Sieben Vorträge über die Worte JEsu Christi vom Kreuze/Kapitel 4

« Kapitel 3 Wilhelm Löhe
Sieben Vorträge über die Worte JEsu Christi vom Kreuze
Inhaltsübersicht
Kapitel 5 »
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Für eine seitenweise Ansicht und den Vergleich mit den zugrundegelegten Scans, klicke bitte auf die entsprechende Seitenzahl (in eckigen Klammern).
|
IV.
Mein Gott, mein Gott,
warum hast Du mich verlaßen?


| |
Matth. 27, 45–49.
45. Und von der sechsten Stunde an ward eine Finsternis über das ganze Land, bis zu der neunten Stunde. 46. Und um die neunte Stunde schrie JEsus laut, und sprach: Eli, Eli, lama asabthani? Das ist: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlaßen? 47. Etliche aber, die da standen, da sie das höreten, sprachen sie: Der rufet dem Elias. 48. Und bald lief einer unter ihnen, nahm einen Schwamm, und füllte ihn mit Essig, und steckte ihn auf ein Rohr und tränkte ihn. 49. Die andern aber sprachen: Halt, laß sehen, ob Elias komme, und ihm helfe.
 Um die sechste Stunde, das ist um die Mittagszeit, verbreitete sich über das heilige Land jene berühmte Finsternis, welche sich aus gewöhnlichen und natürlichen Ursachen, die zuweilen das helle Tageslicht wegnehmen, Dämmerung oder Finsternis verbreiten, nicht erklären läßt. Diese Finsternis gibt Zeugnis von dem innigen Zusammenhang der Natur und ihrer Mitleidenschaft mit Demjenigen, der am Kreuze hängt, Zeugnis überhaupt von dem Zusammenhang des Gnadenreiches mit dem der Natur, von der innigen Vereinigung beider zu Einem großen Reiche, dem wol und weh wird, je nachdem der große König desselben Freude oder Leid empfindet. Schon diese Einheit beider Reiche und ihr Zusammenklang in eines ist ein erhabener Charfreitagsgedanke,| von dem aus sich die Seele bewogen finden kann, sich dem Reiche der Natur mit innigerer Liebe zuzuneigen und mit Verlangen auf die Lösung aller der scheinbaren Widersprüche zu warten, welche zwischen dem Naturreich und Gnadenreich obwalten. Aber es ist nicht die Finsternis, die wir heute zu betrachten haben, sondern unser eigentlicher Text ist das mittlere oder vierte Wort JEsu am Kreuz, zu welchem sich diese Finsternis nur wie ein Eingang verhält und nur wie eine die Geschichte begleitende Scenerie. Wir haben das mittlere Wort JEsu mit dieser Finsternis zu verbinden, aber nicht an den Anfang, sondern an den Schluß derselben zu sezen. Die drei ersten Worte JEsu vom Kreuz beschäftigen sich mit Seiner Umgebung, mit der feindlichen Menschheit, mit der Kirche der Seinen, mit den armen Schächern und Sündern, die Er zu sich führen will. Nach diesen Worten aber scheint eine tiefe Stille eingetreten zu sein, während welcher im Himmel und in dem Geiste und der Seele JEsu Dinge von unaussprechlicher Wichtigkeit vorgiengen und tatsächlich die innersten Fragen der Erlösung erledigt wurden. Ueber diesen stillen Stunden, an deren Grenze das vierte Wort des HErrn steht, und nach welchen sich alle die lezten Reden JEsu rasch entwickeln bis zur lezten großen Leidensthat, liegt ein Dunkel und eine Nacht der Unwißenheit, für welche die leibliche Dunkelheit und Finsternis um den HErrn her nur der entsprechende äußerliche Ausdruck ist. Es wird vielleicht der Schule aufbewahrt bleiben, welche der HErr in der Ewigkeit mit uns halten wird, in die Gottes- und Menschensohnes- und Satanstiefen der großen Finsternis einige Aussicht zu eröffnen. Hier auf Erden leistet uns die äußere und innere, leibliche und geistliche, lange,| bange Stunden hindurch währende Finsternis wenigstens den Dienst, daß wir mit Scheu und dieser Bescheidenheit herantreten zu der Frucht, die sie getragen hat, das ist eben zu dem mittleren vierten Worte, welches den Höhenpunkt aller Leiden JEsu bezeichnet, um es mit stummem Erstaunen betrachten, wenn man nicht vielmehr sagen will, es nicht zu betrachten und an ihm vorüber zu gehen, wie an einer hereinragenden grauenvollen Macht der Ewigkeit und wie an der Offenbarung eines Gerichtes Gottes, das nicht blos ein Vorläufer aller göttlichen Gerichte, sondern vielmehr der dunkelste, ernsteste Mittelpunkt derselben ist. Ha, wie ist dies Wort des Erlösers so groß und unüberwindlich, ich aber und ihr nur wie ein Schwärmchen kleiner Mücken, die an der erlöschenden Charfreitagssonne kreißen und sich über die Nacht am hellen Tag verwundern. Was ists für ein erbärmliches Ding, ein Schriftausleger zu sein, wenn das mittlere Wort JEsu in der dunkeln Charfreitagsfinsternis die Gemeinde mit der großen Glocke zur Kirche gerufen hat! Was ists, was ich Euch zu sagen habe? Weniger als wenig, und was könnt ihr verstehen? Gleichfalls wenig. Doch wolan, laßt uns zur Aufgabe gehen; hier ist gedient, auch wenn wir an ihr erlahmen, denn es ist alles geschehen, wenn Gott in Gnaden groß und wir im Gefühl der Sünden klein werden und doch Seiner Gnade genießen.
