Thüringer Sagenbuch. Erster Band/Seher und Gesichte
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Seher und Gesichte.
Auf der Weghälfte zwischen der Veßraer Brücke und Themar ist ein Kreuzweg, eine breite Fahrstraße kommt vom Felde rechts nach der Hochstraße, und zur linken geht eine solche in den Wiesengrund und nach der Holzflöße; unter der Hochstraße hindurch ist ein Wässerlein geleitet, dergleichen bedeckte Wasser nennt man im Hennebergischen eine Dohle. Auf dem Kreuzweg über der Dohle findet alljährlich eine Erscheinung Statt. Wer in der Neujahrsnacht um 12 Uhr schweigend an diesen Ort geht, der erblickt die lichte Gestalt eines Engels, welcher eine Papierrolle in der Hand hält, und sie vor den Augen des Sehers aufrollt. Dieser erblickt dann mit goldener Schrift auf der Rolle eine Zahl geschrieben, und diese Zahl ist die [47] der Jahre, die der Seher noch zu leben hat. Einst war zu Themar auch ein Seher, der mehr vermochte, als Brod zu essen; er war ein Gülden- Sonntagskind, konnte das Wetter voraussagen, und vornehmlich, wer alles im Laufe des Jahres sterben werde. Dieser Mann ging alle Jahre in der Neujahrsnacht um 12 Uhr nach dem Obernthor, in dessen nächster Nähe der Gottesacker ist, wo er stillschweigend neben die Pforte trat, und diejenigen Menschen, die in diesem Jahre mit Tode abgehen würden, geisterhaft in einem langen Zuge an sich vorbei schweben sah. Wie sie nach der Reihe vorüber gegangen waren (und der Zug bewegte sich allemal bis an das Thor des Gottesackers), so starben sie dann auch. Einstmals stand er auch zu dieser Stunde am obern Thor, und die Schattengestalten glitten an ihm vorüber; siehe da kam seine Frau, eine böse Sieben, auch heraus geschwebt, und wie sie ihn erblickte, wandte sie sich um, und versetzte ihm eine derbe Ohrfeige. Da ging er heim, und niemals wieder auf die Geisterschau. Seine Frau ist wirklich in diesem Jahr gestorben, er aber hatte die Seherschaft verredet.
Wenn es in Themar am Sonntage früh zum Gottesdienst lautet, haben manchmal die Klänge einen eigenen, weinenden Ton, (wiewohl sonst das Glockengeläute sehr rein und schön ist) und darnach ist jedesmal ein sehr trauriger Todesfall. Weint nun die Glocke, so sagen die Leute: es giebt bald eine Leiche, die Glock’ heult. Und es trifft auch allemal zu.
Stirbt ein Rathsherr, so fällt in den Augenblick seines Abscheidens einer von den zwölf Stühlen um, die im Rathhaus stehen, darauf die Herren sitzen wenn sie Rath halten.
[48] Und stirbt ein ehrwürdiger Geistlicher, so flammt ein helles Licht in der Kirche.
Steht an einem Leichnam ein Auge offen, so heißts: der holt noch Eins nach. Auch das ist in Themar Volksglaube, daß, wenn einem Leichnam ein Schleifchen Band oder Zeug von seinem Sterbeanzuge in den Mund kommt, und er so beerdigt wird, so holt er nach und nach binnen kurzer Zeit die ganze Familie. Dieser Zug der Sage ist ein in Thüringen seltenes erinnern an den Vampyrismus, während der Glaube, daß, wenn ein Toder von einem noch Lebenden ein Stück Gewand mit an den Leib bekäme, der Lebende so langsam sich verzehren müsse, als jenes Stück im Grabe verfault, schon weit mehr allgemein ist.
Am heiligen Dreifaltigkeitstage, welches der goldene Sonntag ist (Trinitatis), soll man bei Leibe nicht arbeiten, dieß ist ein schon von den Vorältern auf die Nachkommen vererbtes heiliges Gebot, und wer dasselbe übertritt, läuft große Gefahr vom Blitz erschlagen zu werden. So setzte sich einmal zu Themar eine Magd an diesem Tage vor die Thüre, und flickte, trotzdem, daß ihre Herrschaft ihr davon abrieth, ihr Mieder. Als dasselbe wieder in Stand gesetzt war, zog die Magd das Mieder an, aber wie sie aus ihrer Kammer trat, zuckte ein Blitz, der sie auf der Stelle tödtete und das Mieder gerade da, wo sie dasselbe ausgebessert hatte, in Stücken riß.