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Titel: Thusnelda
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aus: Die Gartenlaube, Heft 14, S. 227–230
Herausgeber: Ernst Ziel
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Erscheinungsdatum: 1883
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Thusnelda.

Es ist gewiß eine bezeichnende und sinnige Erscheinung, daß die Gattin des ersten Deutschen, von welchem wir Thaten für sein Vaterland kennen, zugleich die erste deutsche Frau ist, nicht nur von der uns die Geschichte berichtet, sondern deren hoher Sinn und Charakter uns auch das Ideal vorführt, welches wir uns als das einer echten deutschen Frau der Vorzeit denken müssen und das auch vom heutigen Geschlechte als Vorbild gewählt werden darf, so weit die veränderten Culturverhältnisse es gestatten.

Thusnelda, diese echte deutsche Frau, stellt ihrem Volke aber auch in ihrer Geschichte mit ergreifenden Zügen die Warnung vor Augen, wohin es mit ihm kommen müsse, wenn es nicht einig ist, denn sie war selbst das traurige Opfer der Uneinigkeit unter ihren Landsleuten, einer Uneinigkeit, an welcher sie leider Jahrhunderte, ja fast Jahrtausende gekrankt haben, bis die neueste Zeit hierin einen gewaltigen, hoffen wir andauernden und nachhaltigen Schritt zur Besserung herbeigeführt hat.

Die alten Deutschen um die Zeit des Beginnes unsrer Zeitrechnung hatten noch kein gemeinsames Nationalgefühl, dazu war ihre Bildung noch zu wenig weit vorgeschritten. Jeder Stamm lebte für sich und verband sich höchstens zu Kriegszwecken mit anderen in vorübergehender Weise. An ihren Grenzen, am Rhein, standen die Römer und organisirten das eroberte Gallien, welches, das linksrheinische Germanien mit umfassend, bis an den deutschen Lieblingsstrom reichte, als Provinz. Der Glanz ihrer Thaten und ihrer höhern Cultur, ihre prächtigen Rüstungen und Waffen, ihre Tempel und Villen, ihre rauschenden Feste und Vergnügungen, ihre Kampfspiele und Heeresmusterungen, der Reichthum ihrer Märkte an Waaren des bezaubernden Italiens und des märchenhaften Morgenlandes, alles das konnte nicht anders, als ein noch rauhes, schlicht lebendes, aller Falschheit und Tücke bares und in sich noch nicht zusammengeschlossenes Volk blenden und fesseln.

Thatendrang sowie Durst nach kriegerischem Leben und Streben verlockte Tausende von Germanen, den lorbeerbedeckten Legionen zu folgen, im berückenden Lande jenseits der Alpen dem triumphreichen Imperator zu dienen, die Wunder des azurblauen Himmels und der sinnberauschenden Buchten des Weltmeeres, der Oliven- und Pinienhaine in ewiger Frühlingsluft, dann das überwältigende Rom mit seinen Marmorbauten, Kaiserpalästen, goldschimmernden Kunstdenkmalen und aufregenden Circus- und Amphitheater-Orgien zu schauen. Heimkehrend waren sie begeisterte Anhänger der Herrin der Welt und ihres Herrn, des Cäsars, Lobredner Roms und seiner allgewaltigen Macht, und pflanzten diese Gesinnung durch Erzählung der Wunder, die sie mit angesehen, weiter durch die Urwälder und die mit Binsen gedeckten Hütten, daß die auf ihren Bärenhäuten ruhenden Volksgenossen hoch aufhorchten und nichts sehnlicher wünschten, als so Herrliches auch genießen zu können.

So kam es, daß ganze Völkerstämme rechts vom Rhein römisch gesinnt, „Bundesgenossen des römischen Volkes“ wurden, und wenn auch andere in ihrem Unabhängigkeitssinn und ihrer Freiheitsliebe verharrten und sich gegen die verhaßte, ihnen drohende Fremdherrschaft immer wieder erhoben, so wurden ihre Anstrengungen wieder vereitelt durch die den Fremden ergebenen Landsleute. Wie stark dennoch der Geist des Widerstandes gegen die Unterdrücker war, zeigt die Sage, daß dem bis zur Elbe vorgedrungenen Drusus, dem Stiefsohn des Augustus, ein Weib von übermenschlicher Größe entgegengetreten sei und ihm das Ende seines Feldzugs und seines Lebens verkündet habe. Beides trat in der That bald ein, und dies konnte nicht ohne ermuthigenden Einfluß auf das Volk sein.

Die Römer hatten jedoch nicht nur das linke Rhein-, sondern auch das rechte Donau-Ufer bereits unterworfen, und die Germanen schienen nur noch durch die Unzufriedenheit auch anderer Völker Europas gegen die ihnen drohende oder bei ihnen bereits waltende Römerherrschaft von völliger Unterjochung gerettet werden zu können.

