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Autor: Fr. Hofmann
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Titel: Tief unter der Erde!
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aus: Die Gartenlaube, Heft 29, S. 461–464
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1867
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Grubenunglück in Lugau
Folgeartikel in Gartenlaube 1872, H. 32
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Tief unter der Erde!
Brief aus Lugau.


„Hoffnungslos verloren!“ Das ist die Antwort auf der Neufundgrube bei dem Dorfe Lugau in Sachsen, wenn wir nach den einhundert und zwei Bergleuten fragen, die am Morgen des ersten Juli dort durch einen Schachtbruch verschüttet worden sind.

Man kann es von der lieblichen Landschaft schwer glauben, daß sie so gräßliches Unglück bedeckt. Recht den Menschen zum Wohlgefallen ist das langgestreckte Thal gemacht, auf das wir, von Chemnitz kommend, hinabsehen. Grünes, freundliches Hügelland, mit Nadelholzgruppen und Weiherspiegeln geschmückt und von ferneren Waldhöhen begrenzt, ist die Heimath von Bauern und Bergleuten, denen der Reichthum unter dem Boden die geringere Fruchtbarkeit der Oberfläche ersetzt, oder ersetzen könnte, wenn die menschlichen Einrichtungen dies überall zuließen. Lugau gehört zu dem großen Zwickauer Steinkohlenbecken und ist durch den Kohlenbergbau aus einem gewöhnlichen Ackerbauerdorf ein stattlicher Ort mit allem Schein des Wohlstandes geworden, wegen seiner Kohlenschätze durch eine Eisenbahn mit aller Welt verbunden.

Aber wer fragt heute danach! Unser Auge sucht nur den einen der vielen ringsum mit Schachtgebäuden gekrönten Hügel, ihm gehört unsere ganze Theilnahme.

Ich ging von Lugau der Bahn entlang, welche am Karlsschacht und Gottessegenschacht vorüber zu dem Orte unsäglichen Jammers führt. Das Unglück lastet so schwer auf allen Herzen, daß kein lächelnder Mund, kein frohblickendes Auge mir begegnete, an so vielen Menschen ich auch vorüberging. Je näher ich dem Hügel kam, der so frischgrün und sanft ansteigt, bedeckt von den dunklen Schachtgebäuden und überragt von der hohen Esse und dem Glockenthürmchen, je lauter das Dröhnen der Werkzeuge an mein Ohr schlug, die dort rastlos am Rettungswerke arbeiten, um so drückender ward mir der Gedanke, daß ich in Gottes Licht über einem Boden wandelte, unter welchem hundert Männer als treue Märtyrer der Arbeit lebendig begraben liegen. Unwillkürlich bohrt die Phantasie durch Erde und Gestein sich den Pfad zum Orte des Grauens, wir sehen die armen Menschen mit den letzten Funken der Lebenshoffnung um ihre Errettung ringen, angstkeuchend dem Lichte entgegenarbeiten! Es ist vielleicht nur eine Erdstrecke, die man in fünf Minuten zurücklegt, zwischen ihnen und dem Leben des Tags! Nur fünf Minuten, und sie sollen die ewige Trennung von ihren Lieben bedeuten! Es ist nicht möglich, den Hügel zu betreten mit anderem, als scheuem Fuß. So betritt man keinen Friedhof mit seinen stillen Gräbern, so kein Schlachtfeld mit seinen Opferzeichen: hier ist Beides vereint – Schlachtfeld und Grab – und alle Schreckniß des Lebendigbegrabenseins dazu!

