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verschiedene: Die Gartenlaube (1895)


Die Haupterrungenschaft auf diesem Gebiet ist das Antipyrin, dessen überraschende Wirkung es zuwege gebracht hat, daß dasselbe seit geraumer Zeit allenthalben kritik- und verständnislos gebraucht und mißbraucht wird.

Eine Hauptschuld an dieser bedenklichen Popularisierung des Antipyrin trug bisher auch die leichte Zugänglichkeit desselben, der Handverkauf in Apotheken – und wohl auch an illegitimen Stellen – sowie das öffentliche Anpreisen, wodurch der Schein erweckt wurde, als hätte man es mit einem gänzlich unschuldigen Mittel zu thun. Wiederholt aber wurde in medizinischen Zeitschriften von gefährlichen Vergiftungserscheinungen berichtet, die sich zuweilen selbst nach geringen Mengen dieses Mittels eingestellt haben. In Anbetracht dessen kann vor dem eigenmächtigen Gebrauch dieses trügerischen Mittels nicht dringend genug gewarnt werden. Behördlicherseits ist deshalb auch der Handverkauf des Antipyrin untersagt worden. Es wäre sehr wünschenswert, wenn das gleiche Verbot des Handverkaufs auch auf die Mehrzahl der anderen Kopfschmerzenmittel, wie Chinin, Bromkali, Phenacetin, Antifebrin etc., ausgedehnt würde, damit der willkürliche Gebrauch derselben erschwert würde. Der an Kopfschmerzen leidende Teil der Menschheit muß zu der Erkenntnis gelangen, daß sein Heil nicht in der Apotheke, sondern in einer nach hygieinischen Grundsätzen zu gestaltenden Lebensweise zu suchen ist. Nur auf diesem Wege ist ein Zurückdrängen des Feindes, der bereits übermächtig zu werden droht, noch zu erhoffen.



Blätter & Blüten.


Die „letzten Goten“. (Zu dem Bilde S. 4 und 5.) Die Geschichte der Ostgoten in Italien liest sich wie eine erschütternde Tragödie. Erst entsteht nach den Siegen Theoderichs des Großen im Jahr 493 nach Christus ein mächtiges Reich, das, bald von der kraftvollen Faust Theoderichs zusammengehalten, ganz Italien, Sicilien und Dalmatien umfaßt und bis zur Provence hinübergreift; dann nach dem Tode dieses Großen häßliche innere Kämpfe um den Thron, die es dem Kaiser des römischen Ostreichs, Justinian, und seinem Feldherrn Belisar gestatten, die Waffen siegreich gegen die Germanen zu kehren und ihnen ein Stück des Landes um das andere zu entreißen; endlich in Totilas wieder ein echter Gotenkönig, tapfer und edelmütig, glücklich im Feld, so daß er rasch ganz Italien zu seinen Füßen sieht. Aber Narses, der neue Feldherr Justinians, besiegt zuletzt auch ihn und Totilas fällt auf der Flucht. Sein Nachfolger Tejas hat 552 das gleiche Geschick: in sechzigtägiger Schlacht kämpft er an der Spitze seiner Helden den Verzweiflungskampf gegen Narses, um endlich an den Abhängen des Vesuv den Waffentod zu finden. Das ist der Schluß dieser Tragödie. Den wenigen Ostgoten, die übrig geblieben waren, bewilligte Narses freien Abzug. Sie wurden in die Fremde verschlagen und sind verschollen.

Es ist kein Wunder, daß dieser erschütternde Stoff einen Dichter von der Kraft Hermann Linggs zu poetischer Gestaltung zwang. Eines der schönsten Kapitel in seinem machtvollen Epos „Die Völkerwanderung“, das kürzlich eine neue Auflage erlebte, schildert die „letzten Goten“, ihren Kampf und Sturz. In gewaltigen Bildern führt uns Lingg jene Schlachten am Vesuv vor, den Fall des Tejas, und dann die große Scene, in deren Ausmalung unser Künstler dem Dichter treu gefolgt ist, wie die letzten Goten die Leiche ihres Königs von der Höhe niedertragen, der Fremde zu, vorbei an Narses, ihrem Besieger:

 – – – –0 Die Goten zogen
An ihm vorüber, der verschrumpft und bleich
In einer Sänfte lag zurückgebogen,
Mehr einem Weib als einem Manne gleich.
In ihren Waffen, stolz wie stumme Wogen,
Verließen sie das alte Gotenreich,
Und von den Alphöh’n sah’n sie nach der Wiege
Des Ruhms zurück, ins Land noch ihrer Siege.

