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der Jahre, die der Seher noch zu leben hat. Einst war zu Themar auch ein Seher, der mehr vermochte, als Brod zu essen; er war ein Gülden- Sonntagskind, konnte das Wetter voraussagen, und vornehmlich, wer alles im Laufe des Jahres sterben werde. Dieser Mann ging alle Jahre in der Neujahrsnacht um 12 Uhr nach dem Obernthor, in dessen nächster Nähe der Gottesacker ist, wo er stillschweigend neben die Pforte trat, und diejenigen Menschen, die in diesem Jahre mit Tode abgehen würden, geisterhaft in einem langen Zuge an sich vorbei schweben sah. Wie sie nach der Reihe vorüber gegangen waren (und der Zug bewegte sich allemal bis an das Thor des Gottesackers), so starben sie dann auch. Einstmals stand er auch zu dieser Stunde am obern Thor, und die Schattengestalten glitten an ihm vorüber; siehe da kam seine Frau, eine böse Sieben, auch heraus geschwebt, und wie sie ihn erblickte, wandte sie sich um, und versetzte ihm eine derbe Ohrfeige. Da ging er heim, und niemals wieder auf die Geisterschau. Seine Frau ist wirklich in diesem Jahr gestorben, er aber hatte die Seherschaft verredet.

Wenn es in Themar am Sonntage früh zum Gottesdienst lautet, haben manchmal die Klänge einen eigenen, weinenden Ton, (wiewohl sonst das Glockengeläute sehr rein und schön ist) und darnach ist jedesmal ein sehr trauriger Todesfall. Weint nun die Glocke, so sagen die Leute: es giebt bald eine Leiche, die Glock’ heult. Und es trifft auch allemal zu.

Stirbt ein Rathsherr, so fällt in den Augenblick seines Abscheidens einer von den zwölf Stühlen um, die im Rathhaus stehen, darauf die Herren sitzen wenn sie Rath halten.

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Ludwig Bechstein: Thüringer Sagenbuch. Erster Band. C. A. Hartlebens Verlags-Expedition, Wien und Leipzig 1858, Seite 47. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ludwig_Bechstein_-_Th%C3%BCringer_Sagenbuch_-_Erster_Band.pdf/55&oldid=- (Version vom 1.8.2018)