Aber noch pochte in den Herzen der unabhängigen deutschen Stämme ein Stolz, welcher der stärkste Schutz ihrer Freiheit wurde. Denn als Quintilius Varus, der Befehlshaber der römischen Truppen, die Germanen in derselben erniedrigenden Weise behandeln zu dürfen glaubte, wie er vorher die verweichlichten und längst geknechteten Syrer behandelt hatte, empörte sich die verletzte Mannesehre, sie vereinigte sonst getrennte germanische Stämme zum gemeinsamen Kampf, und an ihre Spitze trat der junge Cherusker Arminius (leider kennen wir seinen deutschen Namen nicht), welcher sich den Römern bald als ein überlegener Gegner fühlbar machte. Welcher deutsche Schulknabe kennt nicht die Schlacht im Teutoburger Walde, in welcher der Cheruskerhäuptling die Macht der Römer in Deutschland vernichtete? Arminius, den das deutsche Volk nunmehr am liebsten „Hermann“ nennt, war in früheren Jahren selbst in römische Dienste gegangen und sogar römischer Ritter geworden, seine eigene Familie, darunter sein Bruder Flavus (der Blonde), und sein Volksstamm waren tief mit Römerfreundschaft durchfressen, und selbst nach seinem Siege beherrschte diese Seuche immer noch mehrere rechtsrheinische Volksstämme. Selbst der mächtige Herrscher im Osten Germaniens, Maroboduus (dessen deutscher Name ebenfalls unbekannt), auf dem die Hoffnungen aller freigesinnten Germanen ruhten, offenbarte sich als Abtrünniger von seinen Volksverwandten am Rhein; er zeigte nicht nur vor aller Welt, welch hohen Werth er auf den Frieden mit den Römern legte, sondern er sandte sogar den Kopf des Varus, den ihm Arminius wohl als eine Aufforderung zum Beistande geschickt hatte, nach Rom.

So stand denn Arminius, trotz jenes großen Sieges mit seinen Getreuen allein da, und die geschlagenen Römer konnten sich unter

[228]

Thusnelda wird von ihrem Vater Segest dem römischen Feldherrn Germanicus übergeben.
Nach dem Oelgemälde von Richard Böhm.

[230] des Drusus Bruder Tiberius und Sohn Germanicus wieder sammeln und verstärken, und bald kam die Ernte der Zwietrachtssaat: die Marsen wurden von Germanicus überfallen und zusammengehauen, die Chatten von Cäcina überwältigt, und selbst die Cherusker waren in Parteien für und gegen die Römer zerrissen. An der Spitze der Römerfreunde stand Segestes, der seiner Hünengestalt wenig Ehre machte. Und er war der Vater der Thusnelda! Sie, die herrlichste Jungfrau der Germanen, vereinigte der innigste Herzensbund mit dem Befreier ihres undankbaren Volkes.

Dem unwürdigen Vater trotzend willigte Thusnelda ein, durch Entführung die Gattin des Arminius zu werden. Der Bruderkrieg brach aus, und das Unrecht siegte. Segest hatte selbst den verhaßten Schwiegersohn in seine Gewalt gebracht, doch wurde dieser durch einen glücklichen Ueberfall seiner Freunde wieder befreit. Desto tiefer traf Segest den edlen Armin in’s Herz, als er statt seiner sein angebetetes Weib, seine Thusnelda, zur Gefangenen machte. Um sie zu retten, zog Armin in wilder Wuth mit seinen Schaaren zur Belagerung der Burg Segest’s heran, und er würde des Verräthers Herr geworden sein und sein geliebtes Weib befreit haben, wenn nicht in dem Bruder derselben, in Segimund, ein zweiter Verräther erstanden wäre. Früher ein Getreuer Armin’s im Befreiungskampfe, holte er jetzt, als des Vaters würdiger Sohn, gegen seine deutschen Kampfgenossen die Hülfe der Römer unter Germanicus herbei.

Der römischen Uebermacht mußte Arminius weichen, und mit der Burg gerieth auch Thusnelda in die römische Gewalt. „Bei ihrer Gefangennahme,“ erzählt Tacitus, „vergoß sie keine Thräne, keine Bitte um Mitleid kam über ihre Lippen, fest drückte sie über dem Busen ihre Hände in die Falten des Gewandes, gefaßt niederblickend.“ Weil es dem Germanicus gelungen war, Segest zu befreien, so mußte nun der Bedrängniß, aus der ihn der Römer erlöst, der Dank, und dem Haß gegen Armin die Rache an Größe angemessen sein: der germanische Vater lieferte sein Kind, Armin’s Gemahlin, Thusnelda, den Römern als Gefangene aus.