Und doch befürchtet man ein ganz anderes Bild menschlichen Schmerzes dort zu sehen, als uns wirklich erscheint. Die Gruppen der wimmernden Angehörigen der Verunglückten, von denen die erste Kunde des Schreckens berichtete, sah ich nirgends. Rührige Arbeiter, Bergleute, Schmiede, Zimmerleute, Handlanger, die ihr Herz unablässig noch immer für Rettung antreibt, obwohl ihr Kopf dazu schüttelt, waren umstellt und umwallt von noch immer zahlreichen Zügen Theilnehmender von nah und fern. Nur einzeln schlichen stumme Gestalten, auf deren Antlitz viel Tieferes als nur menschliche Theilnahme sprach, zwischen ihnen, alte Männer, alte Mütterchen; an den Zügen der armen Kinder hatte der erste Schmerz keine Furchen hinterlassen, Gottlob, sie glätten sich noch so leicht! – Aber an jenem Tage des Unglücks, da war es fürchterlich, da riß es Männer nieder, die eigenem Schmerz tyrannisch gebieten können. Haufen um Haufen zogen von allen Thalseiten die Weiber und Kinder und Greise herbei, von Lugau, Oelsnitz, Lungwitz, von Gersdorf, Erlbach, Würschnitz und all’ den Orten, wo die Bergleute dieses Schachtes wohnen. Das Wehgeschrei erfüllte die Luft, Alles drängte zur abgesperrten Unglücksstätte – im Wahnsinn des Schmerzes warfen Mütter und Kinder sich auf den Boden und wühlten die Erde auf, als wenn sie mit ihren blutenden Händen sich hinunter arbeiten wollten zu ihren Männern, ihren Vätern, ihren Söhnen und Brüdern! – Nichts brachte sie von der Unglücksstätte, kein Wort der Hoffnung und des Trostes beruhigte sie, – der Schmerz mußte austoben. Einzeln, allmählich schlichen die wimmernden Häuflein der Familien, [462] der Verwandten und Freunde der öden Heimath zu – und die alltägliche Noth des Lebens, so oft die Klage des armen Volkes, wurde diesmal zum Balsam für die wunden Seelen. Die Arbeit fesselt sie an Haus und Feld und den Schmerz in die Brust.

Wie war ein so ungeheures Unglück möglich? Das ist die erste Frage eines Jeden, der die Schreckenskunde vernahm. Ich aber will lieber erst den Vorgang erzählen; an ihn schließen die Ursachen sich von selbst an.

Am Montag, dem ersten Juli, fuhren zur Tagesschicht früh sechs Uhr die Bergleute der Neufundgrube hinab in die Tiefe. Sie verrichteten wohl ihr Morgengebet so fromm, wie der Ernst ihres Ganges „tief unter die Erde“ Jedem gebot, den nicht der leichte Sinn der Jugend darüber hinwegsetzte; mit sorgenfreiem Herzen soll diese Grube seit längerer Zeit überhaupt nicht befahren worden sein. Aber wer weiß, ob gerade heute Einem der hundert kräftigen Männer und Jünglinge beim Betreten des Schachthauses der Gedanke gekommen, daß er die Sonne zum letzten Mal gesehen habe. Und doch rieselten die Wasser schon unter ihren Füßen, welche die Wände des Schachts über ihre Häupter zusammenstürzen sollten! Nur vier Bergleute, die am selben Morgen mit ihren Genossen im Schacht eingefahren waren, sind dem Schicksal der Andern entgangen. Einer derselben, der Oberzimmerling Götzold, erzählte mir seinen Antheil an dem furchtbaren Erlebniß einfach und sicherlich mit der Treue, die in seinen offenem Antlitz ausgeprägt ist. Damit aber unsere Leser seiner Erzählung folgen können, muß ich eine kurze Beschreibung des Schachtes vorausschicken.

Der Schacht der Neufundgrube in seinen vier Abtheilungen des Fahr-, Förder-, Kunst- und Wetterschachts hat eine Tiefe von neunhundertdreißig Ellen; der Fahrschacht, d. h. derjenige, in welchem die Bergleute ab- und aufsteigen, ist in achtundfünfzig Bühnen, d. h. Absätze für eine je sechszehn Ellen lange Leiter, abgetheilt. Wenn unser Bergmann von der siebenten, zehnten oder dreiundzwanzigsten Bühne spricht, so meint er damit die Tiefe von 112, 160 oder 368 Ellen. Im Förderschacht gehen die Tonnen an Drahtseilen auf und ab, und der Kunstschacht ist der Raum für das Kunstgestänge, d. h. das Wasserhebungszeug; für beide arbeitet die Dampfmaschine. Der Förderschacht wird auch zum An- und Auffahren von Personen benutzt, namentlich von den Aufsehern und ihren Beauftragten, soll aber hier, bei der Beschwerlichkeit und dem Zeitraubenden des Anfahrens der Arbeiter auf den Leitern oft auch für diese benutzt worden sein und ist in diesem Augenblick der Zugangsort zu allen Rettungsarbeiten.

