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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


oder die Ohren zugehalten. Der Carcer schaute in den vier Jahren traurig d’rein. Doch einmal öffnete er sein Thor, aber man höre, wegen welches Vergehens! Der Verwandte eines Zöglings kommt auf Besuch und erhält die Erlaubniß, ihn mit in das Wirthshaus zu nehmen. Ungewohnt der geistigen Getränke, kommt der Arme Abends etwas liebenswürdig angeheitert zurück und spricht etwas lebhafter und bewegter als sonst, und der Lehrerconvent dictirt einen halben Tag Carcer, vermuthlich weniger wegen des Vergehens, als zur Abschreckung. Das war aber auch der einzige Fall, der vorgekommen ist. Bei dem starken Freiheitsgefühle, das durch meine Adern rollte, wundere ich mich, daß ich nie an den Schranken gerüttelt, ja, daß ich mich, vielleicht einzelne Stimmungen abgerechnet, von ihnen nicht einmal beengt gefühlt habe. So sehr ich mich in jedem halben Jahre nach den Ferien gesehnt und Monat, Tag und Stunde vorausgerechnet hatte, so gern kehrte ich jedes Mal in die Anstalt zurück, wenn sie ausgelaufen waren, und es war immer ein Jubel, mit den alten Genossen wieder zusammenzutreffen und die gemeinsame Fahrt nach der „speciosa vallis“ zu machen.

Nicht daß ich ein Musterschüler, ein Normalzögling mit geradliniger Entwickelung gewesen wäre! Anfangs wandelte ich noch auf dem in der Lateinschule betretenen Wege fort, im Trab des braven fleißigen Schülers, auf welchem das Wohlgefallen des Lehrers ruht, und nach Ablauf der ersten zwei Monate ertheilte mir der Ephorus – ein strenger Mathematiker, karg im Reden und Loben – in einem Briefe an den Vater, der heute vor mir liegt, das Lob des „zarten, guten, lieben, fleißigen Jungen“. Aber es sollte anders werden, und ich betrachte es als ein Glück, daß es anders kam. Ich wurde krank. Einem grippartigen Unwohlsein, das mit mir einen ziemlichen Theil der Zöglinge befiel, trotzte ich mit jenem jugendlichen Uebermuthe, der früher einmal ein heftiges Zahnweh durch stundenlanges Stampfen im kniehohen Schnee glücklich vertrieben hatte, so lange, bis ich nachgeben und das Bett suchen mußte; nach zwei Tagen zeigte sich die Gesichtsrose und wüthete mit solcher Heftigkeit, daß ich dem Tode nahe war. Kaum erstanden und für einen Monat der Arbeit zurückgegeben, zog ich mir dieselbe Krankheit, wenn auch milder, zum zweiten und bald darauf zum dritten Male zu, so daß ich im Ganzen wohl über zwei Monate im Krankenzimmer zubrachte. Das hatte mich aus allem Zusammenhange der Studien gerissen; ich hatte in allen Fächern Lücken und in einigen, wie in der Mathematik, wo kein Ring übersprungen werden darf, wenn nicht alle folgenden unverständlich bleiben sollen, waren sie ohne Privatunterricht, an den Niemand dachte, nie mehr auszufüllen. In Allem zurückgeblieben wurde ich schlaff und gleichgültig; ich unterließ die gehörige Vorbereitung; ich verlor die Lust an den Dingen; ich betrieb Alles nachlässig und ohne Interesse. Was ich arbeitete, geschah aus dem Kitzel des Ehrgeizes, den verlorenen Platz wieder zu erobern, aus dem Stolze des Wissens, der die Demüthigung nicht ertragen konnte, aus Scham vor den Eltern und Geschwistern, denen die niedrigen Zeugnisse vorgelegt werden mußten, mit einem Worte: aus knechtischem Gehorsam. Darum ging die Arbeit nicht vorwärts; es kam ihr von innen heraus Nichts entgegen; es war keine Liebe darin, darum keine Freude dabei. Ich glich jenen Kindern, die immer essen – aber es schlägt nicht an. Alles wurde mir schwer, und es wollte Nichts gelingen. Oft nahm ich in den Freistunden die Collegienhefte mit in den Wald hinaus und las und prägte ein, aber der Stoff wollte nicht haften. Oft betete ich unter Zittern und Zagen zu Gott, daß er meine Anstrengungen mit Erfolg kröne, oft rannte ich vor Zorn über mich selbst mit der Stirn gegen die Wand, aber der Sinn war dumpf und das Herz war leer. Anderthalb Jahre dauerte diese unerquickliche Selbstquälerei.

