach einer Nachricht, vielleicht den Anblick jenes entsetzlichen Menschen ersparen. Gregoire ist hier; vor einer halben Stunde war er bei mir, hier, in diesem Zimmer, mit schmachvollen Anträgen, mit furchtbaren Drohungen, gar gegen Dich, gegen Deine Ehre, gegen Dein Leben.“

Die Nachricht schien den Entschluß des Majors nicht erschüttern zu können.

„Ich fürchte den Elenden nicht,“ sagte er, „und auch Du wirst ihn keinen Augenblick wieder zu fürchten haben. Höre nun mich weiter.“ Sie ließ ihn nicht weiter reden.

„Nein, Hermann, ich weiß Alles, was Du mir sagen kannst, und will auch glauben, daß Du Dich nicht täuschest, selbst für die Zukunft nicht; aber ich kann nicht, mein Entschluß steht unerschütterlich fest.“

„Du mußt mich hören, Marie, –“

„Ich kann nicht!“

„Um Deiner Kinder willen!“

„Auch für sie nicht; ich weiß, daß Du sie nicht verlassen wirst, Beide nicht!“

„Marie, um meinetwillen denn; willst Du mich völlig unglücklich machen? Beantworte mir nur noch eine Frage: Hast Du mich je geliebt? Liebst Du mich noch?“

Er sprach diese Worte mit dem Tone der innigsten, der wahrsten Liebe. Konnten sie den Eindruck auf das Herz verfehlen, das ihn so innig und wahr liebte?

„Ja, Hermann,“ rief sie, „ich liebe Dich, habe Dich schon von dem Augenblicke an geliebt, als ich Dein Herz erkannte, und ich erkannte es ja gleich in dem ersten Blicke Deines Auges, dem ersten Tone Deiner Stimme! O, glaube mir, Hermann, zweifle nicht an meiner Liebe; aber gerade darum muß ich von Dir scheiden. Hätte diese Liebe mich nicht verzehren müssen, wenn Du mich nicht wieder geliebt hättest? Und kann Dein Herz noch Liebe zu der Betrügerin, der Verbrecherin fühlen?“

„Zu Dir immer, Marie!“

„Nein, nein! Schon bisher hast Du ja mich nicht geliebt, nur die todte Marie; nur durch Selbsttäuschung, durch gewaltsame Selbsttäuschung konnte ich glücklich werden, wenn ich vergaß, daß ich nicht die war, der eigentlich Deine Liebe galt. Und wie gern täuschte ich mich so! Wie war diese Täuschung mir zum Bedürfniß, zur Gewohnheit geworden! – Es ist vorbei, für immer vorbei!“

„Marie,“ entgegnete er, „täuschest Du Dich jetzt nicht? Wen habe ich denn geliebt seit anderthalb Jahren? Wen habe ich mit meinen Armen umfangen, an mein Herz gedrückt, auf meinen Knien geschaukelt? Von wessen Lippen hat das Wort der Liebe in den süßesten Tönen derselben mein Herz mit Glück, mit Seligkeit erfüllt? Wessen edlen, kräftigen Geist habe ich bewundert? Wessen schönes, großes Herz habe ich angebetet? War es nicht immer Du und nur Du?“

„Als Maske der Todten!“ setzte sie hinzu.

„Aber die Maske ist abgefallen, und Du bist doch dieselbe, geblieben; nur dasselbe Herz, denselben Geist, wie sie jetzt sind, habe ich geliebt; nichts ist anders in mir geworden, Du selbst warst Deine Maske; Du stehst nun ohne sie da, wie Du mit ihr warst.“

„Das sind Sophismen, Hermann.“

„Das sind Sophismen der Liebe, ja, Marie oder Antoinette, der Liebe, die nicht von Dir lassen kann. Du hast Recht; Marie bist Du nicht mehr, Marie ist todt; die schöne, edle, gute, von mir so innig geliebte Marie ist todt; mein Herz kann nur noch die Trauer der Liebe für sie haben; es wird sie ewig bewahren. Ewig und ungeschwächt neben dem Glücke der Liebe für die Schwester der Todten, für meine Gattin, für die Mutter meines Kindes, für die, die ich nur –“

Sie unterbrach ihn mit fester Stimme.

