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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

„Sie mögen recht haben,“ sagte er mit demselben starren, unheimlichen Ausdruck. „Es kommt von der Ueberarbeitung. Ich habe seit drei Nächten nicht geschlafen, aber ein paar Stunden der Ruhe werden mich völlig wiederherstellen und ich wiederhole, daß ich Ihnen gänzlich zur Verfügung stehe.“

Ernst blickte schweigend in das Gesicht des Mannes, dem der heutige Tag alles vernichtet hatte – ihn täuschte diese Ruhe nicht. Er hatte augenscheinlich eine Entgegnung auf den Lippen, unterdrückte sie aber und sein Auge flog zu dem Ausgange der Brücke hinüber, wo er vorhin gestürzt war bei der Flucht. Gerade an jener Stelle war der Seitenpfeiler niedergebrochen und die Eisentheile desselben hatten sich tief in das Erdreich eingewühlt. Dort hätte auch er zerschmettert und zermalmt gelegen, wenn eine rettende Hand ihn nicht dem Verderben entrissen hätte, vielleicht war ihm diese Hand nicht so fremd, als es den Anschein hatte.

„Ich muß hinauf und sehen, wie es mit dem Präsidenten steht,“ sagte er hastig. „Doktor Reinsfeld hat versprochen, die Nacht über bei uns zu bleiben, wir senden Ihnen Nachricht.“

„Ich danke,“ sagte Wolfgang, der nur rein mechanisch zu hören und zu antworten schien; seine Gedanken waren nicht bei dem Gespräch, und als Waltenberg sich von ihm wandte, schritt er langsam weiter, dem Orte zu, wo die Wolkensteiner Brücke einst – stand! –

Es war eine furchtbare Nacht, welche die Familie und Umgebung Nordheims durchlebte. Der Herr des Hauses kämpfte den letzten Kampf, einen langen, qualvollen Kampf, der nicht enden wollte. Unfähig, zu sprechen oder sich zu regen, aber bei vollem Bewußtsein, sah und fühlte er es, wie der Sohn des verrathenen, betrogenen Jugendfreundes, den er der Armuth und Entbehrung preisgegeben hatte, während er selbst mit den Früchten der geraubten Arbeit zu fürstlichem Reichthum emporstieg, sich abmühte, seine Schmerzen zu lindern und ihm das Sterben, das er nicht abzuwenden vermochte, wenigstens zu erleichtern. Man konnte nicht schonender und aufopfernder seine Pflicht thun, als Benno sie hier that, und vielleicht war gerade diese Aufopferung die schwerste Strafe für den Sterbenden. Im Angesichte des Todes hielten Lüge und Betrug nicht mehr Stand, da zeigte nur die Wahrheit ihr unerbittliches Antlitz und hier war es ein vernichtendes. Das schwere qualvolle Ringen dauerte ja nur eine einzige Nacht, aber in diesen wenigen Stunden drängte sich die Qual eines ganzen Lebens und die Vergeltung für ein ganzes Leben zusammen.

Als der Morgen endlich anbrach, ein grauer, trüber Nebelmorgen, da waren Kampf und Qual zu Ende und da war es Benno Reinsfelds Hand, welche dem Todten die Augen zudrückte. Dann hob er sanft die schluchzende Alice empor, die an der Leiche des Vaters in die Kniee gesunken war, und führte sie fort. Er sprach kein einziges Wort der Liebe oder Hoffnung zu ihr; das wäre ihm in dieser Stunde wie Frevel erschienen, aber die Art, wie er den Arm um sie legte und sie stützte, zeigte, daß er das jetzt als sein Recht in Anspruch nahm und an keine Trennung mehr dachte. Er hätte dem Manne, der seinem Vater so Schweres angethan, niemals den Vaternamen geben können; das blieb ihm jetzt erspart, auch wenn Alice sein Weib wurde, und ihr Reichthum, der sich auf jenem Betruge aufbaute, war größtenteils zerronnen – jetzt stand nichts mehr trennend zwischen ihnen.

Auch Erna hatte sich, als alles vorüber war, in ihr Zimmer zurückgezogen. Alice bedurfte ihrer jetzt nicht, sie hatte einen besseren und näheren Tröster zur Seite.

Das junge Mädchen saß bleich und überwacht am Fenster und blickte hinaus in den grauenden Morgen, der auch nur Nebel und Wolken brachte. Wie fern ihr der Oheim auch gestanden, wie herb sie oft ihn und seinen Charakter beurtheilt hatte, die letzten schweren Leidensstunden hatten das alles ausgelöscht, es war nur noch der Bruder ihrer Mutter gewesen, den sie sterben sah.

Ihre Gedanken weilten freilich nicht mehr bei dem Todten, sie suchten einen Lebenden, der jetzt vielleicht im Nebelgrauen vor den Trümmern seines vernichteten Werkes stand. Sie wußte, was ihm dies Werk gewesen war, und fühlte den Schlag mit, der ihn getroffen. Erna hätte ihr Leben hingegeben für die Möglichkeit, jetzt an seiner Seite zu sein, ihn trösten und ermuthigen zu dürfen, und statt dessen mußte sie ihn allein lassen in seiner Verzweiflung. Sie beachtete es nicht, daß Greif sich zu ihr geschlichen hatte und bittend und schmeichelnd den Kopf in ihren Schoß legte, sondern starrte regungslos hinaus in das Nebelwogen.

Da wurde die Thür geöffnet. Waltenberg trat ein und näherte sich langsam seiner Braut, die, in ihre Träumereien versunken, ihn erst gewahrte, als er vor ihr stand und ihren Namen nannte.

(Fortsetzung folgt.)




Blätter und Blüthen.

