Sturm (Die Gartenlaube 1874/52)

Textdaten
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Autor: Hermann J. Klein
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Titel: Sturm
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aus: Die Gartenlaube, Heft 52, S. 844–846
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1874
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Sturm


Von Dr. Hermann J. Klein.


Wer erinnerte sich nicht von seiner Jugendzeit her mit Vergnügen jener Seeromane, in welchen neben ritterlichen Piraten und kühnen Strandräubern, die meistens ehedem bessere Tage gesehen hatten, ein tüchtiger Seesturm niemals fehlte? Berghoch schwollen die Wogen an und rissen das Schifflein, welches den Helden der Erzählung trug, bald hoch in die Lüfte empor, bald schleuderten sie es in den Abgrund des Meeres hinab. Dabei rabenschwarze Nacht, die nur von Zeit zu Zeit durch das grelle Licht zuckender Blitze erhellt wird, prasselnder Regen und dumpfes Geheul des Windes. Wahrlich, es ist nicht zu verwundern, daß solche Bilder – und sie entsprechen innerhalb gewisser Grenzen durchaus der Wirklichkeit – auf das jugendliche Gemüth einen unauslöschlichen Eindruck hervorbringen und eine nicht selten schwärmerische Begeisterung für jene Seefahrer erzeugen, die mitten im Gewühl der entfesselten Naturgewalten, kühl bis an’s Herz hinan, ihre Barken weiter steuerten. Dieser persönliche Muth und eine gewisse, im Verlaufe jahrelangen Herumstreifens auf den „fröhlichen Wassern“ erlangte individuelle Erfahrung waren die hauptsächlichsten Requisite eines Seefahrers von ehedem, als noch das Licht der Wissenschaft die Dunkelheit der Sturmnächte nicht durchleuchtet hatte und die Gesetze noch nicht aufgefunden waren, denen die Orkane gehorchen. Heute ist das Alles anders. Neben der persönlichen Erfahrung berücksichtigt der Seefahrer vor allen Dingen die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung, ja er nimmt für weite Reisen ganz bestimmte Segelanweisungen mit, welche ihm genau vorschreiben, wie er zu steuern hat, um am schnellsten und gefahrlosesten sein Ziel zu erreichen.

Daneben ist die Wissenschaft bemüht, den aus dem Hafen auslaufenden Schiffer vor etwa im Anzuge befindlichem Unwetter zu warnen und die draußen befindlichen Fischerboote zur Heimkehr zu mahnen. Alles dies ist lediglich eine Folge unserer heutigen Kenntnisse vom Wesen und Verlauf der Stürme und der Art und Weise, wie diese sich ankündigen. Die Sturmwarnungen bedürfen dazu noch der Mitwirkung des elektrischen Telegraphen, der, schneller als der Wind, die bedrohten Punkte von dem noch in weiter Entfernung befindlichen Unwetter unterrichtet. – Daß der Wind nichts als ein Strömen oder Fließen, überhaupt eine Bewegung der Luft ist, weiß heute Jedermann; weniger allgemein bekannt dürfte dagegen die Thatsache sein, daß die Heftigkeit des Windes allein von der Geschwindigkeit abhängt, mit welcher sich die Luft bewegt. Beträgt die Luftströmung blos ein oder zwei Fuß in der Secunde, so ist sie dem Gefühle kaum merklich und man spricht von angenehm säuselndem Winde; ist ihre Geschwindigkeit fünfzehn bis sechszehn Fuß in der Secunde, so nennt der Schiffer diesen Wind eine frische Brise; bei dreißig Fuß hat er einen guten Segelwind; bei fünfzig Fuß ist der Wind schon stark; bei siebenzig bis achtzig Fuß hat man bereits Sturm, und bei einer Schnelligkeit von hundertzwanzig bis hundertfünfzig Fuß in der Secunde tobt der wüthendste Orkan. Diese Geschwindigkeiten mögen Manchem gering vorkommen, es würde aber sehr schlimm um unsere Bauwerke aussehen, wenn Luftströmungen von hundertfünfzig Fuß Geschwindigkeit in der Secunde bei uns häufig vorkämen. Ein Orkan von dieser Schnelligkeit drückt nämlich auf die Fläche eines mäßigen Hauses mit einer Kraft von etwa eintausendfünfhundert Centnern, und wenn man bedenkt, daß dieser Druck nicht gleichförmig und andauernd, sondern ungleichmäßig und stoßweise wirkt, so wird man begreifen, daß die stärksten Mauern ihm nicht Stand halten. Dem entspricht die Erfahrung in jenen Gegenden, welche bisweilen von Orkanen heimgesucht werden, vollständig.