„Hermann,“ sagte sie bittend, „erschwere Dir und mir nicht die letzten Augenblicke, die wir noch beisammen sind, beisammen sein können. Du liebst mich, ich weiß es, aber wir müssen uns dennoch trennen, mögen Dein Herz und Deine Liebe Dir zureden, was sie wollen; nur eins bleibt bestehen, und Dein Geist muß es Dir in jedem Momente des klaren Schauens zeigen: ich bin eine Verbrecherin, ich habe Dich in dem Heiligsten betrogen, was der Mensch hat, und eine Verbrecherin kann, darf Dein Herz nicht lieben; könnte es, dürfte es aber auch, ich könnte und dürfte nie an diese Liebe glauben; ein Wölkchen auf Deiner Stirn, ein trüber Blick Deines Auges würde mir ihr Ende verkünden, und mein Leben wäre dann eine ununterbrochene Qual, eine ewige unerträgliche Pein! Spare daher jedes fernere Wort, mein guter, mein edler Hermann! Ein schweres, aber kein unersetzliches Unglück hat Dich betroffen; um so mehr mußt Du starker Mann es tragen. In unserem Kinde, dem lieben Friedrich, blühet Dir ein neues Glück; laß darum auch meine Agnes eine Knospe in dieser Blüthe sein. Jetzt müssen wir scheiden, auf der Stelle, um unserer Aller willen. So lebe denn wohl! Meine beiden Bitten, die ich vorhin aussprach, hast Du mir schon gewährt; ein so braver, edler Mann, wie Du, wird mein armes Kind nicht verlassen. Und Deine Verzeihung lag in Deinen Worten. Habe Dank dafür, Dank für alle Deine Liebe, Deine Güte. Lebe wohl!“

Sie hatte auch jetzt die Kraft, mit ihrer schönen, klaren Milde zu sprechen, und ihm die Hand zum Abschiede zu reichen. – Noch machte der Major einen Versuch.

„Marie, Antoinette,“ rief er, „wenn Du vor anderthalb Jahren als Antoinette zu mir gekommen wärst, mir den Sterbegruß Mariens gebracht, und Dich und Dein Kind in meinen Schutz gegeben hättest, hätten sich nicht auch dann unsere Herzen gefunden? Du hast das heute gethan –“

„Sie hätten sich gefunden,“ unterbrach sie ihn mit einem schweren Seufzer. „Das war mein Verbrechen, daß ich es nicht that; daß ich es erst heute gethan habe, dafür muß ich büßen. Ich wäre glücklich geworden für immer, und hätte Dich nicht unglücklich gemacht, daß Du Armer nun mit mir büßen mußt, für mein Verbrechen. Aber ist auch nicht das ein Fluch des Verbrechens, daß auch Andere mit darunter leiden müssen! – Lebe wohl!“

Sie wand ihre Hand, die er noch immer gefaßt hielt, aus der seinigen; er wollte sie gewaltsam an sein Herz drücken; sie sah ihn flehend an.

[63] „Hermann, ich bin ein schwaches Weib; laß mich! Folge mir nicht!“

Er ließ sie los, sie stürzte zur Thür.

„Marie,“ rief er ihr nach, „meine Geliebte, mein Weib!“

Sie hatte die Thür schon aufgerissen. „Marie, noch ein Wort: was ist Dein Entschluß? Begehe kein Verbrechen, keine –“

Er wagte nicht, das Wort auszusprechen; aber sie hatte seine Gedanken schon errathen.

„Nein,“ entgegnete sie, „fürchte nichts, ich gehe an einen stillen Ort, um meine Tage im Gebete zu beschließen, im Gebete für Dich, für meine Kinder, für meine Vergebung im anderen Leben.“

Sie zog die Thür hinter sich zu, und verschwand in dem auf sie im Hofe wartenden Wagen, den sie schon vorher bestellt hatte, fuhr darin nach Holzminden, und von dort war sie in der Nacht mit der Post weiter gereist. In dem Augenblicke, als sie den Schloßhof verließ, war von der andern Seite die Generalin mit ihrer Nichte auf denselben gefahren; die unglückliche Frau hatte Beide nicht mehr gesehen.




Anderthalb Jahre später rief der König Friedrich Wilhelm III. seine Getreuen zu den Fahnen. Der Major von Rixleben war einer der ersten, die dem Rufe folgten; der König vertraute ihm den Befehl eines Regimentes an. Der Erste in allen Kämpfen mit den Franzosen, fand er, was er suchte – den Tod auf dem Felde der Ehre.

Etwa ein halbes Jahr nach seinem Tode traf auf dem Schlosse Harthausen ein Schreiben der Vorsteherin des Annunciatenklosters in Würzburg mit der Nachricht ein, daß die fromme Schwester Magdalena, des weltlichen Namens Maria Antoinette Andreä, schon lange an der Auszehrung krank, selig dem Herrn entschlafen sei, und in ihr letztes Gebet alle ihre Lieben auf Schloß Harthausen eingeschlossen habe.



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: ununmittelbar