Tractate für die Seelsorge (Wilhelm Löhe)
Man hat neuerdings öfters die Frage aufgeworfen: ob nicht die Zeit für religiöse Tractate vorüber sei. Die Frage hüllt nicht bloß einen Zweifel, sondern die Neigung ein, zu glauben, die Zeit sei wirklich vorüber. Zweifel aber und Neigung, das zu glauben, finden ihren Grund in der Vergleichung der Gegenwart mit der Vergangenheit, des gegenwärtigen Tractatenvertriebs mit dem in früherer Zeit. Es ist auch gar keine Frage, daß es mit der Tractatenverbreitung vor ein paar Jahrzehenten eine andere Sache war, als jezt. Nicht bloß streute man damals die Tractate in Haufen aus, dem lieben Gott vertrauend, daß er sie von den rechten Leuten schon werde finden laßen; sondern es wurden auch wirklich mehr Tractate gelesen. Es war damals nach einer Zeit des Unglaubens und der Lauheit durch Gottes Barmherzigkeit eine günstige Wendung eingetreten; wenn auch keine Sturmflut der Gnaden, so war doch über unser Vaterland eine Wolke der Barmherzigkeit gekommen, die hie und da milden Regen gab; es ereigneten sich an vielen Orten Erwekungen und neues Leben. Um dieses neue Leben recht vielen Menschen mitzuteilen, schrieb man Tractate, die daher auch sämmtlich oder doch dem bei weitem grösten Teile nach nur für Anfangszustände des geistlichen Lebens anwendbar sind und bleiben. Da nun diese Zeit der Erwekung allmählig vorübergieng, so ist es kein Wunder wenn die Tractate, welche damals entstanden, allmählig den Eindruck verloren, den sie zuerst gemacht hatten, und weniger gesucht wurden. Es ist auch gar nicht nötig, darüber sehr zu trauern. Wer kann es auch leugnen, daß dazumal ein Haufe Tractate dienlich sein konnte, der seiner Form nach bald vergeßen sein durfte. Was damit geschehen sollte, ist geschehen; dafür bleibt doch immer Gott zu danken; auch hat sich ja doch aus dem großen Haufen der Tractate eine Anzal durch Form und Inhalt so sehr empfohlen, daß ihnen vielleicht für lange noch Leben und Wirksamkeit gesichert ist. Wenn aber auch alle Tractate, welche die Zeit gebracht hat, von ihr wieder zu Grabe getragen würden, so wird man doch behaupten dürfen, daß zu jeder Zeit Tractate dem Reiche Gottes dienen können, wenn sie in rechter Weise dem Bedürfnis der Zeit dienen. Die Kinder der Finsternis, die in ihrem Geschlecht klüger zu sein pflegen, als die Kinder des Lichtes, wißen das wol. Wir haben es erlebt, was in den lezten Jahren Napoleonische Tractate auszurichten vermochten. Würden auch wir auf gleiche Weise jederzeit den Punkt treffen, für welchen die Menschen empfänglich sind, so würden unsere Tractate Anklang und Wirkung genug finden. Werden auch religiöse Schriften niemals die Massen ergreifen, weil die Religion keine Sache der Massen ist, so werden sie doch in ihrem Maße ohne Zweifel nüzen und durch sie mancher suchenden Seele vortreffliche Dienste geleistet werden. Es liegt hierin Ermunterung genug für diejenigen, welche Lust zur Verbreitung von Tractaten haben.
| Man könnte dabei die Frage aufwerfen, ob der Tractat immer nur der Zeit dienen müße, um Anklang zu finden, ob es nicht in der Kirche gewisse Bedürfnisse gebe, die allezeit vorhanden sind und vorhanden sein müßen, und ob es also nicht auch Tractate geben könne, die unabhängiger von der Strömung der Zeit der Kirche ihren Nuzen bringen. Vielleicht darf man diese Frage bejahen. Oder wird man nicht allezeit taufen, nicht allezeit confirmieren, nicht allezeit beichten und Abendmahl halten, nicht allezeit freien und sich freien laßen, einen Haushalt aufrichten, einen Haushalt niederlegen, kranken und siechen und sterben? Schließt sich aber nicht an alles das ein Kreis von Bedürfnissen, von pastoralen Fragen, von Gewißensbedenken an, und ist es also nicht ein anerkennenswerter Vorsaz, diesen Bedürfnissen mit Tractaten entgegen zu kommen? Sagt man dagegen, daß die Gemeinden zur Stillung solcher Bedürfnisse ihre Pfarrer hätten, so kann man darauf antworten, daß die Zeit nicht sehr kirchlich sei, daß manche Gemeinde keinen Pfarrer habe, zu dem sie sich Rates und Lichtes versehen könnte, daß die meisten Gemeindeglieder träge seien zu fragen, auch wenn sie es sehr nötig haben, daß sie häufig für den persönlichen Besuch der Pfarrer unzugänglich seien, daß mancher einen kurzen Tractat leichter zulaßen werde, als den Besuch des Pfarrers, daß es im Interesse der Pfarrer und ihrer Seelsorge selbst liegt, ihren persönlichen Belehrungen und Zusprachen durch ein schriftliches Wort nachzuhelfen, dadurch