Die in Westindien tobenden Stürme, welche die Engländer Hurricanes, die Spanier Tornados nennen, verwüsten bisweilen ganze Ortschaften. Der Orkan vom 10. October 1780 zerstörte im Vereine mit den Wogen des rasendes Meeres die ganze Stadt Saint Pierre auf der Insel Martinique, stürzte in Port Royal die Kathedrale, sieben Kirchen und vierzehnhundert Häuser um und begrub sechszehnhundert Kranke unter den Ruinen des Hospitals. Auf der benachbarten Insel Sanct Lucia zerstörte er die stärksten Gebäude bis auf ihre Fundamente und riß Menschen und Thiere vom Erdboden empor. Die Stadt Kingstown auf Sanct Vincent wurde ganz zerstört. Auf des Leeward-Inseln zog sich, als der Sturm heftiger wurde, die Familie des Gouverneurs in die Mitte des Hauses zurück, welches wegen seiner drei Fuß dicken Mauern hinlänglich Schutz versprach; dennoch brach der Wind durch; man floh in den Keller, aber hier stieg das Wasser vier Fuß hoch; man rettete sich nach der Batterie und suchte unter den Kanonen Schutz, aber einige Zwölfpfünder wurden vierhundertzwanzig Fuß weit fortgetrieben. Als der Tag anbrach, glich die Gegend einer Winterlandschaft – kein Blatt, kein Ast war an den Bäumen zu sehen. So furchtbar aber auch der Sturm auf diesen Inseln gewüthet haben mochte, so waren die Verheerungen, welche er auf offner See an den dort befindlichen Schiffen anrichtete, womöglich noch schrecklicher. Eine französische Flotte von zwei Fregatten und fünfzig Transportschiffen mit fünftausend Mann [845] Truppen befand sich damals gerade an der Südküste der Insel Martinique. Alle diese Schiffe wurden bis auf deren sechs oder sieben, die dem Untergange entrannen, vernichtet. Aber auch die englische Kriegsflotte, unter Sir Georges Rodney, wurde zerstört.

Von dem Sturme, der am 10. August 1831 auf der Insel Barbados wüthete und von hier in sechs Tagen bis nach New-Orleans hinschritt, berichtet ein Augenzeuge Folgendes. Der Orkan begann um neun Uhr Abends mit mäßigem Nordwinde. Bald folgten einige Windstöße, die durch ruhige Pausen getrennt waren. Nach Mitternacht flammten die Blitze furchtbar und der Sturm brauste aus Nord und Nordost. Um ein Uhr Morgens raste der Wind mit furchtbarer Wuth und wandte sich plötzlich von Nordost in Nordwest. Gegen zwei Uhr war das Heulen des Orkans so arg, daß keine Sprache es zu beschreiben vermag. Lieutenant Nickle hatte unter einem Fensterbogen Schutz gesucht und hörte wegen des Sturmes nicht das Einstürzen des Daches und des obern Stockwerkes. Um drei Uhr nahm der Wind ab; auch das Flammen der Blitze hörte einen Augenblick auf, und eine schreckliche Finsterniß hüllte die Stadt ein. Das dumpfe Geräusch des Windes sank zu einem majestätischen Gemurmel herab. Nach einer halben Stunde, während deren das elektrische Feuer zwischen den Wolken und der Erde eine großartige Thätigkeit entwickelt hatte, brach der Orkan wieder aus, dieses Mal aus Westen, tausend Trümmer als Wurfgeschosse vor sich her treibend. „Die festesten Gebäude erbebten in ihren Grundmauern, ja die Erde selbst zitterte, als der Zerstörer über sie hinwegschritt. Kein Donner war zu hören, als das gräßliche Geheul des Windes, das Brausen des Oceans, dessen mächtige Wellen alles zu zerstören drohten, was die anderen Elemente etwa verschonen möchten; das Gerassel der Ziegel, das Zusammenstürzen der Dächer und Mauern und die Vereinigung von tausend anderen Tönen bildeten ein Entsetzen erregendes Geräusch. Nach fünf Uhr ließ der Sturm einige Augenblicke nach, und da hörte man deutlich das Fallen der Ziegel und Bausteine. Um sechs Uhr war der Wind Süd, um sieben Uhr Südost, um neun Uhr schönes Wetter. Der Anblick der Gegend war der einer Wüste, nirgends eine Spur von Vegetation, einige Flecke welken Grüns ausgenommen. Der Boden sah aus, als wenn Feuer durch das Land gegangen wäre, welches alles versengt und verbrannt hätte.“