.
 Nach einer langen bangen Stille des HErrn an seinem Kreuze beginnt er auf einmal mit lauter Stimme zu rufen: „Eli, Eli, lama sabachthani.“ Ein mächtiger Ruf in die finstere Welt hinein, deßen Inhalt von den elenden Kriegsknechten unter dem Kreuze schon deshalb nicht verstanden wurde, weil er in einer Sprache geschah, die ihren Ohren fremd klang. Es kann sich| gegen die Bedeutsamkeit des Rufes und Augenblickes nichts kleinlicher und widerlicher ausnehmen, als die armen Spottreden welche dadurch hervorgerufen wurden, und die Darreichung des Schwammes mit Essig. Diese Leiden, diese Mückenstiche elender Zungen sind freilich gerade in der Finsternis der ernsten Todesstunde JEsu kaum in Anschlag zu bringen. Ganz andere Lasten lagen auf dem HErrn, so daß er all das leichter hinnehmen konnte. Die Worte, die vom Kreuze so räthselhaft erklangen, sind eine Intonation des 22sten Psalmes, der in der bitteren dunkelen Noth, welche den HErrn umgab und niederdrückte, für ihn besonders geeignet sein und sich zu Seinen augenblicklichen Erfahrungen verhalten mußte, wie eine Erfüllung zu der Weißagung. Wenn wir es auch in dieser Betrachtung nur mit dem ersten Verse zu thun haben, welchen der HErr wörtlich aussprach, so gewährt es doch eine ganz eigene tiefe Befriedigung, und zeigt uns die gesammte Stimmung des Gekreuzigten, die Größe und Tiefe Seiner Gedanken, Sein tiefes Leid, Seine ungebrochene Hoffnung, wenn wir den ganzen zweiundzwanzigsten Psalm in Beziehung auf den HErrn und Seine große Stunde am Kreuz und gewissermaßen in Seinem Namen beten und lesen. Die Worte, welche vom Kreuz erklangen, heißen auf deutsch, euch allen bekannten Tones: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlaßen?“ Da lallen wir denn fürs erste von der Verlaßenheit, der Gottverlaßenheit, dann reden wir zweitens von der Person, die verlaßen ist, und endlich drittens geben wir eine arme Antwort auf die große Frage des HErrn: warum, wir suchen nach der Ursach und der Absicht der Verlaßenheit.


|
1.

