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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)

Sauerstoff und Stickstoff nur etwas über den vierten Theil dieser Zahl, für Quecksilbergas nur den zehnten Theil derselben beträgt.

Da ferner die Spannkraft eines eingeschlossenen Gases mit der Temperatur zunimmt, so müssen, da hierbei doch keine Vermehrung der Molekeln stattfindet, die Geschwindigkeiten derselben entsprechend zunehmen, und in der That sieht die neuere Physik diese beinahe nie ruhenden Molecularbewegungen geradezu als das Wesen der Wärme an, und man hat daher auch einen Zustand berechnet, in welchem alle diese Bewegungen aufgehört haben und die kleinsten Theile der Stoffe zur Ruhe gekommen sind; es ist dies der sogenannte „absolute Nullpunkt“, welcher 273 Centesimalgrade unter dem Gefrierpunkte des Wassers liegt.

Diese Betrachtungen über die Bewegung der Gasmolekeln gewinnen nun eine noch weit größere Wichtigkeit, wenn wir das Verhältniß derselben zu einander in’s Auge fassen: die sogenannte Diffusion oder gegenseitige Durchdringung der Gase. Da die Gasmolekeln in gerader Richtung mit der ihnen eigenen Geschwindigkeit aus einander gehen, so werden sich unter gleichen Verhältnissen natürlich die leichtesten und geschwindesten Molekeln, z. B. die des Wasserstoffgases, am schnellsten ausbreiten. Natürlich könnte das nur in einem vollständig leeren Raume mit der berechneten und oben angegebenen Geschwindigkeit vor sich gehen, denn im gaserfüllten Raume, wie er auf der Erde beinahe überall vorhanden ist, hindern die Molekeln sich fortwährend gegenseitig im geradlinigen Fortfliegen, indem sie auf einander prallen und sich zurückwerfen, sodaß ihr Weg stets nur ein zickzackförmiger sein kann. Die für den Naturhaushalt so wichtige Geschwindigkeit der Ausbreitung eines Gases in dem andern (z. B. der frischen Luft in der verdorbenen, der warmen in der kalten, der tödlichen Gase in geschlossenen Räumen etc.) wird sich also wesentlich nach dem mittleren Weg richten, den die Molekeln, ohne auf einander zu stoßen, zurücklegen können. Es ist dies die von Clausius so genannte freie Weglänge, die sich ebenfalls für jedes Gas als eine unter bestimmten Verhältnissen sich gleichbleibende Zahl berechnen läßt. Diese mittlere freie Weglänge ist unter den gewöhnlichen Druckverhältnissen außerordentlich klein, wegen der ungeheuren Zahl von Molekeln, die jeden Winkel erfüllen, und wie der Mensch in einem ungeheuren Gedränge, so kann auch das einzelne Molekel im Verhältniß zu der ihm innewohnenden Geschwindigkeit nur äußerst langsam vorwärts kommen.

Allein die Physik hat uns mit Mitteln versehen, den Molekeln freiere Bahn zu schaffen. Wir können mit der Luftpumpe die Molekelzahl in einem Glasgefäße sehr vermindern, obwohl von der Erreichung eines wirklichen „Vacuums“ dabei keine Rede sein kann. Durch chemische Mittel, indem man nämlich einen mit Wasserdampf oder Kohlensäure gefüllten Raum erst auspumpt und dann einen weiteren Theil dieser Stoffe durch Chemikalien auffangen läßt, kann man diese Verdünnung noch viel weiter treiben, und so hat z. B. der englische Chemiker Crookes die hohe Verdünnungsziffer von 1/20000000 erreicht. In einer Glaskugel von 13,5 Centimeter Durchmesser, die vorher ungefähr eine Quadrillion Molekeln enthalten haben mag, wären bei einer Verdünnung auf ein Millionstel immer noch eine Trillion Molekeln, also eine sehr beträchtliche Zahl vorhanden, immerhin muß dadurch die „mittlere freie Weglänge“ so vergrößert werden, daß sie, sichtbar gemacht, ohne Vergrößerungsgläser erkennbar ist; die Molekeln befinden sich also in einer merklichen Annäherung an jenen freien Zustand, den man als den strahlenden bezeichnet hat, weil sich in ihm jedes Molekel geradlinig mit der ihm eigenen großen Geschwindigkeit ungehindert fortbewegen würde.