„Schlaft alle wohl im Grund des Erdenschoßes,
Die ihr auf fremder Erde fielt! Vollbracht
Habt ihr, wie noch kein Volk vorher so Großes,
Es ist gethan, der Lohn ist Tod und Nacht.
Doch blüht am Endziel unsres Unglücksloses
Ein neuer Tag, aus Kampf und Müh’ erwacht.
Das große Romreich stürzten wir zusammen,
Wir Goten, die wir von dem Himmel stammen.“

So sangen sie, ein Echo ihrer Klage
Ward in der Wüste des Gebirges laut,
Und über einem Riesensarkophage,
Von hohen Felsentrümmern aufgebaut,
Schoß eine Schneelawin’ im Donnerschlage
Zum Abgrund nieder: alle riefen: „Schaut,
Das waren wir“, und trugen ihren Toten
Zur alten Heimat hin, die „letzten Goten“.

Nydia. (Zu dem Bilde S. 9.) Es gab eine Zeit, wo Bulwers Roman „Die letzten Tage von Pompeji“ das ganze europäische Publikum begeisterte: er gehört jedenfalls zu den vorzüglichsten Werken des geistreichen englischen Romanschriftstellers und ist in neuester Zeit das Vorbild für deutsche Römerromane geworden. Die anziehendste Frauengestalt dieses Romans ist die blinde Thessalierin Nydia, mit ihrer rührenden Liebe zu Glaucus. C. von Bodenhausen führt uns in seinem Bilde dies anmutige Blumenmädchen vor, wie es das Haus des Glaucus verläßt. Der Dichter selbst schildert uns das Mädchen in gar anmutender Weise. Sie war einfach, in eine weiße Tunika gekleidet, welche von den Schultern bis zu den Knöcheln reichte; unter ihrem Arm trug sie ein Körbchen mit Blumen, ihre Züge waren etwas ausgeprägter, als ihren Jahren zukam; doch sie waren sanft und weiblich und, ohne an sich schön zu sein, wurden sie schön durch die Schönheit ihres Ausdrucks; es war etwas unsagbar Edles, still Duldendes darin – etwas Sorgenvolles, Verzichtendes, und dadurch war wohl das Lächeln, doch nicht die süße Anmut von ihren Lippen verbannt; in ihrem Gang lag etwas Schüchternes und Zögerndes, in ihren Augen etwas Unstetes und das alles deutete auf das Leiden, das seit ihrer Geburt über sie verhängt war; sie war blind. Doch den Augen selbst merkte man es nicht an; ihr melancholisches und gedämpftes Licht war klar, wolkenlos und heiter. Doch der Maler zeigt uns das geschlossene Auge, die ganz in sich versunkene Seele. Und in der That, als Nydia das Haus des Glaucus verläßt, da ist sie in einer schmerzlichen verzweifelten Stimmung, dem Leben entfremdet, voll Todessehnsucht! Während der Abwesenheit ihres Herrn und Gebieters hat sie über den Garten und die Blumen gewacht; drei Tage sind verflossen seit seiner Rückkehr, drei sie tief beglückende Tage. Denn die Liebe zu ihm ist die ihr ganzes Leben beherrschende Empfindung. Und jetzt, nachdem er der Sklavin die Freiheit gegeben, schickt er sie fort zur Neapolitanerin Jone, der gefeierten Schönheit Pompejis, der sein Herz gehört – und sie soll dort für ihn sprechen und werben und sein Bild immer wach halten in der Seele des vielumworbenen Mädchens. Mit tiefer Wehmut scheidet sie von der Stätte, die ihrem Herzen so lieb geworden, im Herzen die Verzweiflung über eine Sendung, die von ihr das höchste Opfer verlangt! Als sie über die Schwelle des Hauses schreitet, bleibt sie noch einmal stehen und spricht leise für sich: „Drei glückliche Tage – Tage von unaussprechlichem Entzücken hab’ ich erlebt, seitdem ich dich überschritten, gesegnete Schwelle! Mag immer hier der Frieden herrschen, wenn ich gegangen bin! Mein Herz reißt sich von dir los – und es hat für mich kein anderes Wort als – den Tod!“ Das ist die Stimmung des Bildes. Mit künstlerischer Freiheit hat der Maler des Dichters Schilderungen gestaltet. Und wir sind überzeugt, daß das rührend schöne Bild manche unserer Leser und Leserinnen bestimmen wird, zu Bulwers interessantem Roman zu greifen und die Schicksale des blinden Blumenmädchens nachzulesen, welches, nachdem es Glaucus und Jone aus dem verwüstenden Aschenregen gerettet, unfähig, länger Zeugin zu sein des jetzt gesicherten Glückes, das die Liebenden genießen, sich vom Bord des Schiffes in die See stürzt.