Bei der siebenundvierzigsten Bühne, also in einer Tiefe von 736 Ellen, ist ein Querschlag nach dem Kohlenflötz hingetrieben, welcher der „obere Querschlag“ heißt und mit welchem alle tiefer gehenden Steig- und Strichörter in Verbindung stehen.

Es ist schwer, mit Hülfe der bloßen Zahl sich ein Bild von der Tiefe dieses Schachtes zu machen, es hilft uns auch nicht viel, wenn wir sagen, daß er vier Male tiefer war, als der Wiener Stephansthurm hoch ist. Der Leser wird ganz andere Achtung vor diesem Abgrund bekommen, wenn er erfährt, daß die Bergleute eine volle halbe Stunde von Sprosse zu Sprosse ihrer achtundfünfzig Leitern niederzusteigen hatten, um zu ihrem Tagewerk in der Tiefe zu gelangen; das Heraufsteigen nahm sogar dreiviertel Stunden in Anspruch.

So tief sind die hundert Männer begraben!

Oberzimmerling Götzold erzählte mir nun, daß er noch am Sonntag den Schacht gut gefunden habe, daß ihm da wenigstens kein Anzeichen von irgend welcher Gefahr aufgestoßen sei. Am Montag früh sei er mit der übrigen Mannschaft angefahren. Um etwa halb acht Uhr sei Steiger Krüger unten angekommen und habe ihm mitgetheilt, daß es ihm geschienen, als ob bei seinem Herabfahren im Förderschacht an der zehnten Bühne das Fahrgestänge „strenge gegangen“ sei. Er beauftragte Götzold, sofort mit zwei anderen Zimmerlingen auszufahren, die Schachtstelle bei der zehnten Bühne genau zu untersuchen, dem Director der Grube, Müller, alsbald Meldung zu machen und dann ihm selbst sein Frühstück mitzubringen und ihm im oberen Querschlag zu geben. So wenig dachte dieser Mann selbst an die Nähe der äußersten Gefahr, daß er sein Leben ihr so sorglos aussetzte, wie das seiner Arbeiter! Götzold fand die bezeichnete Stelle schon bedeutend verschlimmert (die Zimmerung noch weiter ausgebaucht), konnte aber das „Gestelle“ noch durchbringen und eilte mit dieser Nachricht zum Director. Dieser befahl ihm, mit seinen Genossen zur Untersuchung und entsprechenden Ausbesserung des Schadens nochmals einzufahren. Götzold gehorchte, allein bei der zehnten Bühne blieb nun das Gestelle sitzen. Kaum hatte er das Halt-Signal (ein Glockenschlag) gegeben, so bemerkte er, daß die Zimmerung sich bereits verschoben hatte und gleich darauf in Bewegung gerieth. Er konnte nur noch „Rettet euch! Rettet euch!“ in die Schachttiefe rufen und den nebenan im Kunstschacht beschäftigten Kunstwärter auf die Gefahr aufmerksam machen, – jeder andere Rettungsversuch war unmöglich, und die vier Männer vermochten aus dem schauerlichen Bereich sich selbst nur dadurch zu retten, daß sie theils am Drahtseil, theils am Signalschlagzeug, theils an den Steigröhren der Drucksätze (des Wasserhebungsapparats) emporkletterten bis zur siebenten Bühne, wo der Schacht noch gesund in Zimmerung stand.