„Für die jugendliche Verirrung meines Sohnes,“ sagte er zu ihm, „bitte ich um Vergebung: daß meine Tochter sich nicht freiwillig ergab, gestehe ich. Du selbst magst erwägen, ob Du sie verderben oder erhalten willst, ob es bei Dir mehr Gewicht hat, daß sie Arminius’ Weib, als daß sie meines Blutes ist.“

Thusnelda, die später zu Rom in dem Triumphzuge des Germanicus aufgeführt wurde, gebar in der römischen Gefangenschaft einen Sohn, der zu Ravenna erzogen und bald der Spielball eines widrigen Geschickes ward. Leider ist das Buch des Tacitus, in welchem er die merkwürdigen Schicksale des jungen Mannes erzählte, verloren gegangen, aber das traurige Loos des Thumelicus lebt noch heute in der Erinnerung des deutschen Volkes, bildet es doch den Vorwurf zu Halm’s ergreifendem Drama „der Fechter von Ravenna“. Wie wir dann aus den Annalen des römischen Geschichtsschreibers Tacitus wissen, wie aber auch einfach menschlich wahr sein kann, ist Armin durch den Raub der Gattin und des Sohnes, durch die Knechtschaft, in welcher die junge Mutter schmachtete, in Raserei versetzt worden. Er flog durch der Cherusker Gebiet, zu den Waffen gegen Segest, zu den Waffen gegen den Cäsar (Germanicus), aufrufend.

„Ha, der treffliche Vater,“ höhnte er, „der große Imperator, das tapfere Kriegsheer! So viele Hände haben ein Weiblein wegzuschleppen vermocht. – Vor mir,“ rief er, „sind drei Legionen, drei Legaten hingesunken. Nicht mit Verrath, nicht gegen Frauen und Kinder, sondern offen und gegen Bewaffnete führe ich Krieg!“

Seine flammenden Reben wirkten. Germanicus, der gegen die Deutschen heranzog, nachdem er die Reste seiner vor sechs Jahren unter Varus gefallenen Landsleute bestattet, errang keinen Erfolg, auch Cäcina nur einen Pyrrhussieg, denn er kostete ihm mehr, als er errang. Und da auch ein größerer Sieg die Römermacht in Germanien nicht wiederherstellte, so gab Kaiser Tiberius den Gedanken an die Unterjochung der Deutschen ganz auf. Armin aber, der Weib und Kind nie wieder sah, züchtigte den Maroboduus, der ihn einst im großen Kampfe im Stiche gelassen hatte und nun zu den Römern flüchten mußte, bei denen er an demselben Orte (Ravenna) endete, wie der Sohn seines Gegners. Ueber Thusnelda’s Ende ist nichts bekannt. Armin, der, wie Tacitus sagt, nach der Königsherrschaft strebte oder vielmehr nach fester Einigung seines Volkes, die mit der Freiheit desselben durchaus nicht unvereinbar war, fiel „durch Verrath seiner Verwandten“.

„So fiel er, der Mann, der ganz unzweifelhaft der Befreier und Retter Germaniens ist,“ fügt der Römer hinzu, „er, der nicht, wie andere Könige und Heerführer, das Römerreich angegriffen und zum Kampfe gefordert, als es noch klein und seine Macht gering war, sondern damals, als es auf dem Gipfel des Ruhmes stand, als seine Kraft am gewaltigsten und furchtbarsten war; er, der in einzelnen Schlachten wohl einmal unterlag, im Kriege aber nie überwunden werden konnte. Siebenunddreißig Jahre währte sein Leben, und zwölf erreichte seine Herrschergewalt[1], und bis auf den heutigen Tag klingt sein Ruhm in den Liedern der Barbarenstämme wieder, und mächtig ragt seine Heldengestalt über alle andern hervor. Unbekannt freilich ist sein Name und seine Bedeutung den Geschichtsbüchern der Griechen, die nur Sinn und bewundernde Worte haben für die Großtaten ihrer eignen Krieger und berühmten Männer, und auch von den Römern wird er nicht mit dem Ruhm genannt, den er verdient, da wir die alte Zeit wohl preisen und als herrlich rühmen, an den Werken und Thaten der neuen aber kalt und gleichgültigen Auges vorübergehen.“[2]

Aber die Nachwelt war gerecht. Wie die deutsche Nation in ihrer Begeisterung für ihre Befreiung von fremdem Joche zu Anfang und für ihre Einigung zum mächtigsten Reiche nahe am Ende dieses Jahrhunderts dankbar dem ersten Befreier Germaniens auf seiner Ruhmesstätte im Teutoburger Walde ein Denkmal errichtet, so wird bald die Verkörperung des Vaterlandsideals, die Germania, in unserem nunmehr ganz germanischen Rheine sich spiegeln – und wer in ihr das Bild der Thusnelda erkennen will, wird den großen Gedanken der Vaterlandsverherrlichung nicht erniedrigen.

Auch vor diesen Bildern unserer Vergangenheit erfüllt uns der erhebende Trost, daß die Gerechtigkeit und die Dankbarkeit in unserer Nation noch lebendig sind, und daß uns das Schicksal des deutschen Volkes glänzend von der Wahrheit des Dichterwortes überzeugt: „Die Weltgeschichte ist das Weltgericht!“


  1. Arminius starb im Jahre 21 nach Christus.
  2. Nach der neu erscheinenden Sammlung „Historische Meisterwerke der Griechen und Römer in vorzüglichen deutschen Uebertragungen“ (Leipzig, E. Kempe), auf die wir alle diejenigen hinweisen, welche, ohne die alten Sprachen zu kennen, sich in den Geist classischer Geschichtsschreiber vertiefen möchten.D. Red.