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Freilich, was ihr den jungen Mann, der fortan ihr Schicksal war, auf der einen Seite noch näher gebracht hatte, hatte ihn auf der anderen, wie sie meinte, nur noch weiter von ihr entfernt. Was sollte sie einem Dichter sein? Sie hätte, als Wolfgang sich zu seinem heimlichen Poetentum bekannte, mit dem Kopfe nicken mögen, wie man wohl thut, wenn man die Bestätigung für eine längst gehegte Vermutung erhält — sie hatte in ihm zuerst einen Menschen gefunden, von dem man unwillkürlich wähnt, er müsse alles können und wissen, so daß man förmlich erstaunt ist, wenn man eine Lücke entdeckt und gar nicht so recht an dieselbe glauben mag. Und wie hatte sie von Jugend auf die Liebe zur Poesie in sich gehegt und genährt! Sie hatte für die süßliche Manier der Elise Polko geschwärmt, sie hatte Rückerts „Liebesfrühling“ für die zarteste und duftigste Blüte germanischer Liebesinnigkeit gehalten und „Waldmeisters Brautfahrt“ von Otto Roquette hatte sie begeistert; sie hatte später diese Manier raffiniert und widerlich gefunden, Rückerts tändelnde Versklingelei hatte sie gelangweilt und das Roquettesche Büchlein hatte sie durch seine Banalitäten abgestoßen — sie hatte sich Heine, Meißner, Lenau zugewendet und alle die zierlich und teilweise prächtig gebundenen Bändchen, bei deren Auswahl man viel mehr auf die Arbeit des Buchbinders als auf die Leistung des Dichters gesehen hatte, in das unterste Fach ihres Bücherschranks verbannt. Niemand hatte sich bemüht, diese Wandlung ihres Geschmacks herbeizuführen, niemand hatte dieselbe auch nur befördert; sie war nicht erst durch den Tod der Eltern darauf angewiesen worden, ihren eigenen Weg zu gehen, denn von diesen Bedürfnissen und Genüssen ihres einzigen Kindes hatten die Guten bei ihrem einfach-praktischen und nüchtern-verstandesmäßigen Sinn kaum eine Ahnung gehabt und sie hätten ihr auch nicht zu raten gewußt, da ihnen für diese Welt des Gefühls und der Phantasie alles Verständnis abging. Martha war immer sehr einsam gewesen; sie hatte nie zu glänzen gesucht, um auf diese Weise ein Interesse für sich zu wecken, und wenn Menschen, die ihr hätten in ihren geistigen Nöten helfen können, ihren Weg gekreuzt hatten, so waren sie achtlos an der Stillen, Unscheinbaren vorübergegangen, die nicht jeder Annäherung auf halbem Wege entgegenkam, sondern erst prüfen, ergründen, sich vergewissern zu wollen schien und dadurch leicht den Eindruck ablehnender Kühle machte. Selbst zu den gewöhnlichen intimen Mädchenfreundschaften hatte es dieser Grundzug ihres Charakters nicht recht kommen lassen wollen; man hatte die allezeit Milde und Hilfsbereite überall gern, ja lieb, aber nur eine hatte ein Recht gehabt, sie ihre Vertraute zu nennen. Und auch das war ein einseitiges Verhältnis gewesen; Martha hatte die Bekenntnisse der älteren Freundin, die viel geliebt, viel geirrt und viel gelitten hatte und die bei ihrem heftigen, reizbaren Wesen zu pessimistischen Anschauungen kommen mußte, die sie mit Ironie und Sarkasmus aussprach, teilnahmsvoll, halb träumerisch, halb ungläubig angehört — sie hatte den Kopf geschüttelt und es nicht glauben mögen, daß die Welt wirklich so arm an Liebe und Treue sei, wie die Freundin

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Rudolf Lavant: Ein verlorener Posten. Goldhausen, Leipzig 1878 und 1902, Seite 46. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ein_verlorener_Posten_46.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)