Diesen Rettungsvorgang erzählt ein anderer Bergmann in der „Zukunft“ ausführlicher so: Götzold und einer seiner Genossen beeilten sich, schnell zur Rettung der Zurückgebliebenen wieder einzufahren, und ließen einen Dritten auf der Leiter zum Signalisiren hinabgehen. Als aber Beide mit dem Gestelle den Punkt erreichten, wo der Bruch hernach stattfand, blieb dasselbe sitzen; sie ließen zum Hinaufholen signalisiren, doch der Maschinenwärter brachte das Gestelle schon nicht mehr vom Flecke, und inzwischen sahen die Zimmerlinge, wie der Schacht neben, unter und über ihnen zusammenging; sie ergriffen das Seil, an welchem das Gestelle eingehängt war, und arbeiteten sich daran bis in die Nähe der sechsten Bühne, wo sie eine Latte erreichten, welche ein in den Fahrschacht führendes Loch verdeckte. Von dort aus nahmen sie ihre Zuflucht in den Fahrschacht. Eine gleiche Gefahr hatte der Signalist, welcher seine Stellung in dem Fahrschacht hatte, zu bestehen. Er sah, wie der Schacht um und neben ihm zusammenbrach, wie ihm ein Tritt der Leiter um den andern unter den Füßen weggerissen ward und die Möglichkeit der Fahrt in die Höhe verschwand. In aller Hast konnte er gerade noch das Signalzeug, welches bis zu Tage geht, mit den Händen packen und sich, den Tod stets vor Augen, auf die siebente Bühne retten. Noch schlimmer erging es dem auf der zehnten Bühne sich befindenden Kunstwärter Kolbe; selbiger sah ebenfalls, wie die Holzwände neben ihm verschwanden, Fahrten und Bühnen unter und über ihm wichen, und wie ein Regen von Einstrichen, Wandruthen, Fahrten, Pfosten, Erde und Steinen über ihn hereinstürzte. Er dachte, sein letztes Stündchen habe geschlagen, hielt es nicht mehr für möglich, sich zu retten; doch in der größten Todesangst erfaßte er das Steigrohr des Drucksatzes, durch den das Wasser aus dem Schacht geschafft wurde, und glücklich kletterte er daran achtundvierzig Ellen in die Höhe, bis er ebenfalls auf die siebente Bühne gelangte. Halb todt stürzte er da hin, und mußte einige Zeit ausruhen, wenn er gleich nicht wußte, ob nicht auch diese Stelle in den Abgrund versenkt würde. Als er sich wieder stark genug fühlte, raffte er seine Kräfte zusammen und kam auf der Fahrt glücklich über Tags, wie die anderen drei Mann.

Während Götzold mit dieser Schreckensnachricht zum Director eilte, erdröhnte plötzlich tief aus der Erde ein langanhaltender dumpfer Donner – der Schacht war zusammenstürzt – das Unglück vollendet.

Es war in der That in diesem Augenblick schon vollendet, wie die Untersuchung des Unheils ergab, wenn auch Hoffnung und Thatkraft nicht daran glauben wollten. Zur ersten Untersuchung fuhr der Director Müller mit Götzold an. Sie fanden von der siebenten bis zur zehnten Bühne, also auf eine Länge von etwa hundert Fuß, eine weite Höhle an der Stelle des Schachts; das aus diesem nicht sofort zu bemessenden (später auf zwölf bis zwanzig Ellen verschiedene Tiefe geschätzten) Raume ausgebrochene Erdreich hatte alle Zimmerung bis zur dreiundzwanzigsten Bühne mit sich hinabgerissen und schien hier, vielleicht durch kreuzweise durcheinander geschobene und von dem Bühnengebälk gehaltene Zimmerungshölzer gestützt, eine Verstopfung zu bilden, unterhalb welcher der übrige Schachtraum noch wohl erhalten sein konnte.

Diese Annahme lag auch den ersten Rettungsversuchen zu Grunde, die jedoch durch den Betriebsdirector des benachbarten Schachts Gottessegen, Kneisel, von dem Augenblick an geleitet wurden, wo Director Müller, man sagt, zu seiner eigenen Sicherheit vor Ausbrüchen des tief gegen ihn aufgeregten Volksunwillens, zur Untersuchungshaft nach Chemnitz abgeführt worden war. Die [463] erste Arbeit mußte auf die Sicherung der Rettungsmannschaft selbst gerichtet sein. Sie bestand in der Verankerung des oberen noch unversehrten Schachttheils von etwa hundertundzwölf Ellen Länge; bis zum Abend des siebenten Juli (Sonntag), wo das Betreten des Schachthauses mir gestattet wurde, waren die ihn haltenden Drahtseile schlaff geblieben, ein Zeichen, daß er bis dahin noch nicht gewichen war. Um den Verschütteten Luft zuzuführen, versuchte man, da Bohrungen nicht zum Ziele führten, auch die Bruchstellen des Schachts sich noch um zwei vermehrten und häufige bedeutende Nachstürze erfolgten, die Verstopfung dadurch zu durchbrechen, daß man mit Steinen beladene schwere Wassertonnen mit möglichster Gewalt hinabließ. Einer der Steiger wagte sogar eine nochmalige Untersuchungsfahrt und versicherte, bis über siebenhundert Ellen Tiefe hinabgekommen zu sein. Da man deshalb die Hoffnung hegte, bis zum oberen Querschlag vorzudringen, so hatte man die mit einem eisernen Dache zum Schutze gegen Nachsturzmassen versehenen Tonnen auch mit Nahrungs- und Labungsmitteln versehen, während oben für die etwa geretteten Kranken und Verwundeten Matratzen und ärztliche Hülfe bereit gehalten wurden.