Aber Gottes Wege mit dem Menschenherzen sind wunderbar. Unter all’ den vergeblichen Anstrengungen, todte Stoffe in sich aufzunehmen, unter all’ den Versuchen eines bloß äußerlichen Anlernens bereitete sich in dem unbefriedigten Geiste eine eigene verborgene Welt des Gemüthes vor, die neben den vorgeschriebenen Studien herlief, an ihnen vorbeiging, sie eine Zeitlang schädigte, um sie nachher um so rascher zu fördern. Das Seminar besaß keine Bibliothek, wenigstens keine, die uns zugänglich war. Außer den Schulausgaben der Classiker, die je in einem Semester getrieben wurden, bekamen wir keine Bücher in die Hand. Aber einige meiner Stubengenossen hatten Stücke aus der neuen Literatur in ihrem Schranke. Der Eine hatte den ganzen Shakespeare in der Tieck-Schlegelschen Uebersetzung, ein Anderer Goethe’s Götz von Berlichingen, Egmont, Hermann und Dorothea, ein Dritter Lessing’s Hamburger Dramaturgie, ein Vierter Uhland’s Gedichte und Wilhelm Hauff’s Novellen wieder Andere das Nibelungenlied oder die Frithjofssage von Tegnér, ja Einer hatte aus den Ferien Herwegh’s eben erschienene Gedichte in Abschrift mitgebracht. Da las ich und las wieder und wieder im Walde und im Zimmer, verarbeitete die Anregungen im Geiste, bewegte die Gefühle im Herzen, hatte die Gestalten immer vor Augen. Das stürmte und drängte im Herzen; das war ein Frühling der Romantik zuerst in leisem, unhörbarem Wehen, dann im vollen Blüthenmeere. Es war in seiner Art auch eine Bekehrung ähnlich Derjenigen, welche uns die „Frommen“ beschreiben, wenn es zum Durchbruch kommt.

In der Frühe eines Sommersonntags, als ich am Fenster stand und den weißen Wolken am blauen Himmel mit sehnendem Auge folgte und die Blicke über den Garten zu den grünen Hügeln schweifen ließ, kam es wie Sturmeswehen über das zagende Herz. O könnt’ ich hinaus, über Berg und Thal zu schweifen, die verborgenen Bergpfade zu wandeln, am Wiesenrande den Wellen des Stromes zu lauschen, den Geruch der Natur mit vollen Zügen zu athmen! Die Glocke läutete zur Kirche; ich folgte träumend und unaufmerksam der Pflicht, aber als das Dormentthor sich endlich öffnete, stürzt’ ich hinaus, und ein ganzer Himmel voll Lust und Schmerz drang auf mich. Wunderbare Zeit, wenn der Geist seine Feuertaufe hält und der gebundene Sinn sich löst und das Herz in sinnlich-übersinnlichem Drange Alles in sich aufnehmen möchte, was groß und schön und heilig ist! Auf dem Gemüth liegt eine göttliche Weihe, die alles Rohe und Gemeine weit von sich weist; über den Dingen ruht ein Zauber, wie der blaue Duft über den Bergen; das Leben ist noch wie ein süßes Geheimniß, weil man noch nicht hinter seine Vorhänge geschaut hat.

Man möchte zuerst allein sein mit seinem Drang, aber bald verbindet man sich mit Gleichgesinnten zu schwärmerischer Freundschaft. Wir traten, etwa zwölf an der Zahl, zusammen und stifteten einen Tugendbund; das griechische Motto: „Wir lieben die Wissenschaft und wir lieben das Schöne“ war unser Wahlspruch. Wir lasen im Waldesschatten die Dichter, auch eigene Versuche vor. Wir sonderten uns von den Uebrigen, die dann auch in gerechter Züchtigung unseres aristokratischen Stolzes, wenn sie uns Arm in Arm daher kommen sahen, zu beiden Seiten Spalier bildeten und uns unter Zischen und hämischen Bemerkungen vorüberziehen ließen. Aber noch schlimmer sollte unser Stolz gezüchtigt werden. Um unserem Bunde durch ein äußeres Symbol Festigkeit zu geben, beschlossen wir, stählerne Fingerringe zu tragen, in welche die geheimnißvollen Buchstaben: G. W. S. (das Gute, Wahre und Schöne) eingegraben wären.

Wir wandten uns also nach Heilbronn an einen Graveur, aber der gab uns in einem groben Briefe zu verstehen, daß wir Narren seien und von unserm Vorhaben abstehen sollten. So früh erfuhren wir schon, daß des Staubes Weisheit oft die Begeisterung, die Himmelstochter, lästert.

Der Kenner des Menschenherzens weiß es zum Voraus, daß bei diesem idealen Sturm und Drang des jugendlichen Geistes auch die Liebe ihre verborgene Hand im Spiele hatte, die alte Zauberin, die ihre geheimen Tränke so frühe schon in des Herzens unnennbares Sehnen gießt. Sie war um so idealer und schwärmerischer, als bei der völligen Abgeschiedenheit unseres Lebens die Gegenstände fast gänzlich fehlten, auf welche sie sich hätte richten können. Als einmal nach Tisch das Seminar seinen Inhalt entleerte und die Massen sich nach allen Seiten vertheilten, die Einen in Gruppen, die Andern für sich allein, begegnete ich einer verschleierten Jungfrau, die auf Besuch zu einem der Professoren kam; da waren alle meine Sinne verwirrt und es war, als hätte mich eine Gottheit im Gehen gestreift; alle Frauengestalten der Dichter, Götzen’s Elisabeth, Egmont’s Clärchen, Hermann’s Dorothea, flossen mir in dieses Eine Bild von Fleisch und Blut zusammen. Es war mir etwa zu Muthe, wie jenem Bauernburschen bei Boccaccio, den der Vater geflissentlich bis zum achtzehnten Jahre von jedem Anblick eines weiblichen Wesens ferngehalten hatte; endlich wagte er es, ihn mit auf den Markt

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 387. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_387.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)