 Gottverlaßenheit, was ist Gottverlaßenheit? Als der HErr im Garten Gethsemane den Jünger Petrus dreinschlagen sah, weigerte er sich seiner Hilfe und verzichtete auf sie und zugleich auf die Hilfe und den Beistand der Engellegionen, dieweil die Schrift erfüllet werden müße. Zu dem Haufen aber sagte Er: das ist eure Stunde und die Macht der Finsternis. Schon dort also redet er von einer Zurückziehung der Menschen, der Engel und in der That auch Gottes, weil nur in Folge des Zurückgangs Gottes die Menschen und Engel weichen. Schon dort redet Er von einer Macht der Finsternis, von einer Stunde Seiner sichtbaren und unsichtbaren Feinde. Und wenn man nun das mit dem Inhalt des zweiundzwanzigsten Psalms vergleicht, und bedenkt, was alles der Satan und seine Rotten an dem Heiligen Gottes ausüben durften, so könnte man auf den Gedanken kommen, daß eine Gottverlaßenheit in allen den schweren Leiden JEsu liege, den leiblichen und den geistlichen, die Ihm von Creaturen zugefügt wurden. Die Leiden Anderer sind keine Gottverlaßenheit, sie können im Gegentheil Gottes Nähe und große Gnade Gottes sein; dagegen aber die Leiden JEsu hätten allerdings nicht stattfinden können, wenn er sich nicht von aller eigenen Macht entkleidet und alle Macht Seines Vaters und der himmlischen Heerschaaren entbehrt hätte, und es möchte daher das tiefe Gefühl JEsu Christi, welches im ersten Verse des 22sten Psalmes ausgesprochen ist, zum Theil schon auf diese Weise gedeutet werden können. Er fühlte an seiner schweren Kreuzespein, wie einsam sein Weg ist, und wie hilflos sein Gang.

|  Wir können die bereits gefundene Deutung der Gottverlaßenheit noch dadurch steigern, daß wir gemäß dem zweiundzwanzigsten Psalm hinzusetzen: Der HErr fühlt nicht blos Seine Verlaßenheit, sondern er betet um deren Hebung. Er spricht: „Unsere Väter hofften auf Dich, und da sie hofften, halfest Du ihnen aus. Zu Dir schrieen sie und wurden errettet, sie hofften auf Dich und wurden nicht zu Schanden.“ Er fühlt Sich aber auch in dem vollen Gegenteil. So war es bei den Vätern: „Ich aber bin ein Wurm und kein Mensch, – ein Spott der Leute und Verachtung des Volks; ich heule, aber meine Hilfe ist fern; mein Gott, des Tages rufe ich, so antwortest Du nicht und des Nachts schweige ich auch nicht.“ Er fühlt also nicht blos Sein Leid, und die Ursache desselben, die Gottverlaßenheit, sondern Er kann es auch nicht wenden, Seine Noth liegt auf ihm, Er will Sich nicht helfen, und weil das alles zur göttlichen Absicht gehört, so hilft Ihm auch sonst niemand, auch nicht Sein Vater; gebunden von eigenem und fremdem Willen hängt Er da zwischen Himmel und Erde an etlichen Nägeln und in Ihm haust das grausige, immer mächtiger um sich greifende Weh des bittern, von allem Troste Gottes und der Creaturen entleerten Todes.

 Doch dies alles miteinander ist ja noch keine wirkliche Erklärung der Gottverlaßenheit, Zeichen und Gefühl der Gottverlaßenheit sieht und erkennt man aus dem allen; aber was ist die Gottverlaßenheit selbst?

 Es ist die Frage, meine lieben Brüder, ob wir nach der Erfahrung unseres hiesigen Lebens nur irgend befriedigend sagen können, was Gottverlaßenheit sei. So lange wir hier auf Erden wallen, geht uns die ewige Hirtenliebe nach, und| bringt unserer Seele die Gnade Gottes irgendwie nahe: wir können die Nähe Gottes mehr oder minder inne werden, aber verlaßen von Gott ist doch keiner, so lange die Gnadenzeit währt. Wir fühlens dem Worte „Gottverlaßenheit“ an, was für ein grauenvoller und furchtbarer Zustand der sein muß, den es andeutet; es mag uns zuweilen eine Ahnung durchzittern, oder ein Blick in die grausige Nacht durchzucken, aber die Hand des HErrn hat es uns dennoch gnädig verhüllt, was Gottverlaßenheit sei. Man könnte zwar sagen, das Wort sei klar: Verlaßen sein von Gott, sei nicht eine Zurückziehung des Menschen aus der Nähe Gottes, sondern eine Zurückziehung Gottes von dem Menschen, Gott laße da den Menschen seine Wege gehen, regele und leite nicht, greife nicht drein und helfe nicht und das sei, wol überlegt, etwas so Erschreckliches, daß die Herzen darüber beben sollten, wie die