Das war eine Zeit großer Aufregung für die armen Angehörigen der Verschütteten, die in diesen ersten Tagen noch in Schaaren die Schachtgebäude umlagerten. Tag und Nacht, wie die Rettungsarbeit fortging, hielt die Liebe sie am Ort, und wie lauschten sie den Signalen, sie, denen die sämmtlichen Zeichen des Glöckchens nicht unbekannt waren. Wenn es zum Halt, zum Tiefergehen signalisirte, wie zitterten die erregten Herzen! Wie standen sie lauschend still, wenn zum Emporfahren signalisirt wurde, und wie mochten sie in Schmerz sich zusammenziehen, wenn die sieben Schläge der Gefahr ertönten! Ein einziges kleines Glöckchen, aber welche Sprache redete es zu diesen Unglücklichen in der bangen Nacht und an den schrecklichen Tagen!

Mit einer Aufopferung, einem Muthe, wie kein noch so gepriesener Held ihn auf dem Schlachtfeld größer aufzuwenden braucht, trotzten die tapferen Männer jeder Gefahr, über den ungeheuren Abgrund schwebten sie in ihrer Tonne, umstarrt von wankendem Erdreich, das sie jeden Augenblick mit in die Tiefe reißen konnte. Die Maurer von Postelwitz bei jenem Einsturze an der Elbe, von dem vor einigen Jahren die Gartenlaube Kunde gab, haben ihres Gleichen gefunden, wenn diese armen Bergleute von Lugau nicht noch um Größeres zu bewundern sind.

Und wie groß wäre auch der Preis ihres Sieges! Wie schrecklich bettet der Tod dort Alter und Jugend zusammen! Ein Vater wird bei seinen beiden Söhnen liegen; Väter werden dort erstarren, welchen sechs, sieben, ja zehn Kinder nachweinen; vierzehn junge Männer, die der Tod bei Gitschin und Königsgrätz verschont hat, sind auf diesem „Feld der Ehre“ gefallen! Jeder Ort der Umgegend hat seine Trauer, Neuwiesen und Oberdorf haben je einen, Stollberg und Lungwitz je drei, Oelsnitz und Erlbach je acht, Würschnitz hat fünf, Gersdorf vierundzwanzig und Lugau neunundvierzig Tode in diesem tiefsten Grabe Sachsens zu beklagen. Und wie hat der Zufall, oder, wie das Volk jetzt sagt eine Ahnung Einzelne gerettet, die Andern in den Tod geführt! Etwa fünfzehn Bergleute fuhren an diesem Tage nicht mit an, andere wurden von ihren Frauen beredet, der Arbeit keinen Tag zu entziehen – wie schuldlos sind diese an dem Unglück und wie lastet es nun dennoch auf den Gewissen! Ein junger Mann, der in diesem Schacht schon drei Beinbrüche erlitten, hat auch das große Unglück getheilt, und ein Anderer, der, obwohl krank, durch Daheimbleiben seinen Lohn nicht verkürzen wollte, nahm seine Arzneiflasche mit – zur letzten Schicht.