Die Molekeln selbst sind so klein, daß wir niemals hoffen können, sie zu sehen, aber ihr Verhalten in dem stark verdünnten Raume ist so verschieden von alledem, was wir in unseren lufterfüllten Experimentirzimmern sehen, daß wir, ihre Wirkungen beobachtend, in eine neue Welt zu blicken glauben und ihnen gegenüber nicht ohne Grund von einem vierten Zustande der Materie sprechen. Die sehr stark vergrößerte Weglänge der Molekel erzeugt in stark luftverdünnten Kugeln, Cylindern und Röhren sichtbare Wirkungen. Wir sind nämlich durch verschiedene Mittel im Stande, in solchen Gefäßen Molekelströme zu erzeugen, die dann sehr merkwürdige mechanische, thermische und optische Erscheinungen hervorbringen, welche wohl größtentheils davon abhängen, daß die Molekeln mit einer sonst nicht vorkommenden Heftigkeit gegen die Wandungen der Gefäße und gegen einander anprallen. Solche Mittel, Molekelströmungen von außen her in luftverdünnten Behältern anzuregen, bieten namentlich die Wärmestrahlung und elektrische Entladungen von größerer Intensität. Jeder meiner Leser kennt wahrscheinlich die von William Crookes erfundene sogenannte Lichtmühle, von welcher die „Gartenlaube“, Jahrgang 1876, Nr. 13 (Blätter und Blüthen) eine ausführlichere Beschreibung gebracht hat. Die strahlende Wärme des Sonnenlichtes oder andere Wärmequellen setzen hierbei vermöge der von ihnen erzeugten Molekelströme, je nach ihrer Stärke, ein kleines Schaufelrad in langsamere oder schnellere Bewegung, sodaß durch die Schnelligkeit der Bewegung die Stärke der Strahlung gemessen wird, weshalb man den Apparat auch Radiometer oder Strahlungsmesser nennt.

Wenn man an einem solchen stark luftverdünnten Glascylinder zwei Metallpole angebracht hat, durch die man die Entladungen eines Inductionsapparates in demselben hindurchleiten kann, so erzeugt man einen ähnlichen vom negativen zum positiven Pole gehenden Molekelstrom, der ein kleines Schaufelrad, welches in der Mitte des Behälters angebracht ist, treibt. Crookes hat bei diesem Versuche die hübsche Veränderung angebracht, daß er in der Richtung des Stromes ein Scheibchen gestellt hat, welches wie die Schütze einer Wassermühle den Molekelstrom abhält, die Schaufeln des Rades zu treffen. Nun haben aber schon früher deutsche Physiker gezeigt, daß man durch einen starken, dem Cylinder genäherten Elektromagneten den geradlinigen Strom der Molekeln ablenken und zu sich herüberziehen kann, sodaß er einen dem Magneten zugekehrten Bogen macht und dadurch oberhalb oder unterhalb des Mühlenwehrs dennoch auf das Rad geleitet werden kann, welches dabei bald wie ein ober- und bald wie ein unterschlächtiges Wasserrad in Bewegung gesetzt wird.

In seinem kürzlich erschienenen Vortrage: „Strahlende Materie oder der vierte Aggregatzustand“ (Leipzig, 1979) hat William Crookes noch eine fernere Anzahl sehr hübscher Experimente beschrieben und durch Abbildungen verdeutlicht, welche aber nicht wie die soeben beschriebenen auf Erfahrungen beruhen, die von ihm zuerst gemacht worden sind, sondern vielmehr schon viel früher durch Experimente der deutschen Naturforscher Kundt, Hittorf, Eugen Goldstein, Reitlinger, Kuhn und Anderer bekannt waren. Sie betreffen namentlich die optischen, thermischen und magnetischen Erscheinungen, welche die elektrischen Entladungen in diesen luftverdünnten Röhren hervorbringen. Wir können hier nur die merkwürdigsten derselben kurz erwähnen.

Zunächst wurde festgestellt, daß alle diese Erscheinungen sehr von dem Grade der Verdünnung abhängen. Indem man in solche evacuirte Behälter Stoffe bringt, die durch Erhitzung Gas entwickeln, welches sie beim Erkalten wieder aufsaugen, kann man alle Grade von Verdünnung in demselben Apparate hervorbringen. Im Dunkeln sieht man nun, wie sich um den als „Kathode“ bezeichneten negativen Pol eine dunkle Zone bildet, die sich mit zunehmender Verdünnung verbreitert, während der übrige Theil des Rohres in hellem elektrischem Lichte erstrahlt. Verschiedene Physiker nehmen an, daß die Ausdehnung dieses dunklen Streifens die bei der betreffenden Verdünnung statthabende freie Weglänge bezeichnet, sofern an ihrer Grenze die fortströmenden Molekeln in größerer Menge mit den zurückkehrenden zusammentreffen. Das theoretisch Vorausgesetzte wird hier mit leiblichen Augen gesehen und auf ähnliche Weise erklärt man sich auch die eigenthümliche Schichtung des elektrischen Lichtes in solchen Röhren, die namentlich in der Nähe des positiven Poles statt hat.

Dieses Strömen der Molekeln ist nun von einer sehr starken Phosphorescenzerregung begleitet, die sich an den Innenwänden des Glases markirt. Wie es scheint, erregt das Bombardement der in gerader Linie von dem negativen Pole ausstrahlenden Molekeln auf der gegenüberliegenden Glaswand durch sein heftiges Aufprallen, wahrscheinlich auch durch die zugleich entwickelten chemischen Strahlen („Gartenlaube“ 1880, Seite 11), ein starkes Phosphoresciren, und zwar phosphorescirt Uranglas schön laubgrün, weiches deutsches Glas in einem hellen Apfelgrün, hartes englisches Glas blau.

Durch dieses Phosphorescenzlicht bildet sich der negative Pol auf der ihm gegenüberstehenden Glaswand nach seiner Gestalt leuchtend ab, gleichviel an welcher Stelle der positive Pol

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 225. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_225.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)