Wie furchtbar aber auch in Westindien, Frankreich, Holland und anderen Gegenden die Gewalt der entfesselten Naturkraft auftreten mag, so verschwinden ihre Schrecken doch vollständig vor jenen, mit welchen Sturm und Fluth gelegentlich die nordfriesischen Inseln an der Westküste Schleswigs bedrängen. Theils friedlich, theils in tobendem Kampfe hat hier seit Jahrhunderten die See das Land fortgeführt, und wo einst Dörfer und Kirchen standen, rollen nun die Wogen der unermeßlichen See. Allein seit dem elften Jahrhunderte haben die wackeren Friesen auf jenen Landfetzen einhundertundfünfzig Sturmfluthen ausgehalten. Mancher Schiffer, der heimkehrte aus entlegenen Zonen, fand die grüne Wiese um den Wurthügel, der sein Haus trug, vom Wasser des Meeres bedeckt; ja, dort gab es, wie Weigelt in seinem wundervollen Buche über die nordfriesischen Inseln sagt, Leute, welche ihr Heimathland überlebten. Nicht leicht läßt sich etwas Schreckhafteres denken, als eine Sturmnacht auf einer kleinen Erdscholle mitten in der See, wenn schäumende Wogen die Mauern durchbrechen und die Bewohner im Giebel des Hauses Schutz suchen müssen. Und damit auch das Schauerliche dem Schreckensvollen nicht fehle, so erzählt man aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts von dem Pastorat der Hallig Gröde, daß damals eine Sturmfluth die Särge aus den Gräbern riß; sie stießen mit den Wogen gegen die Wände des Hauses und drangen in’s Zimmer. „So kamen im Geheule des Sturmes die Todten, um die Lebenden zu rufen.“

Wenden wir uns nun von den Erscheinungen, welche die Stürme im Einzelnen darbieten, zu den allgemeinen Gesetzen, denen sie bei ihrem Auftreten gehorchen. Wir begegnen dabei gleich der merkwürdigen Thatsache, daß ein Sturm sich stets durch ein mehr oder weniger rasches Fallen des Barometers, also durch eine Abnahme des Luftdruckes ankündigt. Schon der Magdeburger Bürgermeister Otto von Guerike, der Erfinder des Barometers, hatte die Bemerkung gemacht, daß, wenn das Wettermännchen in seiner mit einer Flüssigkeit angefüllten und oben verschlossenen Glasröhre am tiefsten stand, sehr heftiger Wind aufzutreten pflegte; er schrieb daher an den tiefsten Punkt derselben das Wort „Sturm“. Gegenwärtig bildet die Beobachtung des Barometers für den Seefahrer eine wichtige Arbeit. Der berühmte Nordfahrer Scoresby erklärt, daß er in Folge der aufmerksamen Beobachtung der Warnungen des Barometers mehrmals drohenden Stürmen entgangen sei.