Denn so ist es nunmehr. Der Menschenkraft trotzt hier spielend mit ihren Kräften die ungeheuere Natur der Tiefe. Die erste Enttäuschung brachte die Wassermasse, welche sich auf der Verstopfungsstelle angesammelt hatte. Sie deutete an, daß die Unglücklichen von jeder Luftverbindung mit oben abgeschnitten seien. Selbst die Rohre des Ventilators fand man durch die Brüche unterbrochen. Da nun die Temperatur in dem tiefen Schacht ohnedies, trotz aller Ventilationsarbeiten, nie unter vierundzwanzig Grad zu bringen war und oft bis auf dreißig Grad stieg, so konnte eine solche Absperrung vom frischen Lebenshauch der Höhe nur im Dienst des Todes stehen. Selbst an labendem Wasser würde es den Verschütteten gefehlt haben, auch wenn Luft ihnen vergönnt gewesen wäre. Einmal gelang es zwar, dem Wasser Abfluß zu verschaffen, aber die Grubendünste, welche aus ihrem Bereiche aufstiegen, waren ebenso wenig hoffnungerweckend, wie die fortwährenden Nachstürze, welche endlich den Lebenden geboten, durch neue Menschenverluste das Unglück nicht noch größer zu machen.

„Die Hoffnung kann man aufgeben, aber die Arbeit nicht!“ Nach diesem Grundsatze ist ein anderer Plan, bis zu den Verschütteten vorzudringen, entworfen und sofort begonnen worden.

Wir müssen den doppelten Umstand voraus bemerken, daß der kühne Steiger Schubart,[WS 1] als er, nach seiner Messung, bis in große Nähe des oberen Querschlags niedergefahren war, wonach ein Niederstürzen der ganzen Verstopfungsmasse in den untersten Schachtraum stattgefunden haben mußte, dennoch kein Lebenszeichen der Verschütteten hervorrufen konnte, trotzdem diese, nach Annahme der Fachmänner, in diesen oberen Querschlag sich nicht nur sämmtlich hätten zusammenfinden können, sondern ohne Zweifel auch dorthin würden geflüchtet haben, und daß endlich spätere Nachforschungen mittels niedergelassener Tonnen den Schacht abermals in der Nähe der dreiundzwanzigsten Bühne verstopft zeigten. Dies Alles sammt den sich mehrenden Nachstürzen bestimmte die nunmehr von der sächsischen Regierung beauftragten Leiter der Rettungsarbeiten im Schacht, die Versuche, vor Allem schnell zu den Verschütteten zu gelangen, aufzugeben und einen zwar langsameren, für die Arbeiter selbst aber weniger gefahrvollen Weg einzuschlagen.

Dieser Beschluß mag hart klingen, vor Allem von den Hinterbliebenen der armen Opfer der Tiefe als niederschmetternde Härte empfunden werden, aber er ist gerechtfertigt durch die Pflicht gegen die Lebenden, sie nicht nutzlos Todesgefahren preiszugeben. Das Wegbleiben der Angehörigen von der Unglücksstelle ist wohl in der Vernichtung ihrer letzten Hoffnung mitbegründet: erst das Auffinden, das Emporziehen der hundert Leichen, wenn sie überhaupt gefunden werden, wird den Schachthügel noch einmal zur Stätte namenlosen Jammers machen.

Man hat beschlossen, zunächst den noch vorhandenen Schachtzimmerbau zu verstärken und das Schachthaus selbst durch mächtige Säulen zu stützen, um es fähig zu machen, die Niederbringung der furchtbaren Lasten auszuhalten, die man ihm nun zumuthen wird. Man will nämlich einen ganzen Eisenschacht in die Tiefe führen, indem man Rohre von starkem Eisenblech, in Einzelstücken von zehn Ellen Länge und einer Elle zwölf Zoll Durchmesser, im Schacht zu Stücken von hundert Ellen Länge zusammenschmiedet und an Drahtseilen hinabläßt, bis man die Tiefe des jetzigen Verfüllungsorts, dreihundertachtundsechszig Ellen, erreicht hat. Dann sollen in diesem Eisenschacht gegen fernere Brüche und Nachstürze des Erdreichs möglichst gesicherte Arbeiter niederfahren und die den Schacht sperrenden Massen zu bewältigen suchen. Zeigt unterhalb der bewältigten Masse der Schacht sich noch gut erhalten, so ist der Zugang zu den Verschütteten geöffnet; ist er auch dort brüchig, so haben die Arbeiten ihr Ende gefunden. Sehr wahrscheinlich ist der ganze untere Schacht bis weit über den oberen Querschlag vollständig ausgefüllt, und dann bleibt nichts übrig, als auch die Leichen nunmehr der Erde zu lassen, den ganzen Schacht zuzufüllen und den Abbau des Kohlenwerks von Neuem zu beginnen.

