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 Wir können die bereits gefundene Deutung der Gottverlaßenheit noch dadurch steigern, daß wir gemäß dem zweiundzwanzigsten Psalm hinzusetzen: Der HErr fühlt nicht blos Seine Verlaßenheit, sondern er betet um deren Hebung. Er spricht: „Unsere Väter hofften auf Dich, und da sie hofften, halfest Du ihnen aus. Zu Dir schrieen sie und wurden errettet, sie hofften auf Dich und wurden nicht zu Schanden.“ Er fühlt Sich aber auch in dem vollen Gegenteil. So war es bei den Vätern: „Ich aber bin ein Wurm und kein Mensch, – ein Spott der Leute und Verachtung des Volks; ich heule, aber meine Hilfe ist fern; mein Gott, des Tages rufe ich, so antwortest Du nicht und des Nachts schweige ich auch nicht.“ Er fühlt also nicht blos Sein Leid, und die Ursache desselben, die Gottverlaßenheit, sondern Er kann es auch nicht wenden, Seine Noth liegt auf ihm, Er will Sich nicht helfen, und weil das alles zur göttlichen Absicht gehört, so hilft Ihm auch sonst niemand, auch nicht Sein Vater; gebunden von eigenem und fremdem Willen hängt Er da zwischen Himmel und Erde an etlichen Nägeln und in Ihm haust das grausige, immer mächtiger um sich greifende Weh des bittern, von allem Troste Gottes und der Creaturen entleerten Todes.

 Doch dies alles miteinander ist ja noch keine wirkliche Erklärung der Gottverlaßenheit, Zeichen und Gefühl der Gottverlaßenheit sieht und erkennt man aus dem allen; aber was ist die Gottverlaßenheit selbst?

 Es ist die Frage, meine lieben Brüder, ob wir nach der Erfahrung unseres hiesigen Lebens nur irgend befriedigend sagen können, was Gottverlaßenheit sei. So lange wir hier auf Erden wallen, geht uns die ewige Hirtenliebe nach, und