Bäume im Walde. Es ist auch wahr, schon diese Worterklärung kann Herzen beben machen. Aber es ist auf der andern Seite auch wahr, daß damit für uns vielleicht irrende, aber von dem HErrn immerdar gesuchte Schafe doch noch kein Innewerden und kein Ergreifen des Zustandes vorhanden sei, von dem wir reden. Die Auffaßung des Wortverstandes kann unsere Herzen beben machen, wie viel mehr aber wird das reine gottverlobte Herz Christi durch die volle tiefe Erfahrung des Zustandes selbst durchdrungen gewesen sein. Wovor wir bei einem bloßen Versuche, es begrifflich aufzufaßen, bei einer bloßen Ahnung, bei einem bloßen aufgethanen Blick erschrecken, – was unsere Seele schon tödtlich erkranken macht, wenn uns ein kleines Tröpflein davon gereicht wird, das hat der HErr am Kreuz mit vollen Zügen getrunken, das hat ihn überflutet. Der Zustand,| den der Teufel in seiner unrettbaren Verdammnis – denn Gottverlaßenheit ist doch gewis Verdammnis, – in finsterem Brennen fühlt, zu deßen Ertragung Er seine eiserne, stählerne, diamantene Verhärtung anwendet, obwohl es ihm nicht gelingt, – der Zustand des Satans und seiner Verfluchten, der ists, welcher nun in die weiche, sanfte, reine Seele des Gekreuzigten ausgegoßen wird, und den Er nunmehr zur Versöhnung aller Kinder des Todes zu schmecken hat. Er selbst hat nie, seitdem Er im zeitlichen Dasein gewesen, auch nur mit einem Gedanken Seinen himmlischen Vater verlaßen; auch Ihn verließ der himmlische Vater nie, sondern Sein vollkommenes Wolgefallen ruhte unablässig auf Ihm und in Ihm; das Herz des Heiligen in Israel hatte bisher niemals auch nur mit der leisesten Ahnung den jammervollen Zustand der Gottverlaßenheit erfaßt, diese Höllenqual, diese Noth des ewigen Todes; aber jetzt hat er nicht bloß eine Ahnung, oder ein Gefühl, sondern er hat die volle Erfahrung, und Seine heilige reine Seele ist nun belastet mit demjenigen, was den Satan, seine Engel und die verlorne Menschenseele ewig belasten wird. Es kann nicht ewig auf Ihm bleiben, denn der Vater hat Ihm gegeben, das Leben zu haben in Ihm selber, das Leben aber, das älter und mächtiger ist, als der Tod, muß wol den Tod überwinden; aber das ist eben nunmehr die Aufgabe des Erlösers geworden, in den drei bangen finstern Stunden für uns alle den Tod zu schmecken, den Tod der Gottverlaßenheit; in diesem Dulden, diesem Leiden, dieser Noth ist Er jetzt. Er weicht deswegen von dem Gott nicht, der Ihn verlaßen hat, sondern Seine Seele läuft ihm sehnsüchtig nach. Wie einst Jakob an| der Furth Jabok gerufen hat: „ich laße Dich nicht, Du segnest mich denn,“ so läßt auch Er nicht, auch nicht in der Qual der Hölle Denjenigen, welcher, – wer kann es begreifen? – Ihn verläßt anstatt unser und Ihm statt unser die Hölle gibt, eine Hölle, die Er fühlen muß, und die doch, an Ihm persönlich nichts Verwandtes findet, in der Er unverschuldet hängt und die Ihn schon deshalb nicht behalten kann, denn wie kann ein reines Herz in der Hölle bleiben. – Ich habe mich bei dieser Reihe von Gedanken nicht bloß aus Schwachheit, sondern auch aus Vorsatz vor allem gemütlichen Beschreiben des Zustandes der Gottverlaßenheit gehütet; ich kann und will nicht tiefer und nicht mehr auf dieses Thema eingehen; ach ich will gar nicht mehr lernen, was Gottverlaßenheit sei; ich will am allerliebsten vor diesem Worte schauernd und das Gegenteil suchend wie vor einer dunklen Pforte der Verdammnis vorübergehen. Ich habe genug von dem Zustand gesagt, obwol ich im Grunde nichts gewußt habe. Das ist und sei der Unterschied zwischen Christo und mir, daß ich nicht einmal zu wißen, geschweige zu erfahren brauche, was auf Ihm lastet. Was weiß ich im Grunde mehr als die Soldaten, die sein Geschrei: Eli, Eli, für eine Anrufung des Elias gehalten haben? Ich bin gerne unwißend und will ewig nicht wißen, was Gottverlaßenheit sei. Es ist genug für mich, zu erkennen, daß JEsus stundenlang getragen hat, was mich in einer einzigen Sekunde unheilbar und ohne alle Rettung treffen würde. Wollt ihr mehr wißen, so suchts euch, ich aber bin gerne ein Stümper, und eile, wie zu einem rettenden Asyle, zu meinem zweiten Theile.