der Schwachheit des Gedächtnisses und der Auffaßung, der Vergeßlichkeit u. s. w. zu steuern. Wenn ich mir z. B. denke, daß ich den Brautleuten, den Wöchnerinnen, den Pathen etc. dasjenige, was ihnen nüzen kann und was ich ihnen zu sagen habe, durch einen Tractat eindringlicher machen kann; so ist das wenigstens für mich Seelsorger eine lokende Aussicht. Die deutsche christliche Volksliteratur ist in der neueren Zeit ein ganzes Meer geworden. Wer sich davon überzeugen will, der blättere nur einmal den, vom evangelischen Schriftenverein für Rheinland und Westphalen herausgegebenen „Praktischen Wegweiser durch die deutschen Volks- und Jugendschriften von Karl Bernhardi“ (Leipzig 1852) sammt Nachtrag 1856 durch. Oder noch einfacher, er sehe sich die im Rauhen Hause bereits 1852 erschienene „Kritische Musterung der Tractate deutsch-evangelischer Gesellschaften“ von F. A. Löwe an. Ist auch von diesen Schriften keine vollständig zu nennen, so geben sie doch einen Blik in das Vorhandene, der nur um so überraschender wirken wird, wenn man sich denkt, daß die Fülle der vorhandenen Tractate durch diese Bücher keineswegs ihre Grenzen gefunden hat. Aus denselbigen Büchern kann man sich aber auch überzeugen, daß eigentlich seelsorgerische Tractate nur ganz wenige vorhanden sind, daß nur selten einer für die dauernden Bedürfnisse der Kirche geschrieben ist. Gewis, daß die Seelsorge, ja die gesammte Amtswirksamkeit der Pfarrer durch seelsorgerische Tractate sehr unterstüzt werden könnte, hat es daher der Unterzeichnete den Versuches wert gehalten, eine Reihe von seelsorgerischen Tractaten ins Leben zu rufen. Bereits sind zwei Serien in der Sebaldischen Verlagshandlung zu Nürnberg erschienen. Die Serie wird nach der Seiten- und Bogenzal berechnet und im Partiepreis je zu 6 kr., einzeln zu 9 kr. verkauft. Die erste Serie enthält fünf kurze Tractate: 1. Guter Rath für Eltern, die auf die Geburt eines Kindes warten. 2. Trost für Eltern über todt geborene Kinder. 3. Auf was sollen die Eltern und Pathen bei der Taufe ihrer Kinder wol achten? 4. Timotheus. Eine Ermahnung an die Eltern, ihre Kinder von Jugend auf die heilige Schrift zu lehren, und an die Kinder, sie von Jugend auf zu lernen. 5. Tägliche Erneuerung des Taufbundes. – Nr. 1 hat zwölf Seiten, Nr. 2 acht, Nr. 3 zwölf, Nr. 4 elf und Nr. 5 zwanzig. Die ganze Serie beträgt also 63 Seiten und kostet in Summa 6 kr., ein Preis, der gewis gering genug ist. Die zweite Serie umfaßt nur einen Tractat, der aber allein so umfangreich ist, wie die vorigen fünfe, und eine Wiederholung des sacramentlichen Teiles des Confirmandenunterrichtes gibt. Die ferneren Tractate befleißigen sich möglichst der Kürze, sezen voraus, daß sie von einem Seelsorger oder einem andern christlichen Freunde mündlich eingeführt und bevorwortet oder auch mit einem Nachwort versehen werden. Wenn man den Vergleich nicht scheuen würde, könnte man sagen, sie verhalten sich zum mündlichen Gespräche wie das Compendium zu dem mündlichen Vortrag von gleichem Inhalt, den ein Professor hält. Es liegt im Plan des Verfaßers, für alle im Leben wiederkehrenden seelsorgerischen Zustände und Verhältnisse die entsprechende schriftliche Belehrung oder Anweisung zu geben. Könnte der Plan bis zu Ende durchgeführt werden, so würde eine Art von Seelenapotheke entstehen, aus welcher dem einzelnen Christen für jeden Fall die nötige Arzenei verabreicht werden könnte. Tractate für Jedermann, Tractate zum ausstreuen gäbe das allerdings nicht. Sie verlangen, wie eine Apotheke, einen weisen Arzt oder geschikten Apotheker; sie warten auf die Hand seelsorgerischer Liebe und Weisheit. Wären sie jedoch, was sie sein sollten, so wäre das für sie keineswegs ein Tadel, sondern ein Lob, weil es gut ist, wenn einer, der Hilfe oder geistliches Almosen oder geistliche Arzenei darreicht, sich besinnen muß, was er thut.Indem nun der Verfaßer seinen Plan hiemit bekannt macht, empfiehlt er ihn der Prüfung einsichtsvoller Pfarrer und Christen. Es wird sich ohne Zweifel bald zeigen, welche von den Tractaten ihren Dienst thun und welche nicht. Es könnte sich vielleicht auch erweisen, daß der ganze Plan wertlos wäre, wiewol es dem Verfaßer dieser Tractate unvermutet kommen würde. Möge nun die Zukunft herausstellen, was es sei, so wird doch dem Unterzeichneten so viel gutes Gewißen bleiben, als im Bewustsein liegt, nichts anderes gewollt zu haben, als das gemeine Beste.
Neuendettelsau, den 21. Juli 1860.