Stunden der Andacht/Am Zerstörungstage Jerusalems, den 9. des Aw

« Gebet am Wochenfeste Stunden der Andacht An einem allgemeinen Fasttage »
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Für eine seitenweise Ansicht und den Vergleich mit den zugrundegelegten Scans, klicke bitte auf die entsprechende Seitenzahl (in eckigen Klammern).
[36]
Am Zerstörungstage Jerusalems, den 9. des Monats Aw.[1]

„Vergessen könnt’ ich meine Rechte,
Doch Zion, nie vergess’ ich dein,
Wenn deiner ich nicht mehr gedächte,
Mög’ mir geraubt die Sprache sein,
Wenn meine höchste Lust und Liebe
Jerusalem nicht immer bliebe.“
 (Ps. 137, 5–6.)

Eine traurige Erinnerung durchzieht heute unsere Seele, unser Geist trägt uns hin in die alte Heimath unseres Volkes, an die Thore der Stadt, die man die königliche nannte. Weinend weilt unsere Seele in deinen Mauern, Jerusalem! – Jerusalem! wo ist deine Pracht und Majestät, wo sind deine Könige, aus Davids, des heiligen Sängers, Stamm entsprossen, wo ist dein Tempel, über dem die Glorie des Herrn strahlte? dein Allerheiligstes, worin der Allerhöchste thronte? Wo sind deine Altäre, worauf das freudvolle Gemüth seine Dankopfer niederlegte, und das reuegequälte Herz durch Sündenopfer sich Entlastung und Versöhnung verschaffte? Wo sind deine Priester, deine Propheten, diese Wortführer bei Gott für den Sündigen und Schuldigen, diese begeisterten Mahner und Warner der Menschheit, diese beredten Verkündiger des Göttlichen und Heiligen?

[37] Alles ist dahin, überall Trümmer und Vernichtung! – Mit Schmerz umfasse ich diese Trümmer und beweine deinen Untergang, unglückselige Stadt! Mit deinem Fall betraure ich auch den Fall meines Volkes. – Doch nicht mit dir, vor dir schon war mein Volk gefallen von der Höhe einer gottgeliebten Nation in den Abgrund der Sünde und des Treubruches an unserm Hort und Schöpfer; dein Sturz hat den ihrigen nur besiegelt und der Welt geoffenbart; Gottes strafende Hand in dir das Paradies wiederum zerstört, welches er dem sündigen Volke geschaffen und bereitet hatte.

Traure, meine Seele, traure, denn dieser Tag ist den trüben Erinnerungen des großen Verlustes geweihet; aber inmitten deiner Trauer tröste dich und preise gläubigen Sinnes Gott den Herrn, denn dieser Tag ist auch ein Tag des Trostes, ein Tag der ermuthigenden Hinweisung auf Gottes versöhnende Liebe und Gnade! Denn wie die Mutter das leichtsinnige, verirrte Kind mit der Hand züchtigt, aber mit den Blicken des Mitleids und des Erbarmens seine Thränen sieht, so hast du, mein Gott, dein Volk wohl gestraft, aber nimmermehr dein Angesicht von ihm abgewendet! Nach Jerusalems Fall haben wir uns wie verirrte Schafe zerstreut in alle Länder, unter die verschiedensten Völker, aber du, ein treuer Hirte deiner Heerde, ließest uns nimmer unter und verloren gehen. Die Stürme des Unglücks haben uns umtost, doch nur zu beugen, nicht zu brechen und zu vertilgen vermochte uns ihre Wuth; die Kälte des Hasses um uns her hat unsere Glieder erstarren gemacht, aber deiner Liebe Sonnenschein hat uns wieder erwärmet. Fluthen sind über uns dahingegangen, aber durch die Fluthen führte uns deine Gnadenhand ans grüne trockene Eiland. Noch sind wir dein Volk, noch sind wir deine Kinder, dein Zorn hat sich besänftigt, ein neues Vaterland hast du uns geöffnet, und wieder stehen wir, Menschen unter Menschen, Bürger unter Bürger, und alle Völker sind unsere Brüder. Und den Tempel – auch den wollen wir uns aufbauen nach Kräften und Vermögen: das Allerheiligste – das sei uns unser Herz, darin sollst du wohnen und thronen, und kein unheiliges, unreines Gefühl es entweihen; der Altar - das sei uns die leidende Menschheit; auf diesem geheiligten Altar wollen wir unsere Spenden und Opfer niederlegen; und wenn uns die Priester fehlen, so möge unsere gläubige Hoffnung und unser kindliches Vertrauen unser Priester und Fürsprecher sein vor deinem Throne. Amen.


  1. Der neunte Ab, das größte der jüdischen Trauerfeste. An diesem Tage wurde einst der erste Tempel durch Nebucadnezar, der zweite durch Titus zerstört und das Israelitische Reich durch die Römer gänzlich aufgelöst.