|
2.

 Wenn ich auch bei der Betrachtung der Person, die verlaßen ist, die Verlaßenheit selbst nicht aus dem Gedächtnis verlieren kann, so ist mir doch die Erinnerung an diese Person ein Heilmittel wider den erschreckenden Gedanken des ewigen Todes und der Verlaßenheit; ja ich kann den Gedanken der Verlaßenheit selber eher ertragen, wenn ich die Person erwäge, welche die Verlaßenheit ertrug, und ich bin um etwas heiterer und fröhlicher selbst in den dunkelen Stunden meines HErrn, wenn ich Seine Füße umfaße und mich geistig an Ihn halte. Also wolan, laßt uns die Frage erwägen: wer ist denn verlaßen? Erwägen, sage ich, denn gelegentlich mußte sie schon bisher immer und immer wieder besprochen werden.

 Wer ist es, der hier im tiefsten Sinne des Wortes von Gott verlaßen hängt? Es ist Der, der einzig, wie kein anderer, für Seine Zeitgenoßen, für die Vorwelt und Nachwelt gelebt hat, der da sagen konnte, ich bin nicht gekommen, daß ich mir laße dienen, sondern daß ich diene und gebe mein Leben zu einer Erlösung für viele. Er ist drei Jahre und drüber eine Freude gewesen aller frommen Herzen, die Genesung der Kranken, die Gesundheit der Siechen, der Brodschaffer der Hungrigen, das Leben der Todten, das Licht der Irrenden, ein Wolthäter für Sein Volk und deßen Gäste, ein Geruch des Lebens und der Genesung auch in die weite Ferne. Sein Jünger Petrus hat Ihm später den kurzen aber treffenden Lebenslauf geschrieben: „Er ist umher gegangen und hat wolgethan.“ Die hilfreichsten Füße sind angenagelt, die mildesten Hände durchbohrt, das wolwollendste| Haupt von Dornen zerrißen. Das Herz, das nur für andere, nur zu ihrem Segen geschlagen hat; der Geist, welcher aller Welt Wolfahrt bedacht hat und nichts anderes; die Seele, die sich für alle dahingibt, ist verlaßen, verlaßen von wem? Von Dem, der Ihn am höchsten liebt, am besten kennt, am tiefsten durchforscht, alle seine Absichten und Gedanken theilt, alle seine Thaten und seine Worte besiegelt, der aus der Stille des ewigen Lebens heraus mehr als einmal mit starken Worten vor aller Welt bezeugt hat, daß Er Sein Wolgefallen an ihm habe.
.
 Aber vielleicht ist es etwa so, wie manchmal bei menschlichen Wolthätern, daß der Wolthätigkeit der Unternehmungen und dem Nutzen des öffentlichen Daseins die innere sittliche Würdigkeit nicht entspricht? Man wird ja doch auch einst viele, die auf Erden als Wolthäter des menschlichen Geschlechts gepriesen werden, in der ewigen Gottverlaßenheit finden, weil sie zwar alle ihre Werke zum Nutzen anderer wirkten, aber die Rettung ihrer eigenen Seele und die Heiligung ihres Gemüthes verabsäumten, innerlich von Selbstsucht oder Hochmuth durchfreßen waren, Andern schöne Rosen trugen, selbst aber spröde Dornsträuche blieben, die ewig zu nichts taugen, als knisternd im Feuer zu brennen. Ehe ich noch die Anwendung auf unsern HErrn mache, entschließe ich mich, sie nicht zu machen; es ist nicht der Mühe werth, denn es weiß jedermann das Gegenteil. Dieser JEsus ist nicht bloß von den Menschen bewundert, welche die Absichten nicht erkennen, Herz und Nieren nicht zu erforschen vermögen: Er ist reines Gewißens und nennt daher den Vater im Himmel in unserem Texte: „mein Gott, mein Gott!“ Ja Er ist ein Besitzer Gottes, und Gott besitzt Ihn. Solcher Anbeter Gottes und solch gottgeliebter| Mensch ist von Anfang her auf Erden nicht gewesen. Daher auch nicht bloß Sein eigenes Gewißen Ihn ermächtigt, in größeren Qualen, als Hiob, ich sage nicht, litt, sondern ahnen konnte, und in schönerer Weise als Hiob sich auf Gott den HErrn Selbst zu berufen und das freieste Gewißen auszusprechen; sondern Gott Selbst wie Seine Werke, so Seine Heiligkeit anerkannte und Ihn Seinen lieben Sohn nannte. Und dieser also nicht bloß größte Wolthäter, sondern heiligste Mensch, dieses unerreichbare, einzige Beispiel der Lauterkeit und Reinigkeit, diese, man möchte sagen, persönliche Vereinigung aller Vollkommenheit und Tugend hängt da am Kreuze und in der finstern Nacht der Gottverlaßenheit.