Im Allgemeinen kann man annehmen, daß ein Sturm um so heftiger sein wird, je rascher und tiefer das Barometer fällt. Meist dauert es noch einige Stunden nach dem Fallen des Barometers, ehe der Sturm sich einstellt, oft ist er aber auch sehr schnell da. Am 3. August 1837 wurde zu Puerto Rico um vier Uhr Nachmittags angekündigt, daß bei dem ungewöhnlich starken Sinken des Barometers Sturm drohe. Derselbe traf so schnell ein, daß dreiunddreißig vor Anker liegende Schiffe nicht gerettet werden konnten. Der furchtbare Teifun vom 6. October 1831 erschien so rasch nach dem Falle des Barometers, daß die Schiffe im Hafen von Macao nicht die geringsten Vorkehrungen treffen konnten und Tausende von Fahrzeugen sammt ihrer Ladung zu Grunde gingen.

Colonel Copper war der Erste, welcher die Erscheinungen der Teifuns genauer studirte, indem er die an verschiedenen Punkten gemachten Beobachtungen miteinander verglich. Er kam im Jahre 1801 zu dem überraschenden Resultate, daß die ostindischen Orkane ungeheure Wirbelwinde seien, bei welchen die Luft sich kreiselnd um den Ort bewege, an welchem der geringste Barometerdruck stattfindet. Dieses Ergebniß wurde damals allerdings wenig beachtet. Erst als Dove nachwies, daß der große Sturm am Weihnachtstage des Jahres 1818 ein ungeheurer Wirbelwind gewesen sei, dessen Centrum von Brest in Frankreich über den Canal, England und die Nordsee, gegen die Südspitze von Norwegen fortschritt, wurde die Aufmerksamkeit der wissenschaftlichen Welt rege. Drei Jahre später kam Redfield zu dem Ergebnisse, daß auch die westindischen Hurricanes und Tornados Wirbelstürme seien und daß die Luft in ihnen stets in entgegengesetzter Richtung wirbelt, wie sich der Zeiger einer Uhr dreht. Umgekehrt geschieht auf der südlichen Erdhälfte die wirbelnde Bewegung der Luft in derselben Richtung wie die Bewegung des Uhrzeigers. In der Meteorologie sagt man kurz: die Stürme der nördlichen Erdhälfte drehen gegen die Uhr, die der südlichen Halbkugel mit der Uhr. Die Geschwindigkeit der wirbelnden Bewegung, also die Gewalt des Sturmes nimmt von außen gegen den Mittelpunkt des Wirbels hin zu, im Centrum selbst aber, wo das Barometer am niedrigsten steht, herrscht meist völlige Windstille. Sobald daher der Mittelpunkt eines Sturmes über einen Ort hinwegschreitet, verstummt das Geheul des Windes wie durch Zauberschlag. Der Unkundige freut sich dessen und glaubt alle Gefahr plötzlich verschwunden, aber der erfahrene Schiffer benutzt die kurze Rast, um sich für den Eintritt in die zweite Hälfte des Wirbels vorzubereiten. Oft nach wenig Minuten, bisweilen aber auch nach einigen Stunden ist dieser angelangt und der Sturm setzt mit gleicher Wuth wie früher, aber nun aus der entgegengesetzten Richtung kommend, ein. Im Allgemeinen ist die Heftigkeit dieser Stürme um so größer, je kleiner der Durchmesser der wirbelnden Luft ist, und die Stärke des Windes vermindert sich in dem Maße, wie der Orkan seine Wirbel ausdehnt, was im Verlaufe seiner Fortbewegung geschieht. Aus diesem Grunde sind auch diejenigen Stürme, welche, von Westindien kommend, bisweilen die ganze Breite des Atlantischen Oceans überschreiten und sich der europäischen Küste nähern, hier bei weitem nicht mehr so heftig wie in der Nähe der amerikanischen Gestade.