Das Schachthaus sah ich bereits gestützt und die Zimmerleute am Schachte thätig, gegen hundert Ellen Eisenrohre, für deren rascheste Herstellung Richard Hartmann in Chemnitz seine bekannte Kraft aufbietet, lagen bereits im Hofraum und wurden zusammengenietet. Die Balkenunterlage des Röhrenschachtes wurde in den Schacht befördert. Es sind Arbeiten, die ebenso viel Muth, wie Kraft und Ausdauer in Anspruch nehmen. Und welch’ ein Bild gewährt diese Arbeit! Der ganze Schachthügel mit seinen Gebäuden ist eine Stätte geregeltester Betriebsamkeit. Wüßte man nicht, wozu hier Alles geschieht, man freute sich der schönen industriellen Thätigkeit. Die Directoren und sonstigen „Oberen“ sitzen bald zu Rath in ihrem Comptoirzimmer, bald gehen sie, zu den einzelnen Werkstellen, Alles ruhig und fest, ohne Hast! Zimmerleute und Maurer, Schmiede und Schlosser, alle wie an altgewohnter Arbeit. Nur schweigsamer ist hier Alles, als auf anderen Werkstätten, und nur, wenn der Bergmann, welcher am Eingange zum Schacht sitzt, auf seine Schiefertafel immer neue Erdstürze im Schacht aufzeichnet und wenn mitunter so mächtige Schläge in der Tiefe erschallen, daß oben Boden und Gebälk zittert, blickt Mancher besorgt zur Backsteinmauer des Schachthauses hinauf und fragt: „Wie lang wirst du noch stehen?“ Wer berechnet [464] die seit acht Tagen in die Tiefe gestürzte Masse? Ist die furchtbare Höhle nicht bald groß genug, um, besonders wenn die Tausende von Centnern des Eisenschachts auf sie drücken, Haus und Menschen zu verschlingen? Gott bewahre die braven Männer vor Unglück!

Mag der neue kühne Schacht, wie man hofft, in fünf bis sechs Tagen zum Ziele führen, oder mag das Grab sich geschlossen zeigen, – sicher ist nur Eines: die Ernährer von vierundvierzig Familien sind todt – aber ihre Frauen und Kinder leben und für sie recht mit dem innigsten Mitgefühl des Herzens zu sorgen, ist unser Aller heilige Pflicht! –

Aber auch Das ist nun allgemeine Pflicht, auf die Frage: „Wer trägt die Schuld eines solchen Unglücks?“ mit der Aufzählung von Thatsachen ohne Schonung irgend einer Person zu antworten. Richtet man diese Frage an den Ersten Besten der dort uns Begegnenden, so verfinstert sich sein Blick. „Sehen Sie sich das Ding von außen an, so wissen Sie, wie’s drinnen ausgesehen hat“ – war die Antwort einer Frau auf meine Frage. Ich hatte das verwahrloste Aeußere der Schachtgebäude den anfangs ohne Zweifel sehr stürmischen Rettungsarbeiten zugeschoben; jetzt erfuhr ich, der Volksmund habe die Neufundgrube schon längst als den „liederlichen Schacht“ bezeichnet. Und dennoch haben sich die Bergleute nicht geweigert, noch einen Schritt in diesen Schacht zu thun?

Auf diese Frage antwortete mir ein Bergmann, mit dem ich in der Mittagsstunde unter einem Breterdach vor einem Regenschauer Schutz fand. „Lieber Herr, so fragen Alle, die das Unglück ansehen, aber womit sollen wir unsere Kinder satt machen, wenn wir nichts verdienen? Weigert sich ein Bergmann, einen Schacht zu befahren, so kommt er leicht in den Ruf der Widerspenstigkeit und findet auch in anderen Schachten keine Arbeit. Alle, die jetzt da drunten liegen, hat nur die liebe Noth hinuntergezwungen.“

„Und wie hoch steht sich ein fleißiger Arbeiter?“ fragte ich.