.
 Wenn wir damit auf den höchsten Gipfel der Betrachtung gekommen wären, und die Frage, wer ist Der, der da litt, keiner weiteren Erledigung bedürfte: so würde uns schon das Gesagte große Verlegenheit bereiten. Diese Person und dies Ergehen und Leiden bis zur Gottverlaßenheit stimmen so durchaus nicht zusammen, daß wir uns bereits im schreiendsten grellsten Widerspruch befinden. Aber wir sind ja noch nicht einmal in der vollen Kenntnis der Person, sondern wir dürfen nur einen Schritt weiter gehen nach der katechetischen Erkenntnis, die uns von Jugend auf mitgetheilt ist, so wird uns der Widerspruch der Würdigkeit und des Ergehens bis zu einer schwindelnden Höhe führen, auf der wir nichts mehr begreifen, als das eine, daß hier Gottestiefen sein müßen, aus denen sich alles erklären müßte, wenn man sie erkennen würde. Dieser Mensch am Kreuz ist ja der Menschensohn, der andere Adam, der Christus Gottes, ja nicht bloß ein Mensch, auch nicht bloß ein Geschöpf, sondern Er hat zwei Naturen,| eine menschliche und eine göttliche, durch Ihn sind alle Dinge geworden, durch Seinen Willen haben sie das Wesen, Er ist Gott, gelobet in Ewigkeit, – und doch von Gott verlaßen! Man könnte sagen, nach Seiner Gottheit sei Er nicht verlaßen, sondern nur nach Seiner Menschheit. Aber ist denn damit die Schwierigkeit gelöst, hat man damit eine eigentliche Einsicht? Seine göttliche Natur ist ja doch nicht von der menschlichen getrennt, sondern mit ihr unzertrennlich vereinigt, Eine Person mit der Menschheit geworden: Er, Er selbst, diese einzige Person, in welcher der Schöpfer und das Geschöpf vereinigt sind, Er ist von Gott verlaßen, und es muß dieser Ausdruck irgend eine Beziehung auf beide Naturen und damit volle Wahrheit haben. Das nenne ich eben die schwindelnde Höhe, die gotteswürdige, die alles, was vorher gewesen ist und noch ist, übertreffende. Die Person, die am Kreuze hängt, heißt Wunder, und ist ein unbegreifliches Geheimnis und macht eben dadurch die Gottverlaßenheit selber zu einem unbegreiflichen Geheimnis, für welches es vielleicht auch in den fernen Ewigkeiten keine creatürliche Erkenntnisstufe gibt. Ohne Zweifel wird aus diesem undurchdringlichen Geheimnis Segen für die armen Menschen quillen, und was an sich unergründlich und über die menschliche Faßungskraft hinausliegt, das muß doch auch so viel Licht ausstrahlen und von sich geben, daß diejenigen, um deren willen das alles geschieht, Lebenslicht und Luft bekommen können. Wenn wir gleich blind sind für die Tiefen des unaussprechlichen ewigen Geheimnisses, so kann es doch nicht möglich sein, daß der ungeheuerste Widerspruch vor aller Menschen Augen öffentlich hingestellt und obendrein von Propheten und Aposteln gepredigt ist, nur daß wir| unsere Unwißenheit erkennen, sondern es muß eine Lösung geben und gibt auch eine, die uns mit Licht und Klarheit erfüllt, uns demüthigen und erhöhen kann, – und diese nehmen wir eben aus der Antwort auf die Frage des HErrn, warum, warum hast Du mich verlaßen?


3.
