Stunden der Andacht/Gebet am Wochenfeste
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„Gedenket der Lehre Moses, meines Knechtes,
dem ich aufgetragen auf Choreb an
ganz Israel Gesetze und Rechte.“
(Mal. 3, 22.)
Mit heiliger Rührung begrüße ich den heutigen Festtag, dies Wiegenfest unserer erhabenen Religion, dieses Erinnerungsfest jener hohen Epoche, die so viel Heil und Segen in die Welt gebracht.
[32] Unter dem Rollen des Donners, unter dem Zucken des Blitzes, stiegest du, Allvater, auf den bescheidenen Gipfel des Sinai hernieder und redetest zu deinem Volke in deiner so hehren und doch so milden Sprache, du ließest dich herab, der Hohe und Erhabene, zu dem schwachen, gebrechlichen Menschensohn, offenbartest dich ihm in deiner Herrlichkeit und Glorie, und ertheiltest ihm Satzungen des Rechts und der Wahrheit, Lehren des Trostes und der Erhebung.
Der frohen Begebenheit dieses Festes verdanken wir unsern höchsten Schatz, unser kostbarstes Kleinod, die zehn Gebote. Diese Pfosten und Grundsteine unseres beseligenden Glaubens, diese treuen Leiter und Führer durchs Leben, diese Wegweiser auf den Pfaden des Rechts und der Pflicht, diese Stützen und Anker in Mühen und Drangsalen, die Alles in sich schließen, was den Geist erhebt, was das Herz veredelt, was den Menschen menschlicher, das Kind kindlicher macht, was dem Verzweifelnden Trost, dem Zweifelnden Zuversicht gibt.
- „Ich bin der Ewige dein Gott, der dich aus dem Lande Mizraim, aus dem Sklavenhause befreite.”
Dies das erste Wort der göttlichen Offenbarung.
O, sei mir gesegnet, du herrliches Wort! Was die Ahnungen des Herzens uns leise verkünden, das rufst du mit lauter Stimme durch die Welt hin, was auf jedem Blatte im Buche der Natur hingezeichnet ist, daran legst du dein Siegel und deine Gewährschaft an: Es ist ein Gott! Ein Gott der Allmacht, der mit gewaltigem Arm unsre Dränger und Verfolger zu Boden schlägt, ein Gott des Erbarmens, der auf die Jammertöne der Gedrückten und Geknechteten horchet, der ihre Bande und Riegel löst und sie zu Freiheit und Glück führet! Wie froh und weit wird mein Herz im Vertrauen zu ihm, der auch mir allliebend seine Hand reicht, wenn Druck und Noth mich beengt, wenn des Verfolgers Hand auf mir liegt, wenn die Thore des Glücks mir geschlossen sind!
- „Du sollst keine andre Götter vor mir haben.”
Denn der Ewige ist ein einziger, alleiniger Gott, ihm allein gebührt Lob und Preis und Anbetung; ihm, mein Herz, weihe deine Verehrung, deine Liebe, deine Dankbarkeit! Er allein ist es, der huldvoll mich durchs Leben führt, mein Schöpfer, mein Erhalter, der meine Jugend leitet, mein Alter schirmet, der stets und überall der eine und derselbe ist, im Himmel, auf Erden und in den Tiefen des Meeres. Drum sei muthig und getrost meine Seele! Wenn auch das Geschick dir nicht freundlich lächeln mag, wenn dich auch [33] Manches drückt und schmerzt, trage es mit Ergebung und Geduld, mit Hoffnung und Vertrauen, denn der Allweise und Allliebende, unser alleiniger Hort und Regierer, der in seiner Weisheit den Sturm geschaffen, wie den Sonnenschein, hat es ja also über dich verhängt, und was er thut, kann es anders sein als zu unsrem Heil? Er wird alles wohl machen.
- „Du sollst nicht aussprechen den Namen des Ewigen zum Falschen.“
Wie sollten wir den Namen Dessen zur Unwahrheit aussprechen, dessen ganzes Wesen Wahrheit und Treue ist. Die Treue und Aufrichtigkeit sind Strahlen seines göttlichen Wesens, sie verklären das Gemüth, welches sie in sich aufnimmt, und heiligen es zum Ebenbilde des Ewigen. O möchten doch nimmer diese gottesähnlichen Gefühle aus meinem Herzen weichen, möchten sie stets auf meinen Lippen wohnen, daß die Gedanken meiner Seele wie die Worte meines Mundes bei dir Gefallen fänden, mein Gott und Herr.