„Wenn er Glück hat, so kann er die Woche fünf Thaler und vielleicht noch ein wenig drüber verdienen, oft werden’s aber auch kaum vier. Wer fünf, sechs Kinder daheim hat, kann Zeiten erleben, wo er kein Stückchen Butter auf’s Brod bringt.“

„War der Schacht wirklich baufällig?“ fragte ich weiter.

„Ja! Das wußte Jedermann. Warum man die Reparatur immer verschoben hat, weiß ich nicht, das nur ist allbekannt, daß ein braver Obersteiger vom Dienst kam, weil er auf die Ausbesserung des Schachtes drang; er liegt, weil er noch vor seinem Abgang im Schacht durch einen Gesteinssturz ‚geschmissen‘ wurde, jetzt krank daheim, aber der sein Nachfolger geworden wäre, liegt todt im Schacht, Gott habe auch ihn selig!“

„Sie meinen den Krüger? Fällt diesem wirklich ein großer Theil der Schuld zur Last?“

„Lieber Herr, wir wollen nicht richten, denn Gott hat gerichtet. Wenn vielleicht nicht die Einrichtung wäre, daß der Steiger von jedem Hund Kohlen zwei und der Director fünf Pfennige erhält, so wäre ihnen eine Arbeitsunterbrechung durch die Reparatur wohl gleichgültiger gewesen. Krüger muß aber wirklich den Schacht nicht für so baufällig gehalten haben, sonst läge er jetzt nicht selber in ihm begraben.“

So spricht der Volksmund. Ueber die nächste Ursache der Katastrophe wurde von competenter Seite mir mitgetheilt, daß Form und Lage der obersten Bruchhöhle, wie man aus den Anschauungen derer schließen müsse, welche an Ort und Stelle fuhren, zu der Vermuthung leite, daß eine Kluft (Spalt) eine mächtige Masse Gesteins gelöst und nun dessen ganzes ungeheures Gewicht gegen die Wandungen der Schachtzimmerung gedrückt habe. Solche Klüfte, in welchen gewöhnlich Wasseradern rinnen, könnten durch den vergangenen sehr nassen Winter außergewöhnlich reiche Wasserzuflüsse erhalten haben und von denselben so ausgewaschen worden sein, daß die Loslösung von der übrigen compacten Felsmasse erfolgte und der Druck gegen die Schachtwände begann, die selbst im gesundesten Zustand ihm dann hätten weichen müssen. Doch ist auch die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß zwischen der siebenten und zehnten Bühne das Wasser des Gebirgs nicht gehörig dem Kunstgezeuge zugeführt wurde, sondern hinter der Zimmerung abfloß, so daß diese dann auf der Innenseite verfaulte, während sie von außen noch ganz gesund ausgesehen haben kann. Darüber bringt vielleicht die gerichtliche Untersuchung Licht.

Die Presse greift dem Amte des Richters nicht vor, wenn sie dem Publicum das Thatsächliche einfach, wie man es an Ort und Stelle überkommt, mittheilt, anstatt dem Gerücht die Verbreitung allein zu überlassen. Die Strafe ist des Richters Recht; des Volks und seiner Vertreter Sache wird es aber sein, für beruhigenderen gesetzlichen Schutz desjenigen Arbeiters zu sorgen, welcher von allen Erdenloosen das undankbarste gezogen hat.

Das sei eine Arbeit der nächsten Zukunft: der Augenblick aber erfordert Hülfe, Hülfe für vierundvierzig Wittwen und einhundertsiebenunddreißig Waisen! Möge keine glückliche Mutter ihr Kind küssen, kein Weib des Gatten Gruß, keinen Vater des Sohnes Anblick erfreuen, ohne daß sie an den Jammer von Lugau gedenken! Opferstöcke stehen überall, wo der Dank gegen Gott sie sucht.
Fr. Hofmann.



Anmerkungen (Wikisource)

  1. vergleiche dazu die Berichtung in Das furchtbare Trauerspiel in Lugau.