Ich habe bereits bemerkt, daß der Mittelpunkt eines Wirbelsturmes durch den Ort des niedrigsten Barometerstandes bezeichnet wird, und daß dieser Mittelpunkt nicht stehen bleibt, sondern sich über die Erdoberfläche fortbewegt. Wenn man nun, auf Grund der Beobachtungen, untersucht, in welcher Richtung die Fortbewegung dieses Sturmcentrums stattfindet, so ergiebt sich, daß die westindischen Hurricanes, so lange sie in der heißen Zone bleiben, alle von Südost nach Nordwest vorschreiten, sobald sie aber auf diesem Wege in die gemäßigte Zone gelangen, biegen sie sofort um und schreiten nun von Südwest nach Nordost vorwärts. Umgekehrt verhält es sich mit den [846] Mauritius-Orkanen; sie schreiten innerhalb der heißen Zone von Nordost nach Südwest fort, biegen aber beim Uebergange in die südliche gemäßigte Zone um und bewegen sich dann in der Richtung gegen Südost.

Die Kenntniß dieses gesetzmäßigen Verhaltens der Wirbelstürme ist für den Seefahrer, der von einem solchen Orkane überrascht wird, von größter Wichtigkeit. Denken wir uns, ein Schiff würde auf der nördlichen Halbkugel in der heißen Zone von einem Wirbelorkane überfallen. Hier schreitet das Centrum des Sturmes von Südost nach Nordwest fort und die Luft wirbelt gleichzeitig von Süd durch Ost und Nord nach West. Das Schiff muß nun suchen aus der Bahn des Orkans zu kommen und jedenfalls vom Centrum desselben möglichst entfernt zu bleiben. Die Richtung, in welcher dieses letztere zu suchen ist, bestimmt sich leicht aus der Regel, daß, wenn man dem Winde den Rücken zukehrt, das Sturmcentrum sich auf der nördlichen Erdhälfte links, auf der südlichen aber rechts befindet. Wenn in unserem Beispiele der Sturm als Nordost einsetzt und sich durch Ost nach Südost dreht, so befindet sich das Schiff auf der Nordostseite des Wirbels und muß nordostwärts steuern, um aus der Bahn des Orkans zu kommen. Wäre der Wind anfangs nordwestlich und drehte er sich dann durch West nach Südwest, so würde sich das Schiff auf der südwestlichen Seite des Sturmfeldes befinden und müßte nach Südwest steuern, um dem Bereiche der wirbelnden Luft zu entgehen.

Daß ein Schiff, welches der Gewalt eines Kreiselorkans überlassen ist, von diesem in gewaltigen Bogen im Kreise herumgeführt wird, hat unter Anderen die Brigg „Charles Heddle“ erfahren. Sie wurde am 22. Februar 1845 etwa zweihundertzehn Seemeilen nördlich von Mauritius im Indischen Oceane von einem Cyklon erfaßt und nach Verlust ihrer Segel von dem Orkane bis zum 27. Februar fünf Mal um das Sturmcentrum herumgeführt, ähnlich wie eine Motte das Licht umkreist. Sieht man sich auf einer Karte den Weg, welchen das Schiff beschrieb, genauer an, so erkennt man, daß die Kreise, welche dasselbe um das Sturmcentrum beschrieb, immer kleiner wurden, daß also die wirbelnde Luft eigentlich eine spiralförmige Bewegung besitzt. Von außen strömt ununterbrochen Luft gegen das luftdünne Centrum und steigt hier empor. Professor Reye hat berechnet, daß in dem großen Cuba-Orkane vom 5. bis 7. October 1844 in jeder Secunde mindestens vierhundertzwanzig Millionen Kubikmeter Luft einströmten und in der Nähe des Centrums aufstiegen. Wenn diese feuchten und warmen Luftmassen die höheren, kalten Schichten der Atmosphäre erreichen[WS 1], so verdichtet sich dort ihr unsichtbarer Wasserdampf zu ausgedehntem schwarzem Gewölke, aus dem jene ungeheuren Regenmassen herabstürzen, welche die Wirbelstürme begleiten. Die gewaltige Wolkenmasse zeigt sich schon aus weiter Ferne als schwarzes Wölkchen, von den Seefahrern „Ochsenauge“ genannt, das der Unerfahrene kaum beachtet, das aber das Herz des erfahrenen Schiffers mit Besorgniß erfüllt, denn er weiß, daß dieses Wölkchen, aus sich selbst heraus sich ausdehnend, bald den ganzen Himmel überdecken und den Sturm mitbringen wird.