Auf der Parforcejagd. (Zu dem Bilde S. 13.) Die ältesten Jagden, die uns Sage und Dichtung überliefert hat, waren Parforcejagden, und der alte Döbel glaubt sogar, daß der alte Nimrod der Erfinder derselben gewesen sei. Jarl Iron von Brandenburg jagt in der altnordischen Wilkinasage mit seinen Rittern zu Pferde im Walslönguwalde den Ur und fast genau dieselbe Jagd wird uns auch im Amelungenliede erzählt. Nach ganz bestimmten Weidmannsregeln wurde die Parforcejagd aber erst in „Tristan und Isolde“ abgehalten. Gottfried von Straßburg muß ein „gerechter“ Jäger gewesen sein, sonst würde er uns in seinem Epos nicht alle Bräuche, die zu seiner Zeit, zu Anfang des dreizehnten Jahrhunderts, bei solchen Jagden üblich waren, bis in die kleinsten Einzelheiten erzählt haben, und daß das, was er schrieb, keine Phantasien waren, ist daraus ersichtlich, daß diese Jagden fünf Jahrhunderte später noch fast ebenso ausgeführt wurden wie zu jener frühen Zeit. In Deutschland wurde die Parforcejagd erst während der Regierung Ludwigs XIV. aus Frankreich eingeführt, sie wird deshalb auch die „französische“ genannt und ebenso sind die Jagdausdrücke bei derselben die französischen geblieben.

Das Bild „Auf der Parforcejagd“ versetzt uns anderthalb Jahrhunderte zurück in die Blütezeit der Jagdart in Deutschland. Lassen wir einmal eine solche im Geiste an uns vorüberziehen. Ein Jäger hat früh morgens mit dem Leithunde, einer heute ausgestorbenen Rasse, den „jagdbaren“ Hirsch, der zehn oder mehr Enden trägt, „bestätigt“. Der Hund fällt jede Hirschfährte an und der Jäger erkennt aus der Größe derselben die Stärke des Geweihes. Ist der Hirsch genügend stark, so wird die Dickung „umschlagen“ (d. h. umgangen), um festzustellen, ob er stehen geblieben ist. Wenn es der Fall, so ist er „bestätigt“, wenn nicht, so wird die zweite oder dritte Dickung, in welche er getreten ist, mit dem Leithunde umzogen. Vor Beginn der Jagd werden an bestimmten Stellen des Forstes, von denen man erfahrungsmäßig weiß, daß der Hirsch, wenn er gejagt wird, an ihnen vorüber zu wechseln pflegt, „Relais“ gelegt (früher: „Warten gesetzt“), d. h. frische Hunde und frische Pferde aufgestellt, und wenn dann die Herrschaften, Herren und Damen, erscheinen, kann die Jagd beginnen.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1895, Seite 19. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_019.jpg&oldid=- (Version vom 15.7.2023)