- „Sechs Tage sollst du arbeiten, der siebente aber ist ein Tag der Ruhe.“
Wenn der Müssiggang ein verderbliches Laster ist, so ist nicht minder das ewige Jagen nach irdischem Besitz, das unaufhörliche Mühen und Sorgen, Streben und Ringen im weltlichen Erwerb und Verkehr zerstörend und verderbenbringend. Unser Körper würde ermatten, unser Geist, bald seine höhere Bestimmung auf Erden vergessend, würde über das Irdische das Himmlische aufgeben, wenn nicht Gott in seiner vorsorglichen Huld für uns die Sabbathfeier angeordnet hätte, zur Erquickung unsres Körpers und zur Aufforderung an unsern Geist, sein Augenmerk dem Göttlichen zu widmen. Da soll Alles der erquickenden Ruhe theilhaft werden, Eltern und Kind, Herr und Knecht; selbst das Thier hat Gott, in seiner Allliebe, mit in der Sabbathruhe eingeschlossen. Gesegnet hat Gott den Sabbath und ihn geheiligt, und ein Segen wird er uns, wenn wir in ihm und durch ihn uns heiligen, durch fromme Gebete, durch veredelnde Betrachtungen, durch den Aufblick zu unserem Hort und Schöpfer!
- „Ehre Vater und Mutter.“
Die alten Weisen lehrten uns: Drei Wesen haben Theil an dem Menschen: Gott, Vater und Mutter! Wie hoch und heilig muß in den Augen Gottes die Pflicht der Kindlichkeit sein, denn dreifach ruft er uns zur Ausübung derselben: durch das Gefühl [34] der Kindesliebe, die er in unser innerstes Sein gepflanzt, durch das Gesetz der Dankbarkeit gegen sie, die unsre Schutzengel auf Erden sind und die nach Gott den größten Theil an unser Leben haben, und endlich durch das göttliche Gebot: „Ehre Vater und Mutter, damit es dir wohl gehe.” – So sei mir denn dreimal geheiligt du süße Pflicht! Vater und Mutter, wie schlägt euch mein Herz entgegen in Liebe und Dankbarkeit; euch will ich ehren und eure Herzen erfreuen, alle meine Kräfte will ich vereinen, um das göttliche Gebot der kindlichen Ehrfurcht, das an allen Saiten unsrer Seele einen Wiederhall findet, zu erfüllen.
- „Du sollst nicht morden.“
Das Leben unsres Nächsten muß uns ein unverletzliches Heiligthum sein. Doch nicht nur sein Leben allein, sondern auch alles Das, was sein Leben verschönert und beglückt, darf von uns nicht verletzt und gefährdet werden. Nicht immer bedarf es des Schwertes und des Dolches um den Menschen ins Herz zu treffen. Das tückische, verläumderische Wort wird oft zum giftigen Pfeil, der uns eben so schmerzlich und tödtlich ins Leben greift. Der geistige Mord ist nicht minder verderbenbringend, als der Todtschlag einer mörderischen Hand, und nicht weniger strafbar in Gottes Augen.
- „Du sollst nicht die Ehe brechen.“
Das heiligste Gut, der kostbarste Schatz zweier Gatten ist die eheliche Liebe und Treue. Wer möchte mit frevelnder Hand diese Krone zerstören, diesen Kranz zerreißen, in sträflichem Leichtsinn diese zarten Blüthen zertreten, die den ehelichen Garten zieren! Vor den Pforten dieses Edens hat Gott in seiner Huld gleich einem Cherub mit flammendem Schwerte sein göttliches Gebot hingestellt: „Du sollst nicht die Ehe brechen;” damit jeder leichtsinnige Gedanke, jedes sündige Gefühl erschreckend davor zurückbebe und zitternd entweiche.