Werfen wir zum Schlusse noch einen raschen Blick auf die Entstehung der Stürme. Die Wissenschaft hat in dieser Beziehung ihr letztes Wort noch nicht gesprochen, jedoch ist es, wie besonders die Untersuchungen von Professor Reye in Straßburg gezeigt haben, außerordentlich wahrscheinlich, daß die ersten Keime zu den gewaltigen Kreiselorkanen der tropischen Meere in dem Emporsteigen von warmen, feuchten, unteren Luftschichten in größerem Maßstabe zu suchen sind. In einzelnen Fällen mag zuerst die rasche Bildung ausgedehnter Gewitterwolken einen starken aufsteigenden Luftstrom hervorgerufen haben. Daß ein kräftig emporsteigender warmer Luftstrom häufig die Ursache heftiger Wirbelwinde wird, ist längst bewiesen. Bei der Ausrodung der Urwälder in Nordamerika durch Feuer hat man häufig das Entstehen furchtbarer Wirbelstürme beobachtet. Im Sommer 1824 ließ Dr. Cowles an einem absichtlich zur Verhütung weiterer Verbreitung des Feuers gewählten heitern und windstillen Tage eine aufgehäufte Masse trockenen Holzes verbrennen. Flammen und Rauch stiegen in Gestalt eines mächtigen Kegels empor, und bald erhob sich ein gewaltiger Wirbelwind, der große Reisigbündel hoch in die Luft führte und an entfernten Stellen wieder niederfallen ließ. Bei einem ähnlichen Feuer zu Stockbridge im April 1783 erhob sich die Flamme zweihundert Fuß hoch, und gleichzeitig entstand ein Wirbelwind, der umgehauene Bäume von sechs bis acht Zoll Durchmesser vom Boden fortriß und zu vierzig bis fünfzig Fuß emporhob. Olmsted berichtet, daß beim Brande eines von Bäumen besetzten Rohrgebüschs am Ufer des Black-Warrior-Flusses bei Tuscaloosa sich Wirbelwinde von großer Mannigfaltigkeit bildeten, bald trichterartig, mit dem Fuße auf Haufen brennenden Rohres ruhend, bald cylinderförmig mit schraubenförmiger Bewegung, wodurch der schwarze Rauch in Windungen gegen den Gipfel der sichtbaren Säule getrieben wurde.

Diese Beispiele ließen sich leicht noch vermehren, doch genügen sie, um in populärer Form die oben genannte Theorie der Entstehung der Wirbelstürme zu illustriren. Natürlich sind bei dieses Orkanen alle Verhältnisse weitaus großartiger. Es ist bekannt, daß der Wind durch die ihm innewohnende Kraft Arbeit verrichten, z. B. die Flügel einer Windmühle drehen kann. Wenn man diese Arbeit mit derjenigen vergleicht, welche durchschnittlich ein Pferd zu leisten im Stande ist, so erhält man die Arbeitsleistung des Windes oder der strömenden Luft in Pferdekräften, und es ist ohne Weiteres klar, daß umgekehrt genau ebenso viel Pferdekraft erforderlich wäre, um die betreffende Luftmenge in strömende Bewegung zu versetzen.

Nach dieser Vorausschickung wird es Jedem verständlich sein, wenn ich hervorhebe, daß nach der Berechnung von Professor Reye der Cuba-Orkan vom 5. bis 7. October 1844 allein zur Bewegung der einströmendes Luft mindestens eine Arbeit von vierhundertdreiundsiebenzig Millionen Pferdekraft während dreier voller Tage aufwendete. Dieser Aufwand von mechanischer Arbeit ist weit größer, als der aller Windmühlen, Wasserräder, Dampfmaschinen, Menschen- und Thierkräfte der ganzen Erde in der gleichen Zeit.




Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: errreichen