 Es ist eine eigene Sache mit den Wörtchen „warum“. Wir setzen es im Deutschen nicht bloß, wenn wir nach dem Grunde, sondern auch wenn wir nach der Absicht forschen, und übersetzen die Wörter von beiderlei Bedeutung mit dem Einen Ausdruck, verhüllen dadurch den Sinn der fremden Sprache. Sieht man nun hier an unserer Textesstelle den Ausdruck an, welchen die Grundsprache gebraucht, so wird man fast mehr geneigt, das deutsche Wort im Sinne von „wozu“ oder „zu welcher Absicht“ zu verstehen. Faßt man es also, so hätte der HErr am Kreuz bei den ausgesprochenen Worten in der Finsternis Leibes und der Seele, die auf Ihm lastete, weniger nach der Ursache, als nach der Absicht Seiner Leiden geforscht. Indem es nun aber scheint, wie wenn auf diese Weise die Faßung der Rede JEsu richtiger geworden wäre, und mehr Licht in sie gefallen, findet man doch bald wieder, daß der Gewinn kein großer ist. Nicht bloß geht die Frage nach der Ursache sehr oft innig mit der nach der Absicht zusammen, sondern wir sind bei dem einen wie bei dem andern Sinn des Wortes „warum“ immer in der gleichen Verlegenheit, nämlich in der, ob wir denn annehmen müßen, daß der HErr am Kreuze, die Person, von der wir im zweiten Theile geredet haben, während der äußeren Finsternis in eine solche| innere gekommen sei, daß Ihm Selbst die Einsicht in die Ursache oder in die Absicht Seiner Leiden entzogen wird. Bei den ersten und den letzten Worten vom Kreuze hat Er gewis den klaren Blick gehabt, aber wie wars bei dem mittleren? Als Johannes in Machärus saß, und ihm die Werke Christi berichtet wurden, ließ er JEsum fragen: Bist Dus, oder bist Dus nicht, und weil es so etwas Außerordentliches ist, daß der Morgenstern selbst an der Sonne zweifelhaft wird, von welcher er das Licht empfieng, so sind die Ausleger, und unter ihnen was für Namen! auf den Gedanken gekommen, Johannes habe mit der täuschenden Frage nur seinen Jüngern Gelegenheit geben wollen, aus JEsu eigenem Munde die selige fröhliche Warheit zu vernehmen. Ich halte das für eine völlig unnöthige Auslegung und bleibe wie immer so lange am Wort, als mich das Wort selbst nicht zwingt, versteckteren Sinn zu suchen. Sollte nun aber etwa das letztere hier bei dem vierten Worte JEsu der Fall sein? Ist es denn möglich anzunehmen, daß der HErr am Kreuze so von Gott verlaßen worden sei, daß Ihm der Zusammenhang Seiner Leiden mit Seinem Leben vorher und nachher, von der Menschwerdung bis zur ewigen Verklärung vergieng? Soll man annehmen, daß Seine Schmerzen, Seine Angst, Seine Einsamkeit und Versuchung Ihm alles wegnahm, alle Erkenntnis Seines Werkes, nur nicht Sein gutes Gewißen, welches sich in dem Ausruf: Mein Gott! mein Gott! und in dem doch immer auch noch einigermaßen zu betonenden Wörtchen „mich“ ausspricht? Ich muß es gestehen, daß mir vor einer solchen Tiefe Seiner Leiden nur desto mehr graut, dennoch aber scheint mir die Auslegung, als habe der HErr mit Seinem „warum“ nur andere veranlaßen| wollen, diese Frage aufzuwerfen und zu lösen, so pur misglückt, so gar nur einer menschlichen Deutung ähnlich, daß ich mich am Ende lieber zu dem Wort verstehe, so wie es dasteht, und ohne Auslegung glaube, es sei dem HErrn beschieden gewesen, in eine solche Finsternis hinein zu kommen, daß Er auch den Blick in das Reich Gottes und in Seinen eigenen Weg, in diese lichte Milchstraße aller geschichtlichen Dunkelheiten, selbst verlor. Da liegt dann eigentlich in der Frage „warum“ das grauenvollste Zeichen und Zeugnis Seiner Verlaßenheit und es wird dadurch, alles Vorige dazu genommen, der Zustand JEsu so schrecklich, (ich würde sagen, so verzweiflungsvoll, wenn Er, der große Heiland, nicht völlig frei von Verzweiflung geblieben wäre,) daß mir dies Wörtchen „warum“ zum höchsten Gipfel aller Seiner Leiden wird.
.