- „Du sollst nicht stehlen.“
Laß dir nimmer einfallen das Eigenthum deines Nächsten an dich zu reißen. Ob er seinen Besitz durch Fleiß und Thätigkeit errungen, ob ihn Gottes Segen allein, ohne sein eigenes Hinzuthun reich gemacht, nimmer laß dich bedünken, deine Hand daran zu legen. Der Diebstahl, welchen Namen, welche Gestalt er auch annimmt: Gewalt, Trug, List, er bleibt sich immer gleich. Auf welche Art immer du des Nächsten Gut an dich ziehst, es wird dir [35] nimmer zum Heile gereichen, der Gottessegen flieht dich. Du hast deine Hand befleckt mit der gemeinsten, der niedrigsten aller Thaten, und Gott, der Reine, der Lichte und Hehre, wendet zürnend sein Antlitz von dir ab!
- „Du sollst nicht falsches Zeugniß ablegen.“
Wie viel Unheil und Frevel bringen wir durch falsches Zeugniß in die Welt. Wenn wir auch nicht mit eigener Hand das Verbrechen üben, fördern wir dasselbe doch nicht minder durch die falsche Aussage vor Gericht, und führen oft durch ein einziges Wort das Laster zum Sieg und Triumph, wir verleiten den Richter zu ungerechtem Urtheil und bedrücken die Unschuld, die zu Gott um Rache wider uns ihre Stimme erhebt. Wir glauben vielleicht zuweilen, das Unrecht, das wir begünstigt, sei gar nicht groß, sei gar sehr zu entschuldigen. Doch wer kann jemals die Tragweite der Sünde bemessen? Das Böse muß Böses, das Unrecht muß Unrecht gebären. Haben wir einmal der Sünde die Hand gereicht, ehe wir uns versehen, dehnt sie sich aus, wird weiter und größer, umspinnt uns so mit ihren verderblichen Netzen, daß wir ihr nimmer entkommen und uns mit Schrecken ihr verfallen sehen.
- „Du sollst nicht Gelüste tragen nach deines Nächsten Gut.“
O Neid, du Quelle aller Laster! Was wir als eigen besitzen, was die Gnade Gottes uns bescheert, machst du in unsern Augen gering und unscheinlich, nur das, was unser Nächster besitzt, übertünchst du mit Glanz und Schönheit, nach dem richtest du unsere Wünsche, stachelst du unsere Begierden. Du jagst den Frieden aus unserem Herzen, machst unser Leben zur Hölle; aus dem Himmel eines zufriedenen Gemüths stürzest du uns in die Tiefen des Unfriedens und der Zerrissenheit mit uns selber. Drum will ich mich hüten vor dem Neide, vor den Gelüsten nach Andrer Besitz und nach dem, was Gott in seiner Allweisheit nicht für gut gefunden, mir zuzutheilen.
Lob und Preis dir, Allvater, für diese göttlichen, beseligenden, heilbringenden Lehren und Satzungen. Heil dem, der ihnen Herz und Seele öffnet und sie darin eingräbt mit diamantner Schrift. Sie sind uns ein theures Angebinde deiner Huld und Treue, mein Gott, wir wollen sie in unserem Herzen tragen, sie an die Pfosten unsres Hauses befestigen, sie an unsre Hand und Stirne knüpfen, damit sie uns stets vor Augen bleiben und unsre Richtschnur werden fürs Leben, damit in ihrem Lichte unsre Augen sich der Wahrheit [36] öffnen, in ihren Ermahnungen wir uns stählen zur Ausübung unserer Pflichten und in ihren Hinweisungen auf dich, du Erhabener, den Trost und die Erhebung finden, um im Kampfe mit den Mühsalen der Erde freudig und muthig zu bestehen.
Gib, o Gott, daß die Feier dieses Festes mein ganzes Leben verkläre, es zu einem großen Festtage mache – zu einem Feste der Erinnerung an deine heiligen Lehren, an deine inhaltreichen zehn Worte. Amen.
- ↑ Das Wochenfest (שבועות) wird am 6. Sivan,[WS 1] also 7 Wochen nach dem 2. Pessachfeste, gefeiert. Dasselbe wird auch das Fest der Gesetzgebung genannt, zur Erinnerung an die Offenbarung Gottes auf dem Sinai, die an diesem Tage stattgefunden, wo die göttlichen zehn Worte an Israel ertheilt wurden.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: 6. Rivan