Tetuan in Marocco
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Wenige Meilen von Europa’s Südspitze, dieser gegenüber, beginnt das Sultanat Marocco, das man sonst auch ein Kaiserthum geheißen hat. Es erstreckt sich über den schönsten Theil von Nordafrika. Mit einem warmen, gesunden Klima und großer Fruchtbarkeit des Bodens hat Gott das Land gesegnet, aber der Fluch einer unbeschränkten Despotie hat es menschenleer und größtentheils zur Wüste gemacht.
Während im westlichen Europa der Besitz jedes Fleckchen Landes theuer erworben werden muß, während in den meisten dieser Länder der Arme vom Grundbesitz gänzlich ausgeschlossen ist, und oft nicht einmal den kleinen Raum eigen nennen kann, auf dem er sein müdes Haupt niederlegt, sind hier, am Thore des Welttheils, tausende von Meilen des fruchtbarsten Bodens von der Kultur unberührt, meist ein Aufenthalt rechtloser Sklaven, oder der wilden Thiere.
Warum wurden nicht längst schon hier Colonieen gegründet? warum ist nicht längst dies Land dem europäischen Fleiße, der europäischen Civilisation überantwortet? Warum brauchte man nicht längst hier das Schwertrecht, das gegen Nachbarn gleichen Glaubens und gleichen Stamme anzuwenden man, bis auf die neueste Zeit, sich nie gescheut hat? Es handelt sich hier ja nicht um eroberungssüchtige Zwecke. Wenn Europa die schlechte maroccanische Despotie umstürzt, dann wirkt es nicht für Unterdrückung und Unterjochung der Völker, sondern für ihre Erlösung aus schmählichen Fesseln. Die Colonisation Nordafrika’s ist überdies bereits zu einer Lebensfrage für Europa erhoben, und sie kann nur verzögert, nicht umgangen werden. Namentlich drängt es England und drängt es Deutschland, über kurz oder lang dem System der alten Staaten zu folgen und eine Auswanderung im Großen zu reguliren, damit der Ueberfluß ihrer Bevölkerung entfernt werde; denn außerdem muß die Uebervölkerung neue und furchtbare Uebel zu den alten fügen und das sociale Gebäude in seinen Grundfesten zerrütten. Australien, Neuholland, selbst Nordamerika (da dessen nähere, östliche Provinzen der Auswanderung keinen Raum mehr bieten) liegen zu fern für die wegzuschaffenden Hunderttausende. Am gelegensten ist die Küste von Nordafrika, und deren Besitzergreifung kann nicht durch kleinliche Bedenken gehemmt werden, sobald sie das eiserne Gesetz der Selbsterhaltung gebietet. Schon hat Frankreich in der Occupation und Ansiedelung Algeriens das Beispiel gegeben. Marocco kann und wird dem gleichen Schicksal nicht entgehen, sey es heute oder morgen.
[54] Die besten Landschaften des Sultanate sind gerade die, welche uns zunächst liegen: – die Küstenstriche nämlich am mittelländischen Meere. Jetzt sind diese schönen Gegenden nur dünn bevölkert, kaum besitzen sie zwei Städte von einiger Bedeutung: Tanger, Gibraltar gegenüber, und etwas weiter östlich Tetuan. Dieser Ort, mit 20,000 Einwohnern, treibt beträchtlichen Handel mit Südfrüchten und andern Produkten des Landes nach Spanien und Italien. Man erkennt hier das spanische Blut noch, obschon es sich vielfach mit dem maurischen mischte; selbst altspanische Sitten treten noch hervor, reiner oft, als in Spanien selbst. So ist die Vorliebe für Gesang und Saitenspiel unter der Bevölkerung allgemein, und nicht minder die altspanische Lust an den Kampf- und Wettspielen des Cirkus und der Rennbahn. Fast jedes Fest wird mit Lanzenspiel und Wettrennen in der alten Arena begangen, die gegenwärtig der größte Marktplatz ist; an solchen Tagen kommt die Bevölkerung von nah und fern herbei, und die flachen Dächer sind ringsum angefüllt mit Zuschauern zu Tausenden.
Tetuan’s Lage ist wunderschön. Terrassenartig ist’s auf der Abdachung eines Vorgebirgs gebaut, umgeben von gartenreichen, immer grünenden und immer blühenden Thälern. Nordwärts ist die Aussicht nach beiden Meeren weit offen, im Süden thürmt sich ein Amphitheater von Bergen auf, das bis zum schneebedeckten großen Atlas ansteigt, und Stadt und Gegend vor dem versengenden Hauche der Wüste schirmt. Doch ist die reizende Vorstellung, welche die Fernsicht von Tetuan gibt, mit dem ersten Schritte durch’s Thor verschwunden. Das Auge sieht Verfall, Schmutz und Elend. Die Gassen sind ungepflastert, enge, krumm; die Häuser niedrig, armselig, ohne Fenster; die Menschen, der Mehrzahl nach, halbnacktes, zerlumptes Gesindel von allen Farben: Mauren, Neger, Araber, Juden. Letztere sind, wie überall in den Staaten des Orients, hier rechtlos; aber was ihnen das Gesetz versagt, erwirkt ihnen Schlauheit und Gewandtheit. Alle Geschäfte in Marocco sind in ihren Händen und sie sind fast allein im Besitz alles Reichthums im Lande.