Das Rathhaus in Brüssel

CCCXCI. Tetuan in Marocco Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Neunter Band (1842) von Joseph Meyer
CCCXCII. Das Rathhaus in Brüssel
CCCXCIII. Die Kaiserburg in Wien
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DAS RATHHAUS IN BRÜSSEL

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CCCXCII. Das Rathhaus in Brüssel.




Der Geist und die Zustände der frühern Zeiten spiegeln sich am deutlichsten in ihren Monumenten wider. Von den Denkmälern, welche unsere Voreltern hinterließen, geben keine den künftigen Geschlechtern einen vollgültigern Beweis von dem Reichthume der Städte und dem kühnen Geist ihrer freien Gemeinwesen in Deutschland, der Schweiz und den Niederlanden im Mittelalter, als ihre öffentlichen Gebäude aus diesem Zeitraum. Zwar zehrten die Kreuzzüge einen großen Theil von dem Reichthum der deutschen Nation auf; aber was sie an materieller Kraft dadurch verlor, das gewann sie vielfach an geistiger wieder, die sie zu den größten Bauunternehmungen ermuthigte, sowohl zur Verherrlichung Gottes, als der eigenen Würde und Macht. Unsere großartigsten Münster, Kirchen, Rath- und Kaufhäuser sind während der Kreuzzüge und in der nächstfolgenden Periode gebaut worden.

Der deutsche (oder, wie er gemeinlich genannt wird, gothische) Baustyl galt im 13ten, 14ten und 15ten Jahrhundert für größere öffentliche Gebäude ausschließlich. Zeugniß geben die Rathhäuser zu Nürnberg, Frankfurt, Braunschweig, Prag, Regensburg, Aachen, Löwen, Mecheln, Antwerpen, Gent, Brüssel u. v. a. Städte Niederlands und am Rhein. Pracht, Ernst und Würde sind in diesen Bauten mit Zierlichkeit vereinigt.

Unter den schönsten steht das Stadt- oder Rathhaus in Brüssel oben an. Es ist ein Muster seines Styls und, was selten der Fall ist, es wurde, sowohl im Innern als Aeußern, ganz vollendet. Auf Kosten der Brüsseler Gemeinde ist’s binnen 42 Jahren, von 1400 bis 1442, aufgerichtet worden. Das zierlichste Ebenmaß der Verhältnisse und die bis auf alle Details der Ornamente sich erstreckende, höchste technische Vollendung machen diesen Steincoloß zu einem wahren Kunstwerke. Wer es betrachtet, möchte wünschen, es stände, vor des Wetters rauher Hand geschützt, unter einem Glashause.

Das Brüsseler Rathhaus nimmt die Mitte des großen Marktplatzes ein. Es steht frei und ist nicht, wie es so häufig bei ähnlichen Gebäuden anderswo der Fall ist, durch kleinliche Anbauten, Buden etc. etc. verunstaltet. Es macht ein Viereck von etwa 350 Fuß Seitenlänge, das einen innern Hof gleicher Form umschließt. Das Material [56] ist Sandstein. Die herrliche Thurmpyramide von durchbrochener, bewundernswürdiger Arbeit erhebt sich drei hundert vier und sechzig Fuß hoch über das Pflaster des Marktes. Ihre Spitze wird durch die kupferne Colossalstatue des Brüsseler Schutzpatrons, Erzengels Michael, gebildet. Sie ist 18 Fuß hoch und steht auf einer Kugel von Bronze.

Das Hauptportal befindet sich unter dem Thurme. Der Hauptfronte entlang läuft ein offener Säulengang, und aus ihm führen die prachtvollen Treppen in das Innere. Zwei steinerne Löwen am Eingange der Haupttreppe sind Meisterwerke der Skulptur. Stolz hebt der eine ein Schild, worauf die Buchstaben S. P. Q. B. (Senatui, Populo Que Bruxellensi). Vierzig Fenster mit verzierten Säulen durchbrechen die Westfronte; zwischen ihnen, in Nischen, stehen die mehr als lebensgroßen Bildsäulen der großen Männer Brabants und seiner besten Fürsten. Das Dach war früher mit Blei gedeckt; durch Feuer verwüstet, wurde es später aus Schiefer hergestellt. Leider ist der entgegengesetzte hintere Flügel, welcher im Bombardement von 1695 verheert wurde, ein schlimmes Zeugniß von dem Ungeschmack späterer Zeit. Er ist in einem ganz anderen und schlechten Style aufgebaut und dadurch ist die vormals so herrliche Einheit dieses Prachtbaus zerrissen.

Eine große Zahl von Sälen, Zimmern, Corridors mit Säulen, auch eine Kirche, füllen den innern Raum des ungeheuern Gebäudes aus, das jetzt nur zum kleinern Theile den Berathungen und den Geschäften Brüsseler Gemeindeangelegenheiten gewidmet ist. Bei weitem der größere ist den königlichen Oberbehörden eingeräumt worden, oder öffentlichen Sammlungen und Unterrichtsinstituten: z. B. der Zeichnungsakademie. Sehenswerth ist die künstlerische Ausschmückung des Innern, vor allem die zweier großen Sale, in welchen einst die Generalstaaten Niederlands und die Stände Brabants während der spanischen und österreichischen Herrschaft ihre Sitzungen hielten. Was die berühmte Brüsseler Tapetenwirkerei Schönstes und Kostbarstes hervorgebracht hat, ist hier vereinigt.