Eine Biographie Theodor Storms, ein Bild seines Lebens und Schaffens, ist jüngst von Feodor Wehl herausgegeben worden (Altona, Verlag von A. C. Reher). Nicht bloß das Bild des Dichters, auch das des Mannes, des Patrioten, tritt uns in dieser feinsinnigen Schilderung lebendig entgegen. Theodor Storm war ein echter schleswig-holsteinischer und deutscher Patriot – und das sollte dem vorzüglichen Dichter so stimmungsvoller Lebens- und Naturbilder, welche ein so begeistertes Publikum gefunden, nicht vergessen werden.

Selten war ein Dichter so ausschließlich von einem Heimathsgefühl beherrscht, das seiner Dichtung den beseelenden Odem gab. „Schleswig-Holstein,“ sagt Wehl, „suchte er beständig mit der Seele und sie lebte und webte, getrennt von ihm, doch nur in ihm mit allem Denken und Schaffen. Alle seine Geschichten spielen auf seinem Boden. Die Landschaften, die Städte, die Menschen, die darin geschildert werden, gehören alle nach Schleswig-Holstein; Schleswig-Holstein ist das Ein und Alles seiner Muse. Sie ist so schleswig-holsteinisch wie er selbst oder fast noch mehr. Er selbst konnte Schleswig-Holstein verlassen, seine Muse nicht. Sie hing an seiner Scholle und man ist entschieden nicht im Unrecht, wenn man behauptet, sie sei es besonders gewesen, die ihr poetisch die Zunge selbst und sie zum Sprechen gebracht hatte.“ War ja doch auch im Leben Theodor Storm ein echter Patriot; zwar hat er in den Tagen, als die Wogen der schleswig-holsteinischen Bewegung zuerst hochgingen, weder die Waffen noch das große Wort in den Versammlungen geführt, aber aus seiner deutschen Gesinnung nie ein Hehl gemacht. Seiner Freude, seinem Schmerz über die wechselnden Geschicke seines Vaterlandes gab er in markigen und kernhaften Gedichten Ausdruck. Nach der anfänglichen Niederlage der schleswig-holsteinschen Waffen sang er ergreifende Lieder der Klage, welche an Platens Polenlieder erinnern. Der Schluß des einen lautet:

„Und schauen auch vom Thurm und Thore
Der Feinde Wappen jetzt herab,
und rissen sie die Trikolore
Mit wüster Faust von Kreuz und Grab;
Und müssen wir nach diesen Tagen
Von Herd und Heimath bettelnd gehen:
Wir wollen’s nicht zu laut beklagen,
Mag was da muß mit uns geschehn.“

In einem andern Gedicht widmet er den gebliebenen Helden die schwunghaften Strophen:

„und sollte dieser heiße Lebensstreit
Verloren gehn wie euer Blut im Sande
und nur im Reiche der Vergangenheit
Der Name leben dieser schönen Lande:
In eurem Grabe, wenn das Schwert zerbricht,
Liegt deutsche Ehre fleckenlos gebettet;
Beschützen konntet ihr die Heimath nicht,
Doch habt ihr sterbend sie vor Schmach errettet.“

Das anheimelnde Lebensbild von Wehl, welches dem Dichter, dem Manne, dem Patrioten gleichmäßig gerecht wird, sei allen Freunden des Schleswig-Holsteinschen Poeten aufs wärmste empfohlen.

†     

Der Arzt. (Mit Illustration S. 813.) Eine ernste, eine sehr bedenkliche Miene hat der Herr Doktor heute gemacht! Ach – und wie aufmerksam hatten sie seinen Gesichtsausdruck beobachtet, sehnsüchtig daraus eine Belebung ihrer sinkenden Hoffnung erwartend! Aber nur härtestes Mißgeschick, unabwendliches Unheil steht dort zu lesen. Ja, eine tückische Krankheit ist’s, die das Haupt der Familie, den sorgsamen Ernährer, ergriffen, aber doch war bis heute noch die trostreiche Aussicht vorhanden, daß seine kräftige Natur die schwere Krisis überstehen, daß er zu neuem Leben genesen werde. Heute mußte die Wendung eintreten. Von schmerzlicher Ahnung aufs tiefste niedergeschlagen, folgen Mutter und Gattin dem Arzte, um aus seinem Munde Gewißheit zu erhalten. Die letztere wird schon an der Thür von ihrem Kummer überwältigt und lehnt sich, krampfhaft schluchzend, an den Thürpfosten, da sie kaum sich aufrecht zu erhalten vermag. Auch das kleine Töchterchen, das so früh eine arme Waise werden soll, scheint schon den schmerzlichen Verlust ahnend zu empfinden, der ihm bevorsteht. Nur die Greisin, welche schon so vieles Harte im Leben hat ertragen müssen, ist dem ärztlichen Rathgeber bis zur Straße gefolgt, und wenn auch mit bitterem Schmerze, so doch mit Fassung und Ergebung in das Unvermeidliche erfährt sie nun, daß sie auf das Schlimmste vorbereitet sein müssen, daß keine Hoffnung mehr vorhanden. Mit stiller Resignation horcht sie auf den tröstenden Zuspruch des biederen Arztes, der in der täglichen Erfüllung seines harten Amtes noch nicht das edle Mitgefühl eingebüßt hat, der nicht einseitig nur für die Krankheiten des Körpers ein offenes Auge, nein , der auch für die Schmerzen der Seele ein offenes Herz hat.

Hans Bachmann, der unsern Lesern schon durch sein vortreffliches Bild „Weihnachtssingen“ (siehe „Gartenlaube“ 1887, S. 824 und 825[WS 1]) bekannt

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: S. 808 und 809
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 823. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_823.jpg&oldid=- (Version vom 7.4.2024)