 Da wäre denn also Ihm das Verständnis Seines Weges auf ein Weilchen entnommen worden, und Er an Erkenntnis des Heilsweges unter die Engel, ja vielleicht unter Maria, Seine Mutter, erniedrigt worden, auf daß uns desto weniger irgend einmal der Blick in unser Heil und in das Reich Gottes vergienge. Er hätte sich dann bei der Macht und Last Seiner Leiden selbst an gar nichts mehr halten können, als an Sein gutes unsträfliches Gewißen, und an Seine Frömmigkeit, mit der er Gott ergriff, damit wir uns an eben dasselbige Gewißen unsers Erlösers und an Seine unüberwindliche Frömmigkeit desto mehr halten, Sein Verdienst damit beweisen und auf Grund desselben um Gnade flehen könnten, wenn uns all unser Gewißen dahinsinkt und nichts übrig bleibt, als die offenen Wunden JEsu und Sein uns zum ewigen Wohle, so weit wir es bedürfen, klar beantwortetes „warum.“ HErr JEsu, ich armer elender Mensch| und blinder Geist, ich weiß aus welcher Ursach und zu welcher Absicht Du verlaßen worden bist. Was Dir zu meiner Seligkeit verhüllt wurde, damit Du ganz mein Erlöser würdest, das ist mir von Jugend auf gepredigt und gesagt. Die Ursach Deiner Gottverlaßenheit bin ich, ich verlorner, verdammter Sünder, und die Absicht aller Deiner Qualen bin wieder ich, ich von Dir gefundenes und gesuchtes Schaf. Weil ich meinen HErrn und Gott verließ, ich Sünder, hat Dich, Du heiliger göttlicher Erlöser, Du reiner Hoherpriester, Dein Gott verlaßen; ich habs verdient, und damit es mir nicht zu Theil würde, ist es Dir zu Theil geworden. So liegt Dein „warum,“ ein Wort, das mit seinen Gottestiefen, seinen Menschentiefen und seinen Satanstiefen aller Forschung spottet, dennoch vor meinem Auge in so weit klar, daß ich Dir zu Füßen fallen und Dir zurufen kann: Warum, HErr, warum willst Du wißen? Ich sags mit tausend Reue und Dank, ach laß michs nie vergeßen, am wenigsten, wenn ichs am meisten bedarf: Meinet-, meinet-, meinetwegen und um aller meiner Brüder willen bist Du verlaßen worden und Deine Absicht, welche Dir in Schatten und Dunkel zurücktrat, die Du Selbst gehabt hast, wie Du in diesen Kampf gegangen, die Du auch erreicht hast, war mein und meiner Brüder ewiges Heil, und unsere Aufnahme in die ewige Gemeinschaft des Dreieinigen und Seiner heiligen Engel.
.
 Da stehe ich nun im Geist vor Deinem Kreuze, rühme und preise Deine Absicht und Dein Leiden, und gebe Dir mit meinen Brüdern Preis und Ehre und Dank, Lobgesang und Opfer für alles, was Du gelitten, insonderheit für das große unbegreifliche Leiden Deiner Gottverlaßenheit, über welche Du geklagt hast.| Ich bin reich in Dir und selig in Dir, schon in der Zeit, und wie erst in der Ewigkeit. Ich bin aber alles nur in Dir und durch Dich, und fühle mich nicht minder gedemüthigt, als erhoben, nicht minder jetzt klein, als beim Eingang dieser meiner Rede: ich bin selig, aber doch nur ein Stäublein, das in Deinem Sonnenstrahle tanzt, ein Nichts, das Du zu etwas gemacht hast durch Deine Vernichtigung am Kreuze, wenn man so sagen könnte; ich bin so nichts, so arm, dazu so bös, daß ich von Deinem vierten Worte heute nur Abschied nehmen kann, indem ich versuche, eine mir ebenso unbegreifliche Parallele zu ziehen. Du rufst in tiefstem Jammer: Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlaßen? Ich rufe zerknirscht und dennoch selig entgegen: Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich nicht verlaßen, warum mich erwählt und berufen und gesammelt und erleuchtet und gerechtfertigt und geheiligt und bis hieher erhalten, – warum wirst Du mich auch vollenden? Warum, rufe ich, nicht weil ichs nicht wüßte, sondern ich frage es, weil mich die Antwort drängt und treibt, und ich sie vor aller Welt geben und bekennen möchte: Die Ursach, die Ursach, bist Du allein, HErr JEsu, und Deines Vaters freie Gnade. Amen!




« Kapitel 3 Wilhelm Löhe
Sieben Vorträge über die Worte JEsu Christi vom Kreuze
Kapitel 5 »
Für eine seitenweise Ansicht und den Vergleich mit den zugrundegelegten Scans, klicke bitte auf die entsprechende Seitenzahl (in eckigen Klammern).